[rezens.tfm] https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm <p>e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien</p> tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien de-DE [rezens.tfm] 2072-2869 <p>Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de" target="_blank" rel="noopener">Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0</a>. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.</p> Natalie Alvarez: Theatre and War. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8070 <p>Am 24. Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. Knapp einen Monat später wird bei der Belagerung von Mariupol das Drama-Theater durch einen Luftangriff zerstört, bei dem schutzsuchende Zivilist*innen ums Leben kommen. Kurz darauf setzt das Ensemble des Drama-Theaters seine Arbeit fort. Auf dem Spielplan steht ein Stück über einen ukrainischen Dissidenten, der in den 1980er Jahren in einem russischen Gefangenenlager stirbt.</p> <p>Mit der Beschreibung der lebensbedrohlichen Situation der Theaterkünstler*innen in Mariupol wählt Natalie Álvarez, Professorin für Theatre and Performance Studies an der Metropolitan University in Toronto, zu Beginn ihrer Studie <em>theatre &amp; war</em> ein prägnantes Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Theater und Krieg: das Theatergebäude wird zum Schutzraum und zum Ziel militärischer Angriffe; der Krieg wird zum zentralen Thema der neuen Inszenierung und Theater wiederum zum Mittel des Widerstands und Umgangs mit traumatischen Erlebnissen.</p> <p>Theater <em>über</em> Krieg steht jedoch nicht im Zentrum der Untersuchung. Stattdessen werden die Wechselbeziehungen und Gemeinsamkeiten von Theater und Krieg hinsichtlich performativer Mittel, Probeprozesse, Schauspielmethoden sowie bezüglich des Verhältnisses zwischen Zeigen und Schauen durchleuchtet. Vier Fragen sind dabei leitend:</p> <ol> <li>Wie werden die Mittel des Theaters in der Kriegsführung eingesetzt?</li> <li>Wie werden die Mittel der Kriegsführung in Theaterinszenierungen eingesetzt?</li> <li>Welches sind die gemeinsamen Interessen von Theater und Krieg?</li> <li>Wie ist Performance zu einem militärischen Paradigma geworden?</li> </ol> <p><em>theatre &amp; war</em> ist in der Reihe <em>theater and </em>erschienen, die derzeit 53 Studien umfasst und in knapper Ausführung Theater mit verschiedenen Aspekten des Lebens in Verbindung setzt. Die Studie von Álvarez ist in acht Kapitel gegliedert und umfasst neben zwei einführenden Kapiteln und einer abschließenden Diskussion fünf Hauptkapitel, in denen Synergien von Krieg und Theater anhand zahlreicher Beispiele durchgearbeitet werden. Der von Álvarez implizierte Theaterbegriff scheint dabei breit gefasst zu sein, da sowohl Militärübungen, Performance, Tanz, sowie therapeutische Theatersettings gleichermaßen als Theater begriffen und diskutiert werden. Dies führt beim Lesen jedoch nicht zu Missverständnissen, da die Autorin zwischen ästhetischer Praxis und militärischem Agieren stets nachvollziehbar differenziert. Die Untersuchung basiert auf der Prämisse, dass Theater und Krieg seit jeher tief verbunden sind. Dies begründet Álvarez etymologisch, unter anderem mit der Kategorisierung von Kriegsschauplätzen als Kriegstheater oder mit historischen Inszenierungspraktiken von Krieg, die sich in verschiedensten Kulturräumen finden lassen.</p> <p>Im ersten einleitenden Kapitel führt die Autorin die Leser*innen zunächst ins italienische Sabbioneta des 16. Jahrhunderts und ins dortige Odeon. Aus der Perspektive des Publikums beschreibt Álvarez Szenen einer Kampfhandlung, die mit Fanfaren eingeleitet wird und den Herzog von Sabbioneta als Darsteller inszeniert. Die beschriebenen Szenen dienen der Autorin als Grundlage für ihre Diskussion über die historischen Verbindungen von Theater und Krieg. Das Odeon in Sabbioneta sei gemäß Álvarez ein prägnantes Beispiel für Theaterarchitektur, die speziell für die Inszenierung von Krieg konstruiert wurde, während die Schrecken des Kriegs durch solche Inszenierungen verzerrt dargestellt wurden.</p> <p>Daran anknüpfend diskutiert Álvarez historische Wechselbeziehungen zwischen Theater und Krieg. Als Beispiel nennt sie etwa Aischylos <em>Die Perser</em> oder von Mayas und Azteken aufgeführte Tänze, die auf einen bevorstehenden Kampf vorbereiten sollten. Anschließend folgen Ausführungen zum Aufbau und Inhalt der Studie, jedoch fehlen Angaben zu den methodischen Herangehensweisen. Zwar werden beim Lesen der einzelnen Kapitel die Methoden ersichtlich, allerdings wäre es bei dem spannenden empirischen Vorgehen erfreulich gewesen, Erläuterungen diesbezüglich voranzustellen. So fällt ins Auge, dass Álvarez mit zivilen Darsteller*innen und leitenden Offizier*innen von Militärübungen Interviews geführt hat und auch selbst an solch einer Übung teilgenommen hat, um sich den theatralen Mitteln simulierter Kriegsszenarien mittels ethnographischer Methoden zu nähern. Informationen über Interviewmethoden wären hinsichtlich derzeitiger methodischer Debatten in der Theaterwissenschaft wünschenswert gewesen.</p> <p>Im zweiten Einführungskapitel geht die Autorin der aus der Verbindung von Theater und Krieg hervorgehenden Semantik nach. Hierbei greift Álvarez ebenfalls auf historische Bezüge zurück und veranschaulicht anhand des lateinischen Begriffs <em>teatro belli</em>, der übersetzt "Kriegsschauplatz" bedeutet, oder am Beispiel des von Carl von Clausewitz geprägten Begriffs des Kriegstheaters die etymologische Verbindung beider Elemente. Dabei sind es nach Álvarez vor allem räumliche Aspekte, die beim Kriegstheater entscheidend sind und letztendlich zu einer Inszenierung des Raumes und einer spezifischen Konzeption des Kriegsschauplatzes führen. Hinsichtlich moderner Technologien, die gegenwärtige Konflikte und Kriege prägen – etwa den "Krieg gegen Terror" –, sei es nach Álvarez nicht mehr möglich, einen klaren <em>battlespace</em> abzustecken, da dieser verschiedene Räume umfassen kann.</p> <p>Das Kapitel schließt Álvarez mit der ernüchternden Bestandsaufnahme, dass Krieg mittlerweile ähnlich wie Theater paradigmatisch für die Betrachtung der Welt geworden und ebenso wenig wie Theater auf Bühnen, also auf ein spezifisches Schlachtfeld beschränkt ist.</p> <p>Im ersten Hauptkapitel "Rehearsals" geht die Autorin der Frage nach, wie militärische Trainings auf Mittel der Improvisation, des Rollenspiels und der Inszenierung zurückgreifen, um Soldat*innen auf einen Krieg vorzubereiten. Dafür beschreibt sie eine simulierte Kampfszene, an deren Ende ein Darsteller in der Rolle eines islamistischen Selbstmordattentäters eine Bombe zündet. Álvarez zufolge wird die Militärübung des CMTS (U.S. Committee on the Marine Transportation System) nach dieser Szene beendet und der leitende Offizier zeigt sich zufrieden über die lebensrettenden Erfahrungen, die die Soldat*innen mit dem unerwarteten Ausgang des Trainings gemacht haben. Im Gespräch mit einer Darstellerin afghanischer Herkunft, die die Rolle einer afghanischen Zivilistin übernimmt, beschreibt Álvarez wiederum die re-traumatisierende Erfahrung solcher Militärübungen. Diese Gegenüberstellung führt die Autorin jedoch nicht weiter aus. Auch fehlt es an Informationen bezüglich der geführten Interviews: Welche Interviewmethode wurde gewählt? Welche Forschungsfragen waren leitend? Mit wem wurden Interviews durchgeführt? Wie wurden sie ausgewertet und analysiert?</p> <p>Álvarez springt indes gleich zur Künstler*innengruppe WOW und ihrer Produktion <em>Surrender</em> (2008), um zu erläutern, wie mit den Mitteln des Militärs im Theater Krieg inszeniert wird. In <em>Surrender</em> wird das Publikum aufgefordert, in einem simulierten Kriegsgebiet nach irakischen Zivilist*innen zu suchen, womit dem Publikum laut Álvarez ermöglicht wird, dem Realen mit den Mitteln des Theaters zu begegnen.</p> <p>In "Body as a battlefield" untersucht Álvarez Verbindungen zwischen Schauspieltraining und Militärübung und fragt nach der Militarisierung von Körpern sowie deren Einfluss auf die Produktion von Waffen. Am Beispiel der Performance <em>domestic tension </em>(2009) von Wafaa Bilal diskutiert sie, wie sich Performances über Krieg moderner Kriegstechnologien bedienen, um den Prozess der Militarisierung menschlichen Tuns zu entlarven. In <em>domestic tension </em>verweilt Bilal einen Monat in einem Ausstellungsraum, in dem ferngesteuerte Paintball Waffen auf ihn gerichtet und abgeschossen werden können. Der Künstler nutzt hierfür Technologien, wie sie im Krieg für das Steuern von Drohnen eingesetzt werden und zeigt auf drastische Weise, wie der Prozess der Dehumanisierung durch einen einzigen Mausklick erfolgen kann.</p> <p>In "Spectacle &amp; spectatorship" fragt Álvarez, wie Krieg als Spektakel wahrgenommen wird und wie diese Erfahrung die Wahrnehmung von Krieg beeinflusst. Sie führt an, dass es historisch gesehen durchaus üblich gewesen sei, Kriegen aus sicherer Distanz zuzuschauen, aber auch Kriege in großformatigen Reenactments nachzustellen, woran sich etwa Louis XIV beteiligt haben soll. Das Zuschauen bei Krieg – ob inszeniert oder real – galt demnach europaweit als beliebte Freizeitaktivität der Aristokratie. Hinsichtlich der Medialisierung von Krieg seit dem 20. Jahrhundert sowie der zunehmenden Inszenierung des Militärs wird in den historischen Beispielen eine interessante Kontinuität der Darstellungspraktiken von Krieg mit Mitteln des Theaters aufgezeigt.</p> <p>In "Hearts &amp; minds" befasst sich Álvarez mit der Frage, wie Theater und Krieg Empathie einsetzen und wie eine Militarisierung der Empathie dazu einlädt, die Effekte des Einfühlens im Theater zu überdenken. Dafür zieht sie ihre Erfahrungen als Darstellerin einer afghanischen Zivilistin bei einer Militärübung heran. Sie beschreibt eindringlich, wie – basierend auf der Maxime <em>know your enemy</em> – kulturelle Identität performativ erzeugt wird. Denn die Konstruktion des kulturell "Anderen" durch Empathie sei für das Militär unerlässlich (S. 54). Im Training für die US-Special-Force stehe demnach Empathie als militärische Strategie im Vordergrund, um sich in den Feind einzufühlen, was laut Álvarez eine Militarisierung von Empathie zur Folge hat. Die Technik des Einfühlens in vermeintliche Feinde vergleicht sie folgerichtig mit der Schauspieltechnik Stanislawiskis.</p> <p>Im finalen Kapitel "Postmortem" hebt Álvarez Theater als Mittel der Versöhnung, der Traumabewältigung und als "postwar act of cleaning" (S. 66) hervor. Hierzu diskutiert sie Arbeiten der peruanischen Gruppe Yuyachkani, die in ihren Aufführungen an Opfer der bewaffneten Konflikte in Peru von 1980 bis 2000 erinnert und eng mit der dortigen Wahrheitskommission zusammengearbeitet hat. Yuyachkani stellt die Autorin das Projekt "Theatre of War" von Bryan Doerries entgegen. In Zusammenarbeit mit dem US-Verteidigungsministerium, der Harvard Medical School und den NYC Veterans wurden aufbauend auf griechische Tragödien Strategien erarbeitet, um Veteran*innen einen besseren Umgang mit ihrer Posttraumatische Belastungsstörung zu ermöglichen. Wie Theater wiederum Techniken des Militärs adaptiert, zeigt die Autorin anhand des Theaterbeispiels <em>you are dead. you are here</em> (2013). Darin wird mittels einer Therapieform, die beim Militär eingesetzt wird, das Thema der Posttraumatischen Belastungsstörung von Veteran*innen bearbeitet. Die Autorin zieht ausgehend von diesem Beispiel ihre kritische Bilanz: nämlich die, dass Theater eng mit Krieg verbunden und demnach moralisch nicht überlegen sein könne beziehungsweise sich davon moralisch schwerlich lösen könne. Álvarez argumentiert abschließend, dass Theater und Krieg nicht voneinander zu trennen sind und dass diese Umstände die Annahme zunichtemachen, Theater könne nur als Mittel des Protests gegen Krieg herangezogen werden.</p> <p>Trotz der verkürzten Darlegung und stellenweise zu knappen Kontextualisierung der Beispiele, ist der Erkenntnisgewinn dieses Büchleins groß und allen zu empfehlen, die an der Verwobenheit von Theater und Krieg, ihrer Diskurse und wechselseitigen Indienstnahmen interessiert sind.</p> Darija Davidovic Copyright (c) 2023 Darija Davidovic http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-01 Max Czollek: Desintegriert Euch! \\\\ ders.: Gegenwartsbewältigung. \\\\ ders.: Versöhnungstheater. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8067 <p><em>What does it mean to take seriously […]</em> <em>the thought that cultural politics and questions of culture, of discourse, and of metaphor are absolutely deadly political questions?</em> (Hall [1998] 2021, S. 330)</p> <p>Die Frage, die Stuart Hall 1998 aufwarf, erhält gegenwärtig in Max Czolleks Essay-Trilogie eine Antwort. Hall fragte danach, was es bedeute, den politischen Gehalt von Kultur, Diskurs und Metapher ernst zu nehmen; und Czollek antwortet mit einer dreiteiligen Ideologie- und Repräsentationskritik, die die Kultur- und Gedenkpolitik Deutschlands, ihre Diskurse, Symbole und Begriffe befragt, sie also – mit Hall – "ernst nimmt" und ihre politische Brisanz für die Gegenwart herausstreicht. Über fünf Jahre hinweg publizierte Czollek seine Kritik in drei Teilen, die hier gesammelt diskutiert wird, da sie – erstens – eng aufeinander bezogen und – zweitens – theater- wie medienwissenschaftlichen Konzepten verpflichtet ist.</p> <p>Den Startpunkt von Czolleks Beschäftigung mit der deutschen Gegenwart, ihrer Erinnerungs- und Repräsentationspolitik setzte 2016 der sogenannte Desintegrationskongress, den Czollek mit verantwortete und dessen Anliegen er zwei Jahre später in seinem ersten Essay <em>Desintegriert Euch!</em> (2018) veröffentlichte. Mit <em>Desintegriert Euch!</em> wendet sich Czollek als "Lyriker, Berliner und Jude", als "Politikwissenschaftler, Schriftsteller und Intellektueller" an eine deutsche Öffentlichkeit. (<em>Desintegriert Euch!</em>, S. 11 und 16) Er problematisiert die einseitige Forderung nach Integration, die Normalisierung eines positiv besetzten deutschen Nationalismus nach dem Holocaust und speziell die Funktion, die der jüdischen Bevölkerung bei dieser Normalisierung zukommt. Die Erinnerungs- und Gedenkkultur an den Holocaust ziele spätestens seit den 1980ern auf die "Neuerfindung eines positiven deutschen Selbstverständnisses" (<em>Gegenwartsbewältigun</em>g, S. 16), das auf der symbolischen Aussöhnung mit der Vergangenheit beruhe, dabei aber weder an Reparationen oder rechtlichen Konsequenzen, noch an den vielfältigen, lebendigen jüdischen Positionen in Deutschland interessiert sei: "diese Gesellschaft erhebt seit der Wiedervereinigung zunehmend einen Anspruch auf Normalisierung. Alles wieder gut?", fragt Czollek rhetorisch, um festzuhalten: "Es gibt wenig in diesem Land, das ich für normal halte". (<em>Desintegriert Euch!</em>, S. 7)</p> <p>Diese distanzierende Haltung, der verfremdende Blick auf die Behauptung "deutscher Normalität" nach dem Holocaust prägt in der Folge Czolleks Analyse. In kritischer Distanznahme widmet er sich den historisch gewachsenen Praktiken und Diskursen deutscher Zeitgeschichte und Gegenwart, allen voran dem "Gedächtnistheater", das Czollek für <em>Desintegriert Euch!</em> eingehend in Anspruch nimmt. Das Konzept des Gedächtnistheaters entlehnt Czollek beim Soziologen Y. Michal Bodemann, der damit in den 1990er Jahren eine allzu eingeübte Erinnerungskultur an die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs beschrieb. Bodemann analysierte die Gedenkfeiern im November 1988, indem er sie als Theaterinszenierung mit Bühne, Publikum und Schauspieler*innen wahrnahm; wobei der jüdischen Bevölkerung die Rolle des "still leidende[n] Opfer[s]" (Bodemann 1996, S. 115) zukomme, während sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft als gesühnt inszeniere.</p> <p>Czollek greift das Konzept auf und spitzt es für die 2010er Jahre zu. Noch immer seien Jüdinnen und Juden "Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters" (<em>Desintegriert Euch!</em>, S. 8). Ihre Rolle folge einem Skript, an dessen Ende die "Wiedergutwerdung der Deutschen" (Eike Geisel) stehe. Jüdinnen und Juden komme dabei nur eine "symbolische Bedeutung als Vertreter*innen der Vernichteten" (<em>Desintegriert Euch!</em>, S. 23) zu. Hinter dieser normativen Rollenerwartung verschwinden aber, so Czollek, Personen und ihre vielfältigen Anliegen. Die Inszenierung der Mehrheitsgesellschaft verhindere eine "differenzierte Sichtbarkeit" jüdischer Minderheiten, denen Czollek in Umkehr des Integrations-Normativs zuruft: Desintegriert Euch!</p> <p><em>Desintegriert Euch!</em> wurde zu einem Bestseller und ist mittlerweile auch als englische Übersetzung erhältlich. 2020 folgte der Titel <em>Gegenwartsbewältigung</em>, der die Forderung nach Desintegration weiterträgt und die Kritik an einer "deutschen Leitkultur" verdichtet. Dabei richtet Czollek seinen Blick auf die Phantasmagorie des "christlich-jüdischen Abendlandes" und auf das Konstrukt einer homogenen "deutschen Gesellschaft", einem "Wir", dem in Aussagen von Politiker*innen notwendigerweise "die Anderen" gegenüberstehen müssen. Der nun erschienene dritte Essay <em>Versöhnungstheater </em>widmet sich wiederum der Erinnerungs- und Kulturpolitik Deutschlands und konkret dem zunehmend artikulierten Wunsch nach "Versöhnung" mit der nationalsozialistischen Geschichte. Die Versöhnung kennzeichne sich in diesem Fall aber dadurch, dass ihr das Gegenüber fehle, "etwa, weil man es ermordet hat oder weil es Forderungen nach echter Aufarbeitung und Entschädigung stellt" (<em>Versöhnungstheater</em>, S. 22). Darum inszeniere man Versöhnung mit einem fiktionalen Gegenüber und anhand von symbolischen Gesten – also ein "Versöhnungstheater", das "Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung" (<em>Versöhnungstheater</em>, S. 14) vorantreibe.</p> <p>Wie bereits in den zwei vorangegangenen Schriften trägt Czollek seine Kritik popkulturell versiert und streitbar vor. Seinen Thesen stellt er Beispiele an die Seite, die sein Unbehagen mit den Diskursen, Handlungen und Symboliken einer deutschen Mehrheitsgesellschaft in einprägsame Vergleiche und lebensweltliche Kontexte übersetzen. So pointiert Czollek die Dynamik einseitigen Versöhnungsgebarens – etwa den Dank, den Frank Walter Steinmeier 2020 in Yad Vashem für die "ausgestreckte Hand der Überlebenden" geäußert hatte – mit dem Verleih einer Bohrmaschine: "Stellen Sie sich vor, ich wäre Ihr Nachbar. Ich klopfe an der Tür und frage, ob Sie mir eine Bohrmaschine leihen können. Sie verschwinden kurz im Hobbywerkraum, kommen mit dem Gerät zurück, und ich rufe: Tausend Dank für das schöne Geschenk! Fänden Sie das lustig?" (<em>Versöhnungstheater</em>, S. 17). Damit wird auch deutlich, worauf Czolleks Kritik des "Versöhnungstheaters" zielt: auf die "Entkoppelung symbolischer Handlungen und politischer Realität"; auf einseitige Versöhnungsbehauptungen, "ohne dass der anderen Seite überhaupt noch die Zeit bleibt, ihre Perspektive zu äußern." (<em>Versöhnungstheater</em>, S. 25 und 30).</p> <p>Mit dem Kniefall Willy Brandts 1970 im Warschauer Ghetto habe, so beobachtet Czollek, die deutsche Gesellschaft ein neues Verhältnis zur eigenen gewaltvollen Vergangenheit eingenommen. Statt Verantwortung zu übernehmen – die Strafverfolgung zu intensivieren oder politische Konsequenzen für Täter*innen zu ziehen – sei die Symbolebene in Form von Gedenkstunden, Denkmälern und Reden fokussiert worden. Als "Ersatzhandlungen" hätten sie es erlaubt, die deutsche Identität post 1945 zu entlasten, ohne den Preis dafür zu zahlen (<em>Versöhnungstheater</em>, S. 44). Parallel klaffe auch die offizielle Repräsentation von Jüdinnen und Juden mit der jüdischen Lebendigkeit innerhalb einer postmigrantischen Gesellschaft auseinander.</p> <p>Czolleks Analyse beansprucht so Theoreme der Theater- und Medienwissenschaft und überführt sie in gesellschaftspolitische Intervention. Ohne die Theoreme im Detail auseinanderzudividieren, zeigt er vor allem ihr politisches Potential und die Möglichkeiten ihrer Anwendung. Allen voran prüft Czollek Repräsentation als gesellschaftspolitische Kraft, fragt nach Positionalität und Agency von Repräsentation (wer spricht mit welcher Wirkmacht für wen?) und befragt Gehalt wie Konsequenz symbolischer Handlungen und politischer Inszenierungen. Nicht zuletzt bedient er Theatervokabular zur Adressierung gesellschaftlicher Dynamiken. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht ist gerade dieser prominent gesetzte Versuch, über Theater Gesellschaft zu (be-)greifen von theoretischem und historischem Interesse. Er zeigt, dass und wie mit theaterwissenschaftlichen Konzeptionen Gesellschaftskritik gelingen kann.</p> <p>Zugleich liest sich Czolleks Trilogie als Produkt aktueller Debatten um die Verfasstheit deutscher Gesellschaft, ihrer Erinnerungs- und Teilhabe-Kultur. Parallel zu den Versuchen, Kultur zu hierarchisieren und Gesellschaft zu homogenisieren, mehrten sich Plädoyers dafür, Gesellschaft als dissonante Vielheit zu begreifen und hegemoniale Strukturen aus jüdischer Perspektive als <em>Goygenwart</em> (Debora Antmann) oder<em> Goynormativität</em> (Judith Coffey/Vivien Laumann; <em>goy</em> pejorativ für nicht-jüdisch, TE) zu problematisieren. Czolleks Schaffen ist Teil dieser Plädoyers. Seine Schriften üben Ideologiekritik, weisen aber auch Wege zu einer intersektionalen Vielfalt im öffentlichen Diskurs. Die Desintegration und Subversion – wiederum mittels künstlerischer bzw. theatraler Praktiken – gehören dazu; und vor allem die Distanznahme zu hegemonialen Imperativen. Was bedeutet es, Kulturpolitik politisch ernst zu nehmen, fragt Stuart Hall 1998 für den US-amerikanischen Kontext. Und Czollek antwortet in Bezug auf deutsche Kulturpolitik: es bedeutet, ihren Imperativen, Gesten und Symboliken so misstrauisch zu begegnen, "wie ein[em] Liebesgeständnis auf Ecstasy" (<em>Gegenwartsbewältigung</em>, S. 20).</p> <p><strong>Quellen:</strong></p> <p>Bodemann, Y. Michal: <em>Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung.</em> Hamburg: Rotbuch 1996.</p> <p>Hall, Stuart: "Subjects in History: Making Diasporic Identities" [1998]. In: <em>Selected Writings on Race and Difference.</em> Hg. v. Paul Gilroy/Ruth Wilson Gilmore, Durham/London: Duke University Press 2021, S. 329–338.</p> Theresa Eisele Copyright (c) 2023 Theresa Eisele http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-02 Thomas Nolte: Spielformen des Komischen. Das Unterhaltungstheater des 19. Jahrhunderts in Wien und Paris. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8333 <p>Durch die Privilegierung institutionsgeschichtlicher Perspektiven habe die bisherige Forschung zum Unterhaltungstheater des 19. Jahrhunderts den Theatertexten selbst verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dies kritisiert der Germanist Thomas Nolte und macht es sich zur Aufgabe, sich in seiner 2021 verteidigten (Eberhard Karls Universität Tübingen) und 2023 publizierten Dissertation mit den titelgebenden <em>Spielformen des Komischen </em>im österreichischen und französischen Unterhaltungstheater auseinanderzusetzen. Auf gut 370 Seiten spannt der Verfasser mit hermeneutischen Textanalysen, die von historischen wie theoretischen Kontextualisierungen begleitet werden, einen Bogen von Zauberspielen Ferdinand Raimunds, über Possen Johann Nestroys, zu Vaudevilles Eugène Labiches und Georges Feydeaus. Dabei geht es ihm nicht darum, Wechselwirkungen zwischen Frankreich und Österreich aufzuzeigen, sondern seine Aufmerksamkeit gilt dem scheinbar Trivialen.</p> <p>Nolte interessiert sich für die in den Theaterstücken vorkommenden Alltagsgegenstände und Praktiken, die ihm als Einstieg dienen und seine detaillierten Analysen strukturieren. Diese zielen im Wesentlichen darauf ab, Formen und Funktionen des Komischen sowie deren politische Dimensionen herauszuarbeiten. Mit einem Auge für Details nähert sich der belesene Autor elf, zumeist kanonischen Theatertexten, die am Wiener Burgtheater, bei den Salzburger Festspielen oder auf französischen Nationaltheatern wie der Comédie-Française und dem Théâtre de l'Odéon noch im 21. Jahrhundert gespielt werden; was für Nolte allerdings nicht relevant ist, denn ihm ist es ein Anliegen, die Texte "in ihrer eigenen Zeit [zu] verorte[n]" (S. 9). Und dieses Ansinnen vollzieht er in beeindruckender Genauigkeit: In seinen c<em>lose readings</em> greift er über alltägliche Dinge (Geld, Hut, Spiegel, Regenschirm) sowie Praktiken, Diskurse oder Phänomene (Gewinnspiel, Rechtschreibreform, Kometenangst) auf die Theatertexte zu und sucht zu klären, wie diese "Gegenstände und Praktiken die Darstellungsverfahren der Texte bestimmen" (S. 17).</p> <p>"Das Komische ist […] dazu prädestiniert" (S. 13), politische Umbrüche und die im 19. Jahrhundert eingeleiteten Demokratisierungsprozesse zu veranschaulichen. Nolte hat sich entschieden, diesen Prozessen in chronologischer Reihenfolge – sowie dementsprechender geografischer Trennung – anhand von vier für ihre Zeit repräsentativen Komödiendichtern nachzugehen. Er teilt die Arbeit konsequenterweise in zwei eigenständige Abschnitte: Der erste Teil, "Das Theater der Wiener Vorstadt", behandelt österreichisches Populärtheater in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im zweiten Teil, "Die Kunst des Quiproquos im Pariser Vaudeville", wendet sich der Autor dem französischen Theater von 1850 bis zur Jahrhundertwende zu. Obwohl beide Teile vom gleichen Erkenntnisinteresse geleitet sind, muss die Lektüre nicht chronologisch erfolgen – beide funktionieren unabhängig voneinander als Studien zu Wien und Paris. Innerhalb dieser Studien entwickelt er jeweils seine Argumentation im Hinblick auf Entwicklungen von und Zusammenhängen zwischen dem <em>Komischen</em> und <em>Politischen</em>.</p> <p>Mit Raimund und Nestroy stehen im ersten Teil zwei der bekanntesten österreichischen Dramatiker im Zentrum. Anhand des Zaubermärchens <em>Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär </em>(1826) und des Zauberspiels <em>Der Alpenkönig und der Menschenfeind </em>(1828) demonstriert Nolte, wie die von der Aufklärung verdrängte Komik bei Raimund wieder ihren Weg auf die Bühne fand. Dabei unterlag die Komik, die eng an Körperlichkeit und "niedere" Bevölkerungsschichten gekoppelt war, am Ende der Stücke einer Disziplinierung. So geht Nolte bei seiner Lektüre von <em>Der Alpenkönig und der Menschenfeind</em> der Trias Komik – Körperlichkeit – Disziplinierung nach und zeigt unter anderem anhand der Regieanweisungen das komische Potenzial der Wutausbrüche des Menschenfeinds auf, von denen dieser letztlich geheilt wird, wodurch auch die Komik eine Disziplinierung erfährt. Nestroys Komik hingegen war von dieser Kontrolle bereits befreit, sie unterlag anderen Regeln und konnte durch satirische Mittel "entfesselt" (S. 167) werden. Diese Befreiung äußert sich im klein- bis unterbürgerlichen Figurenpersonal. Musste dieses bei Raimund noch gebändigt werden, so konnten die Figuren bei Nestroy ihr komisches Potenzial ohne die gattungstypologisch bedingte Kontrolle der Feenwelt entfalten.</p> <p>Im zweiten Teil widmet sich Nolte zwei populären Vertretern des Genres des Vaudevilles, Labiche und Feydeau, wobei er das Quiproquo als Technik des Komischen im Zusammenhang mit der im 19. Jahrhundert vollzogenen Trennung der Sphären des Privaten und Öffentlichen denkt. Dabei wird deutlich, dass die Verwechslung als Stilmittel bei Labiche noch der Stabilisierung dieser Ordnung diente (so z. B. in <em>Un chapeau de paille d'Italie</em>, 1851). Parallel zum Bedeutungsverlust des Mittels, wie Nolte anhand von Komödien und Einaktern von Feydeau zeigt (u. a. <em>La Dame de chez Maxim</em>, 1899), verlor auch die reale Trennung der Sphären an Gewicht.</p> <p>Obwohl nun diese Ordnung insbesondere den zweiten Teil der Arbeit strukturiert, wird der immanente Bezug zu den vom Bürgertum vertretenen, naturalisierten und verwissenschaftlichen Geschlechterrollen, die Männern die Sphäre des Öffentlichen (Aktivität) und Frauen jene des Privaten (Passivität) zugeordnet hat, lediglich am Rande erwähnt. Dabei müsste eine Reflexion und Problematisierung der überproportionalen Aktivität männlicher Akteure – Autoren wie auch Figuren – nicht notwendigerweise in einem feministischen Ansatz begründet liegen: Die <em>Alltäglichkeit</em> männlicher Dominanz und Hegemonie im Theater des 19. Jahrhunderts könnte vielmehr aus der von Nolte verfolgten "Aufmerksamkeit für alltägliche Gegenstände und Praktiken" (S. 10) in den Blick rücken.</p> <p>Eine Stärke der Arbeit liegt darin, dass der Autor kulturwissenschaftlich und historisch informierte Lektüren vorlegt und darin immer wieder an etablierte Lesarten anschließt, indem er sie mit Fokus auf Formen und Funktionen des Komischen weiterdenkt, erweitert, revidiert oder kritisiert. In der Auseinandersetzung mit Nestroys <em>Freiheit in Krähwinkel</em> (1848) geht er in einem Unterkapitel (2.3.2) nicht der oft besprochenen Frage nach der Haltung des Dramatikers zur Revolution in der Posse nach, sondern zeigt anhand von Illustrationen den Einfluss der enormen Bilderflut des Jahres 1848 auf den Theatertext. Im Fall von Labiches <em>La grammaire </em>(1867) liest Nolte keine Kritik am allgemeinen Wahlrecht, das inkompetente Politiker in ein Amt heben kann (wie die Lesart von François Cavaignac, vgl. S. 244). Vielmehr zeigt er auf, dass die mangelnde Schreibkompetenz des Protagonisten – der sich für ein politisches Amt interessiert und aufgrund seiner "charakterlichen Integrität" (S. 247) durchaus dafür geeignet sei – auf die Rechtschreibreform anspiele, über die parallel zur Entstehungszeit des Stücks in Frankreich diskutiert wurde.</p> <p>Etwas zu rasch abgehandelt wird in diesem Zusammenhang die Funktion der Tochter des Protagonisten, die dessen Texte verschriftlicht und damit einen nicht unwesentlichen Anteil an dem Erfolg ihres Vaters hat. Dabei hätte Nolte mit den Feststellungen, dass der Name der Tochter, Blanche, "auf ihre Transparenz [verweist], die sie zur reinen Vermittlung prädestiniert" (S. 250) – oder wie er mit Bezug auf Derrida formuliert: der "Angewiesenheit des Primären auf das Sekundäre" (S. 251) – bereits den Weg für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Topos der im Hintergrund dem Mann zuarbeitenden weiblichen Figur geebnet. Ein weiterer Anschlusspunkt hätte sich im folgenden Unterkapitel geboten, in dem er das "erhebliche Machtpotential" (S. 260) der Tochter betont. Feststellungen wie diese, die auf dem Theater inhärente patriarchale Machtstrukturen verweisen, wären ausbaufähig gewesen und hätten die Lesart um eine politische Dimension bereichern können.</p> <p>Nichtsdestotrotz bietet das Buch <em>Spielformen des Komischen </em>für ein historisch und literaturwissenschaftlich interessiertes Publikum eine anregende Lektüre und anschlussfähige Perspektiven an. So denkt Nolte in den auf Textebene analysierten Formen und Funktionen von Komik die dafür essenzielle Ebene der Körperlichkeit immer wieder mit, verbleibt jedoch dem literaturwissenschaftlichen Ansatz entsprechend beim schriftlich fixierten Theatertext. Eine fruchtbare Erweiterung könnte hier eine theaterwissenschaftliche Perspektive bieten, aus der die Körperlichkeit theatraler Darstellungsformen in den Blick gerät.</p> Lisa Niederwimmer Copyright (c) 2023 Lisa Niederwimmer http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-03 Hannah Speicher: Das Deutsche Theater nach 1989. Eine Theatergeschichte zwischen Resilienz und Vulnerabilität. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8066 <p>Lässt sich eine Theaterinstitutionsgeschichte entlang prägnanter Inszenierungen erzählen? Und lassen sich diese Inszenierungen, eingebettet in das Wissen um ihr Zustandekommen sowie ihr diskursives Nachleben, mit ihren ästhetischen Besonderheiten und konzeptuellen Setzungen sogar auch zu "(Sinn-)Bildern einer Intendanz" verdichten? Dass dem in der Tat so sein kann, ist die starke These der Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Hannah Speicher und ihrer Dissertationsschrift <em>Das Deutsche Theater nach 1989. Eine Theatergeschichte zwischen Resilienz und Vulnerabilität </em>(transcript 2021).</p> <p>Entlang der drei Inszenierungen <em>Hamlet/Maschine</em> von Heiner Müller (1989), <em>Shoppen und Ficken</em> von Thomas Ostermeier (1998) und <em>Emilia Galotti</em> von Michael Thalheimer (2001), die in drei verschiedenen Intendanzen der Nach-/Wendezeit am Deutschen Theater in Berlin unter Dieter Mann (1984–1991), Thomas Langhoff (1991–2001) und Bernd Wilms (2001–2008) entstanden sind, zeichnet die Autorin die Transformationsprozesse dieses geschichtsträchtigen Hauses "vom selbstbewussten Staatstheater der DDR zu einem pluralistischen Theater in neuer Bundeshauptstadt" (S. 14) nach. Ihr Anspruch: einen Beitrag zur theaterhistorischen Organisationsforschung zu leisten. Und dabei in den Analysen von der grundlegenden Verwobenheit von Ästhetik, Produktionsbedingungen und kulturpolitischem Entstehungskontext auszugehen. Allein dieser Zugriff macht Speichers Studie methodologisch betrachtet schon sehr lesenswert.</p> <p>Sie kombiniert Inszenierungs-, Dramen- und Diskursanalyse mit empirischen Methoden der Oral History. Hierfür hat sie Interviews mit Zeitzeug*innen des Deutschen Theaters geführt, die zwischen 1989 und 2008 in der Dramaturgie, der Geschäftsführung, dem Ensemble oder der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig waren. Mit ihrem Erkenntnisinteresse an der exemplarischen Theaterarbeit eines ostdeutschen Stadttheaters, seinen Produktionsbedingungen und künstlerischen Hervorbringungen schließt sie thematisch an die jüngeren Studien von Tanja Bogusz zu den "Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne" (2007) und Skadi Jennicke über "ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch" (2011) an und berührt auch das Feld der Theaterarbeitsforschung, um das sich Axel Haunschild mit zahlreichen Publikationen seit mehr als zwei Dekaden verdient gemacht hat.</p> <p>Ein knapp gehaltenes Hinführungskapitel zu den Unterschieden zwischen dem Theatersystem der DDR und dem der BRD trägt primär den existierenden Forschungsstand zusammen und legt offen, dass die spezifische Geschichte sowie die Produktionsbedingungen des DDR-Theaters noch der gleichberechtigt intensiven Beforschung harren. Im Anschluss widmet sich die Autorin in drei umfassenden, und je analog strukturierten Kapiteln den Analysen der genannten Beispielinszenierungen des Deutschen Theaters (DT), wobei sie sehr elegante, leitmotivische Querverbindungen zwischen den Arbeiten herausstellt.</p> <p>Aus der in Theater- und Literaturwissenschaft reichhaltig beforschten Inszenierung <em>Hamlet/Maschine</em> trägt Speicher einschlägige Perspektiven zusammen, um mit Blick auf ihre Kernthese den Punkt zu machen, dass mit Heiner Müllers Arbeit – vor dem Hintergrund der historischen Zeitenwende des Mauerfalls 1989 und der Wiedervereinigung 1990 – eine Phase am DT begann, die mit den Intendanzen Mann und Langhoff auf Aufrechterhaltung des Status Quo setzte. Dazu gehört organisationsbezogen z. B., dass die (im Vergleich zu westdeutschen Theatern) personelle Überausstattung vorerst erhalten werden konnte, dass die Wirksamkeit der DDR-Rahmenkollektivverträge, die Schauspieler*innen unbefristete Anstellung sicherte, bestehen blieb und dass im Haus – wenig verwunderlich – versucht wurde, die "ostdeutsche Identität des DT" (S. 58) zu bewahren.</p> <p>Es ist vor allem ein bestimmter "Wendekommentar" (Kap. 3.4), den Speicher aus Müllers <em>Hamlet/Maschine</em>, aus dem Bühnenbild und dem Umgang mit Zeit und Geschichtlichkeit (über die Spieldauer entwickelt sich die Szenerie von einer Eislandschaft zu einer Wüste) sowie Fortschrittspessimismus ("von einer Knechtschaft in die andere", Müller in <em>Krieg ohne Schlacht</em>, zitiert nach S. 119) herausarbeitet. Dieser wird dann gleichsam zu einem Bild für die "Beharrung" (S. 58) und den "ausbleibenden organisatorischen Wandel des DT in den Jahren 1989–1997" (S. 120), der Mann/Langhoff-Ära also, erklärt. Vor dem Hintergrund des immensen politischen Engagements auch zahlreicher DT-Künstler*innen im Zuge der friedlichen Revolution und der keimenden Hoffnung auf Mitbestimmung (oder auch der Option auf eine anderen sozialistische Zukunft), verdichte die Inszenierung <em>Hamlet/Maschine</em> fehlende Wendeeuphorie und Gefühle des Scheiterns, nicht zuletzt angesichts der Vorahnung einer nahenden "Übernahme" (Ilko-Sascha Kowalczuk) durch das kapitalistische System mit dessen Geschichtsballast von Imperialismus und Kolonialismus.</p> <p>Ostermeiers <em>Shoppen und Ficken</em> wird institutionell betrachtet u. a. deshalb zu einer sinnbildhaften DT-Produktion, da sie im Kontext des "Theaterwunders Baracke" (Kap. 4), der Neugründung einer Nebenspielstätte des Haupthauses in der Spielzeit 1996/97 steht und bereits 1998 zum "Theater des Jahres" gewählt wurde. Strukturell interessant ist hier zum einen, dass die Baracke damals u. a. durch Sponsoring von Daimler-Benz und der großzügigen Unterstützung des Freundeskreises anschubfinanziert wurde und dass ihr Entstehen zum anderen auf das Engagement zweier westdeutscher Angestellter im Leitungsteam zurückzuführen ist. Die Geschichte zur Baracke und der <em>Shoppen und Ficken</em>-Inszenierung liest sich deshalb auch ein bisschen wie die Beschreibung des Einbruchs "des Westens" in das noch zu sehr an seiner Ost-Identität klebende DT, das Speicher zufolge, 1996 in einem "lethargischen Zustand" (Kap. 4.1) gewesen sei.</p> <p><em>Shoppen und Ficken</em> von Mark Ravenhill aufzuführen, markiere zudem eine Zuwendung zu europäischer Gegenwartsdramatik, insbesondere zu den britischen "In-yer-Face"-Dramen, was seinerzeit zum programmatischen Alleinstellungsmerkmal avancierte. Mit der künstlerischen Leitung der Baracke wurde Thomas Ostermeier gemeinsam mit Regisseur Christian von Treskow berufen, die im Team mit Dramaturg Jens Hillje, den Schauspielerinnen Nina Hoss und Jule Böwe sowie Bühnenbildner Jan Pappelbaum in räumlicher Trennung vom Haupthaus als neue Theatergeneration neue, auch radikalere, Ästhetiken ausprobierten. Mit der genauen Analyse der sogenannten "Messer-Szene" verbindet Speicher im Sinne ihrer These die Erkenntnis, dass sie die "Einschnitte, denen das Haus um die Jahrtausendwende ausgesetzt sein wird" (S. 144) präfiguriere – zumal unter Intendant Bernd Wilms fast 150 Mitarbeiter*innen weniger am DT tätig waren. Darüber hinaus stehe jene explizite Gewaltszene, in der eine Figur mit einem Messer zu Tode vergewaltigt wird (ohne, dass die Stückfassung dieses Ende vorgesehen hätte), Speicher zufolge auch für den "brutale[n] Gründungsakt" (S. 170) von Ostermeiers Neuen Realismus, mit dem er kurze Zeit später an die Schaubühne wechseln und reüssieren sollte.</p> <p><em>Emilia Galotti</em>, jene Erfolgsinszenierung, mit der Michael Thalheimer 2001 die Intendanz von Bernd Wilms am DT eröffnete, steht für Speicher abermals für eine sich symptomatisch wandelnde Institutionsästhetik am DT. So kommt sie nach der Analyse von Dramentext, DDR-Rezeptionsgeschichte und Neuinszenierung zum Schluss, dass die reduktionistische Ästhetik Thalheimers Wilms' organisatorisches Programm der Schuldenreduktion, Ensemblereduzierung und Apparatverschlankung widerspiegle. Mit Wilms und den neu am Haus arbeitenden Künstler*innen (wie u. a. Dimiter Gotscheff und Katrin Brack oder Jürgen Gosch und Johannes Schütz) ziehe eine – abermals sinnbildlich gedeutete – "Ästhetik des Weniger" (vgl. S. 199) ein, die das Haus, auch kulturpolitisch betrachtet, aus der Phase der Nachwende-Vulnerabilität in den Zustand der gegenwärtigen Resilienz gehievt habe. Relevant ist im Zuge der<em> Galotti</em>-Analysen auch Speichers Hinweis, dass Thalheimer mit seinen inhaltlichen Kürzungen und der damit verbundenen Privatisierung des Grundkonflikts spezifische historische Dimensionen der Vorlage unsichtbar machte, wodurch gleichsam eine "deutliche Abkehr vom sozialistischen Erbe des Deutschen Theaters vollzogen" (S. 231) wurde.</p> <p>So innovativ der methodische Zugriff und schlüssig die drei inszenatorisch-organisatorischen Sinnbildstrukturen, so heikel ist er gewählte Ansatz der Autorin auch. Schließlich neigt diese Art der Betrachtung dazu, äußerst komplexe Sachverhalte zu verkürzen. Denn natürlich gab es in diesen knapp zwanzig Jahren so unendlich viel mehr auf den Bühnen des DTs zu sehen, so viele andere einschlägige Inszenierungen und so viel mehr Mitarbeitende als die befragten. Gleichzeitig braucht es für ein solches Forschungsvorhaben natürlich auch Eingrenzungen. Während insbesondere die dramenanalytischen Textteile qualitativ hervorstechen, fallen Einsparungen bei der konzeptuellen Begriffsarbeit auf. So wurde z. B. mit den beiden untertitelgebenden Begriffen Vulnerabilität und Resilienz im Grunde über die Einleitung hinaus kaum konkret gearbeitet, auch muss die Setzung, dass Inszenierungen als "Bilder der Organisation" (S. 15) interpretiert werden können, ohne bildtheoretische Fundierung auskommen. Angesichts der Materialfülle und des sehr angenehmen Schreibstils kann man darüber allerdings hinwegsehen.</p> <p>Was allerdings wirklich schade ist – und deshalb mindestens noch eine weitere Studie wert wäre –, ist die Tatsache, dass aus den immer wieder nur kurz aufpoppenden, punktuellen Hinweisen, dass Ost-West-Differenzen am DT nicht ordentlich aufgearbeitet worden seien, nichts weiter gemacht wurde. Denn gerade das scheint mir der zentralste Punkt zu sein, wenn man die Institutionsgeschichte des Deutschen Theaters Berlins seit 1989 schreiben und verstehen möchte.</p> Theresa Schütz Copyright (c) 2023 Theresa Schütz http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-04 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8283 <p>Im September 1931 erschien Walter Benjamins "Kleine Geschichte der Photographie" aufgeteilt auf drei Ausgaben in der Wochenzeitung <em>Die literarische Welt</em> (vgl. Benjamin GS II, S. 1130). Fast 100 Jahre später hat nun Wolfgang Matz diesen Klassiker der modernen Medien- und Kulturtheorie beim Alexander Verlag Berlin neuherausgegeben und dem Aufsatz seinen Essay "Die Wirklichkeit, das Bild" beigefügt. Das Buch wurde im handlichen Format mit schwarz-silbernem Cover gestaltet. Dem Text wurden dabei sämtliche Fotografien beigefügt, die auch in der ursprünglichen Veröffentlichung abgedruckt waren. Diese Fotografien von Germaine Krull, August Sander, David Octavius Hill, Karl Dauthendey und einem unbekannten deutschen Fotografen sind hingegen in den <em>Gesammelten Schriften</em> lediglich geblockt am Ende des Textes zu finden: kurioserweise zwischen der vorletzten und letzten Seite des Aufsatzes (vgl. Benjamin GS II, S. 384). Die verstreute Platzierung der Fotografien in der Neuausgabe entspricht vom Layout her viel eher der ursprünglichen Veröffentlichung des Aufsatzes. Dies wird durch einen Blick auf die Abbildungen der Originalveröffentlichung deutlich, die auf die Innenseiten des Umschlags der Neuedition gesetzt wurden. Allein aufgrund dieses s<em>neak peek</em> ins Archivmaterial empfiehlt sich meiner Ansicht nach die Neuausgabe. Zur Buchgestaltung ist zusätzlich auf eine fehlende Information am Buchrücken hinzuweisen. Es findet sich dort folgendes Zitat aus Benjamins "Kleine Geschichte der Photographie": "Nicht der Schrift- sondern der Photographieunkundige wird der Analphabet der Zukunft sein" (S. 52). Dieses Zitat kann nicht Benjamin zugeschrieben werden. Denn Benjamin weist in "Neues von Blumen", der bereits 1928 veröffentlichten Rezension von Karl Bloßfeldts <em>Urformen der Kunst</em>, darauf hin, dass dieser hellsichtige Satz vom "Pionier des neuen Lichtbilds, [László] Moholy-Nagy" stammt (Benjamin GS III, S. 151). Dass die Auswahl gerade auf dieses (nicht ausgewiesene) Zitat eines Zitates gefallen ist, entspricht immerhin durchaus Benjamins Arbeitsweise, wenn man sich seine unvollendet gebliebene "Passagenarbeit" in Erinnerung ruft, die zu großen Teilen aus Zitaten bestehen hätte sollen.</p> <p>Inhaltlich führt das Moholy-Nagy Zitat jedenfalls mitten ins Zentrum von Benjamins Überlegungen zur Fotografie. Benjamin kritisiert die kunst- und filmtheoretische Diskussion darüber, ob Fotografie eine Kunst sei oder nicht (vgl. S. 9), und kontrastiert dagegen, in Anlehnung an Gisèle Freund, dass die Erfindung der Fotografie den "Gesamtcharakter der Kunst" von Grund auf verändert habe (Benjamin GS III, S. 542). Die Fotografie stellt für Benjamin schließlich das erste "wirklich revolutionäre Reproduktionsmittel" dar (Benjamin GS VII, S. 356), das womöglich "in unterirdischen Zusammenhang mit der Erschütterung der kapitalistischen Industrie stünde" (S. 9). Erst mit dem Aufkommen der Fotografie kommt es folglich zur "Zertrümmerung der Aura" (S. 37) und somit zur Emanzipation von dem kultisch-religiösen Kern der Kunst. Im Fotografie-Aufsatz findet sich Benjamins erste Bestimmung der Aura: "Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" (S. 36). Benjamins Aura-Konzeption beinhaltet eine räumliche sowie eine zeitliche Ebene. Während die räumliche Dimension von den Polen Nähe und Ferne bestimmt sei, ließe sich die zeitliche Ebene durch Einmaligkeit und Wiederholung beschreiben. Künstlerische Äußerungen, die eine auratische Wahrnehmung hervorrufen, sind nach Benjamin durch Distanz und Unnahbarkeit sowie Einmaligkeit, Echtheit und Originalität bestimmt. Die von der Aura befreite Kunst lässt sich im Umkehrschluss durch Wiederholbarkeit und Nähe beschreiben. Doch Benjamin hat kein Interesse daran, die Aura genau zu definieren. Fokus seiner kultur- und medientheoretischen Texte und somit auch seiner "Kleine[n] Geschichte der Photographie" ist vielmehr die These vom Verlust oder Verfall der Aura im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken.</p> <p>Benjamins Aufsatz prägte sowohl die Theorie und Geschichte der Fotografie als auch Theorien der Wahrnehmung und Bildbetrachtung. Dass dieser Text nun als Einzelausgabe in modernem Layout und Design neuherausgegeben wurde, ist meiner Ansicht nach ein verdienstvolles Unterfangen. Äußerst schade ist jedoch, dass in der Neuausgabe der Einfluss von Gisèle Freund und Germaine Krull auf Benjamins Auseinandersetzung mit Fotografie nicht stärker betont wird. Während Freund zweifelsohne Benjamins wichtigste Gesprächspartnerin in Bezug auf Theorie, Technik und Geschichte der Fotografie war, beeinflusste Krull ihn insbesondere durch ihre avantgardistischen Fotografien. Im Pariser Exil pflegte Benjamin zu beiden enge freundschaftliche Beziehungen sowie einen intensiven inhaltlichen Austausch. Beide fertigten Portraitaufnahmen von ihm an. Im beigefügten Essay von Matz findet sich zwar eine äußert aufschlussreiche und informative, historische Kontextualisierung und Kommentierung, doch diese Fotografinnen werden kaum erwähnt. Dass Matz in seinem Essay darüber hinaus aufs Gendern verzichtet, verstärkt den Eindruck fehlender feministischer Positionierung.</p> <p>Im Abschlussteil des Textes versucht der Autor, Benjamins Überlegungen weiterzudenken und zu aktualisieren, und widmet sich medientheoretischen Fragen der Gegenwart. Dabei nimmt er jedoch eine kulturpessimistische und medienkonservative Haltung ein, die meiner Ansicht nach konträr zu den Positionen Benjamins steht. Matz zufolge sei etwa das "emanzipatorische Potential, das Benjamin der technischen Reproduzierbarkeit zuschrieb" eine "Illusion" (S. 97). Unerwähnt bleibt dabei, dass sich Benjamin durchaus bewusst war, dass Fortschritte in der (Reproduktions-)Technik, den politischen Kampf nicht ersetzen würden. Jedoch hoffte er, dass Film und Fotografie kritisch und reflektiert eingesetzt dem Proletariat im Kampf für eine bessere Welt helfen könnten. Die Entfaltung des emanzipatorischen Potentials dieser technischen Kunstformen vollzieht sich für Benjamin erst im Rahmen einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft. So heißt es im Kunstwerkaufsatz, der in großen Teilen auf dem Fotografie-Text aufbaut, dass die "politische Auswertung des Films, so lange auf sich wird warten lassen, bis sich der Film aus den Fesseln seiner kapitalistischen Ausbeutung befreit haben wird" (Benjamin GS VII, S. 370). Gleiches gilt für die Fotografie. Matz kritisiert darüber hinaus "die nahezu unbegrenzte technische Manipulierbarkeit digitaler Bilder" heute (S. 96). Doch Benjamin, der die verfremdenden Fotomontagen des Antifaschisten John Heartfield euphorisch rezipierte, geht es gerade um das Zerschlagen der konservativen Fundierung der auratischen Kunst mit ihren Ansprüchen auf Echtheit, Original und ewige Wahrheiten. Durch Montage und Bearbeitung von Fotografien besteht zwar stets die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung und Verfälschung, jedoch sollte daraus kein Plädoyer für eine vermeintlich authentische, wahre oder gar ausschließlich dokumentarische Fotografie abgeleitet werden. Anstatt Inventarisierung und Konservierung fordert Benjamin von der Fotografie sowie von der Kunst allgemein den aktiven Gebrauch, die Handhabbarmachung, Aktualisierung und Neu-Ordnung des Alltäglichen, Gewöhnlichen, Weggeworfenen, Vergessenen, Verkommenen und Irrationalen. Das subversive Potential der Fotografie besteht für Benjamin ausdrücklich nicht in einer dokumentarischen Wiedergabe oder Aufzeichnung der Realität, sondern im spielerischen Eröffnen von neuen Wahrnehmungen und Erfahrungen.</p> <p>Hinsichtlich der aktuellen fotografischen Praxis hält Matz zwar fest, dass die technische Entwicklung der Fotografie "eine Vereinfachung, Verbilligung und Vervielfältigung der Bildproduktion" mit sich gebracht hat (S. 107) und dass auch "mit diesen neuen Voraussetzungen […] ästhetisches Spiel" und "Kunst" möglich sei (S. 110). Da diese ihm zufolge jedoch nicht zum "historischen Bildgedächtnis der verlorenen Zeit" beitragen (S. 110), bewertet er die "tagtäglich produzierten Smartphonebilder", die heutige "Masse der Alltagsbilder" als "digitalen Müll", der schließlich zur extremen "Entwertung der Fotografie" führe (S. 99). Mit der Abwertung der Smartphone-Fotografie und der gleichzeitigen Aufwertung der "bewusst gestalteten Fotografie" (S. 106) reproduziert Matz die von Benjamin problematisierte Diskussion über den Kunstcharakter der Fotografie. Anstatt in kulturpessimistischem Ton die technischen Möglichkeiten unserer Zeit abzuwerten und ihnen eine vermeintlich bedrohte und verschwindende Kunst-Fotografie gegenüberzustellen, gilt es meiner Ansicht nach, die moderne "Smartphone-Fotografie" auf ihren emanzipatorischen Gehalt hin zu befragen. Ausgehend von Benjamins Emphase für eine Demokratisierung und Politisierung der Kunst durch Technik müsste eine derartige Analyse jedoch auch die problematischen Aspekte dieser Fotografie reflektieren, die unter anderem in einer massiven Fetischisierung, Sexualisierung, Kommodifizierung und Normierung von Körpern besteht.</p> <p><strong>Quellen:</strong></p> <p>Benjamin GS + Bandnummer = Benjamin, Walter: <em>Gesammelte Schriften.</em> VII Bde. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.</p> <p>Daraus zitierte Texte:</p> <p>Benjamin, Walter: "Kleine Geschichte der Photographie". In: GS II, S. 368–386.</p> <p>Benjamin, Walter: "Anmerkungen zu: Kleine Geschichte der Photographie". In: GS II, S. 1130–1143.</p> <p>Benjamin, Walter: "Neues von Blumen". In: GS III, S. 151–153.</p> <p>Benjamin, Walter: "Gisèle Freund, La photographie en France au dix-neuvième siècle". In: GS III, S. 542–544.</p> <p>Benjamin, Walter: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". In: GS VII, S. 350–385.</p> Daniel Gönitzer Copyright (c) 2023 Daniel Gönitzer http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-13 Susanne Lettow/Sabine Nessel (Hg.): Ecologies of Gender. Contemporary Nature Relations and the Nonhuman Turn. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7581 <p>"As we know, the figure of the human has not vanished, as Foucault predicted, although it has undergone significant change. It seems as if the nonhuman turn has initiated a shift from what Foucault called the 'empirico-transcendental doublet' into an 'onto-ethical' figure. This means that, in contrast to the history of philosophical anthropology, the human is no longer understood as a biological being that is, at the same time, the transcendental condition of the possibility of knowledge, but rather in terms of ontological claims that immediately translate into ethical-political ones." (S. 198)</p> <p>Durch was würde sich ein Glossar des <em>nonhuman turns</em> auszeichnen? Auffällig wären wohl die Polyvalenz und Polysemie seiner operativen Begriffe und Konzepte, deren methodologische Absetz- und Abgrenzungsbewegungen sich sehr unterschiedlich begründen und die notwendig immer wieder zu kritischen Relektüren jener Figur des Menschen (zurück)führen, von der sie sich vordergründig abwenden. Mit der Bezeichnung <em>nonhuman turn</em> oder <em>more-than-human turn</em> werden kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven zusammengefasst, die an prozessphilosophische und relationale Theorien anknüpfen und aus den kontroversen Debatten rund um neu-materialistische Ansätze schöpfen. Anders als <em>post</em>(-human) akzentuieren die Präfixe <em>non</em>(-human) oder <em>more-than</em>(-human) die Dezentrierung des <em>Anthropos</em> als eine erweiternde Perspektive. Das Ineinandergreifen von Natur- und Kulturgeschichte angesichts von Klimawandel und Artensterben (als Prekarisierung menschlicher und nicht-menschlicher Lebensbedingungen) führt gegenwärtig in den Kultur- und Sozialwissenschaften wie auch in der Philosophie dazu, Problemstellungen des Ökologischen neu zu fassen und in Bezug auf nachhaltige Beziehungsweisen verstärkt auch affektive und nicht-instrumentelle Naturbeziehungen in den Blick zunehmen.</p> <p>Genau hier setzt der in der Routledge Buchreihe <em>Environmental Humanities</em> erschienene Sammelband <em>Ecologies of Gender</em> an, um die Möglichkeiten und Schwächen des <em>nonhuman turns</em> sowohl für die Gender Studies als auch für die Environmental Humanities auszuloten. Einleitend halten die beiden Herausgeberinnen Susanne Lettow und Sabine Nessel den Einsatz des Bandes folgendermaßen fest: "In order to avoid a vitalist position, in which an all-encompassing concept of 'life' masks the historicity and complexity of social relations of power and inequality and the specific conditions and possibilities of human agency, we use the phrase 'ecologies of gender'." (S. 3) Diese Stellungnahme kondensiert jahrzehntelange Debatten, rund um nicht-menschliche Handlungsmacht und Symmetrisierung (wofür meist paradigmatisch Bruno Latour steht) sowie solche rund um den vitalistisch grundierten Neu-Materialismus (hier wäre etwa Rosi Braidottis Konzept von <em>Zoé</em> zu nennen oder der Vitalismus Jane Bennetts). Diese Debatten drehen sich um die Einsicht, dass die Historizität von Herrschaftsverhältnissen und Interessenskämpfen es erfordere, an einer Spezifität menschlicher Handlungsmacht festzuhalten, ohne dass damit automatisch ein (starker) Anthropozentrismus (als falscher Universalismus) einhergehen müsse.<sup>1</sup> So sind es dezidiert (queer-)feministische und postkoloniale Theoriebezüge, auf welchen die dreizehn Beiträge des Bandes aufbauen, die explizit als "situated analyses" (S. 2) gerahmt werden. "Situiertheit" wird dabei ökologisch perspektiviert. Die Erweiterung auf nicht-menschliche Aktanten (u. a. chemische Substanzen, Artefakte oder Organismen) erlaubt es, die Figur des Menschen immer bereits als "more-than-human" zu lesen: "[W]e understand ecologies as complex, multilayered meshes of relations […] gender relations are always at the same time nature relations, and nature relations must conversely be conceived as mediated by gender relations" (S. 3). Solcherart "Ecologies" und "Gender" immer bereits im Plural gedacht, schlagen Lettow und Nessel vier Schlüsseldimensionen eines ökologischen Verständnisses von Geschlecht vor, die auch die Essays des Sammelbandes gliedern: "Creatures"<em>, "</em>Materials", "Spaces" sowie "Temporalities". Die dreizehn Autor*innen entstammen aus verschiedenen (inter)disziplinären kulturwissenschaftlichen Hintergründen (wie etwa den Visual Culture Studies, der Kulturanthropologie, der Vergleichenden Literaturwissenschaft oder den Science-Technology and Society-Studies) und verhandeln theoretische und ästhetische Darstellungen und Narrative von Gender und Natur. Ihre Forschungsgegenstände sind u. a. Maulbeerbäume in Kanada, Fetischobjekte wie Texte oder Erdöl, verfilmte Traumata, filmische Mensch-Tier-Beziehungen, Glitzer, Pflanzen, Science-Fiction und chilenische Lachsfarmen.</p> <p>Im Zentrum des ersten Teils "Creatures: The Biopolitics of Making Kin" stehen Pflanzen. Sie tauchen darin auf als Technologien, als eugenische Metaphern von Züchtung und Reinheit, als literarische und mythologische Topoi der Frau als Pflanze und nehmen in all der Ambivalenz von Donna Haraways Aufruf des Sich-Verwandt-Machens unterschiedliche Beziehungsgestalt an. Catriona Sandilands greift auch methodisch aufs harawayanisch geprägte <em>story telling</em> zurück, um damit poetologische, wirtschafts- und kolonialgeschichtliche Fäden der Kultivierung von Maulbeerbäumen in Kanada zu verknüpfen. Mit "The Vegetal Subjects of Feminist Speculative Fiction" setzt sich Natalie Meeker vorrangig mit den utopischen Romanen der <em>weißen</em> US-Amerikanerin Charlotte Perkins Gilman (1860–1935) auseinander und legt den rassistischen Kern der Züchtungsfantasien von Gilmans <em>weißem</em>, sozialdarwinistisch verfassten Feminismus frei. Die Wieder-Verzauberung der Natur als Vorbedingung öko-politischen Handelns ist Thema von Swarnalatha Rangarajan, die auf feministisch-indigenen Widerstand in Indien fokussiert sowie die Parallelen von indischer und griechischer Mythologie in der Verhandlung sexualisierter Gewalt herausarbeitet.</p> <p>Der zweite Teil des Bandes, "Materials: Agency in/of Transcorporeal Assemblages" verhandelt Selbsttechnologien (etwa synthetisches Testosteron), Fetische und unsere ambivalente Beziehungen zu Plastik. Nicole Seymour kritisiert mittels queer-ökologischer Ansätze dominante Rhetoriken von Umweltbewegungen, insbesondere jene der reinen Natur, die es zu bewahren gelte, und thematisiert stattdessen die affektiven Bindungen zu Plastik (etwa in Form von Glitzer oder in der Kunst) und weiß wohl, dass auch Autoliebhaber*innen ähnlich widerstreitende Gefühle ob des Narrativs des Verzichts haben. Kathrin Peters liest Paul B. Preciados <em>Testo Junkie</em> als Experimentierraum mit Selbst-/Subjektivierungstechnologien, wobei für Peters die biophysiologischen Effekte von Testosteron nicht kausal oder deterministisch zu verstehen sind und gleichzeitig "scripted narratives" (von Bildern und Texten) die maskuline Subjektivierung von Preciados Autor-Ich anleiten/vorzeichnen und so den Experimentierraum (zumindest schwach) prädeterminieren. Ramona Mosse sucht die Anthropo-Scenes zeitgenössischer Theaterproduktionen auf, die menschliche Zeiterfahrung mit geologischer Tiefenzeit konstellieren und (<em>weiße</em>) feministische/weibliche Emanzipation in Abhängigkeit der technologischen Innovationen des Petro-Kapitalismus auf der Bühne problematisieren.</p> <p>Mit "Spaces: Landscapes and Architectures of Power and Imagination" geht es im dritten Abschnitt vorrangig um die filmische Verhandlung von "Naturecultures" (ein weiterer harawayanischer Begriff in diesem Band). So widmen sich etwa Sabine Nessel und Andrea Seier in ihren Texten fantastischen Momenten und Motiven im europäischen Arthouse-Kino, die Begehrensstrukturen über Spezies- und Geschlechter-Grenzen hinweg thematisieren, ohne den "Ausbruch" aus den Verhältnissen zu verklären. Im letzten Teil von <em>Ecologies of Gender</em> nimmt sodann Susanne Lettows Essay "The Figure of the Human" eine Schlüsselrolle für die Problemstellungen des Bandes ein. Wie von mir einleitend zitiert, schlägt Lettow vor, die Figur des Menschen unter der Prämisse des <em>nonhuman turns</em> und unter kritischer Relektüre prominenter Autoren der philosophischen Anthropologie als onto-ethische Figur zu verstehen. Dass wir aktuell begrifflich auch in so unterschiedlichen Gegenwartsdiagnosen wie Kapitalozän, Chthuluzän oder Anthropozän immer wieder zur Relektüre des Menschen (bzw. des Kollektivsingulars Menschheit) angehalten werden, hat ihr zufolge weniger mit den Schwächen der Theoriebildung als solcher zu tun und vielmehr mit Problemen und Widersprüchen selbst, durch die es hindurchzuarbeiten gilt. Lettows onto-ethische Figur schlägt denn auch notwendig immer in eine ethisch-politische Dimension um, ohne damit aber gleich eine politische Programmatik vorzuzeichnen. Diese Schwächen des <em>nonhuman turns</em>, die sich etwa in Fragen nach politischer Organisationsfähigkeit und Verantwortung recht eklatant stellen, greift etwa Sven Bergmans kulturanthropologischer Essay auf ("Speculative Ecologies: Salmon Farming and Marine Microplastics as Slow Disasters") der damit als einer der wenigen Texte Arbeitskämpfe (hier: Gewerkschaften in Chile) behandelt.</p> <p>Abschließend sei bemerkt, dass meine vorangestellte Frage hinsichtlich eines Glossars des <em>nonhuman turns</em> nicht bloß dazu dient, meine Besprechung des Sammelbands <em>Ecologies of Gender </em>zu eröffnen. Gerade weil der Sammelband seine Stärke aus seiner essayistischen Pluralität zieht, wäre es hilfreich gewesen, auf ein Glossar der vielzähligen Analysekonzepte und Neologismen (u. a. "Plastisphere", "Planthropocene", "Plantationocene", "multispecies inquiry", "ecofeminism/ecohumanism") zurückgreifen zu können, insbesondere da diese Begriffe in den Texten oft unterschiedliche Fluchtlinien zeichnen.</p> <p><strong>Anmerkungen:</strong></p> <p><sup>1</sup> Von einer schärferen Kritik an neumaterialistischen Theorien – insbesondere im Hinblick auf Fragen der politischen Organisation und Verantwortlichkeit – ist etwa der Sammelband <em>Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung</em> (Hg. v. Hannes Bajohr, De Gruyter 2020) gekennzeichnet, der in <em>Ecologies of Gender</em> ebenfalls referenziert wird.</p> Ulrike Wirth Copyright (c) 2023 Ulrike Wirth http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-14 Olga Moskatova (Hg.): Images on the Move. Materiality – Networks – Formats. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8282 <p><em>Das verteilte Bild</em> (Rothöhler 2018), <em>Vernetzte Bilder</em> (Brantner/Götzenbrucker/Lobinger/Schreiber 2020), und nun <em>Images on the Move</em>: Die medienwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat an neuen digitalen Bildpraktiken und -technologien vor allem herausgestellt, wie sie Bilder neu in Bewegung versetzen. In der Einleitung des 2021 erschienenen Bandes ordnet Herausgeberin Olga Moskatova diese Beschreibungen einem breiteren "circulatory turn" (S. 7) in der Forschung zu digitalen Medien seit der Jahrtausendwende zu. Anspruch dieser Fokussierung auf die neuen Verbreitungsweisen von Bildobjekten wäre es, so Moskatova mit Bezug auf Medienwissenschaftler Will Straw, Zirkulation nicht bloß als ein ergänzendes Zwischenglied in der Kette von Produktion zu Rezeption zu verstehen, sondern als zentrales Konzept, das Herstellung wie Konsum von Bildern mitumfasst und wesentlich bestimmt.</p> <p>Diese Wendung hin zur Beforschung der Verteilung von Bildern bleibt, so Moskatova einleuchtend, nicht ohne Konsequenzen für die Theoriebildung der involvierten Medientypen. Speziell in der Fototheorie und -geschichte tritt statt der Fixierung auf den indexikalischen Abdruckcharakter des fotografischen Bildes (und dessen angebliche Krise im Wechsel von analog zu digital) nun die verhältnismäßig einfache Vervielfach- und Teilbarkeit fotografischer Bilder als triftiges medienspezifisches Differenzmerkmal in den Vordergrund. Vorsatz von <em>Images on the Move</em> ist es, diese Schwerpunktverlagerung zur Medialität der Verteilung von Bildern auch in anderen historischen und medienpraktischen Zusammenhängen als den klassischen Schauplätzen Streaming und Social Media auf ihre Produktivität zu testen. In den elf Aufsätzen des Bandes stehen – in Übereinstimmung mit dem fototheoretischen Fokus von Moskatovas Einführung – fast durchgehend fotografische Reproduktionsmedien im Zentrum. Entsprechend reicht der Horizont der medienhistorischen Vertiefung, mit wenigen Ausreißern, von der Gegenwart bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurück.</p> <p>Die thematische Dreiteilung des Buchs (in Beiträge zu Netzwerken, zu Formaten und zu den "Bewegungsbahnen" ausgewählter Bildkorpora) ist schlüssig und soll hier nur knapp umrissen werden: "Networked Images and Image Networks" nimmt in vier Beiträgen sehr unterschiedliche Infrastrukturen der Mobilität von Bildern in den Blick: von der industriellen Postkarten-Zirkulation (Ellen Handy), die von Großdruckereien in Chicago über nahegelegene Eisenbahnschienen in die abgebildeten Orte und von dort per Post weiter in "alle Welt" führten, bis hin zu den visuellen Daten, die Kühlschranksensoren auslesen, im Internet der Dinge an andere Geräte weitersenden und die nur noch in Ausnahmefällen in die Form menschenlesbarer Bilder umgerechnet werden (Simon Rothöhler, sehr konzis). Im zweiten Abschnitt, "Formats and Mobility of Images", reichen die besprochenen Bildformatierungen von der Encodierung von Videostreams (Frank Bauer/Philipp Kurth) bis zu Visitenkarten mit Fotoporträt im Frankreich der Jahrhundertwende (Nicole Wiedenmann), wobei in beiden Fällen Fragen der transportfreundlichen Komprimierung mindestens so entscheidend sind wie solche nach einer Treue zum Abgebildeten. Unter den Bildbeständen, deren "Trajectories and Traces" der letzte Abschnitt folgt, sind etwa die (grafischen, fotografischen, Film- und Fernseh-)Reproduktionen von Rubens-Werken, die an der je zeitspezifisch akzentuierten Kanonisierung des Künstlers zu seiner Dreihundert- und Vierhundertjahrfeier 1877 und 1977 beitrugen (Griet Bonne), sowie ein deutscher Wissenschaftsfilm zur Strömungsmechanik von 1927, dessen bewegte Verwertungsgeschichte von NS- zu US-Lehrfilminstitutionen zur Erinnerung als Göttinger Lokalhistorie am Ende kurioserweise wieder zurück zu physikalischer Bildanalyse führt (Mario Schulz/Sarine Waltenspül).</p> <p>Alle elf versammelten Beiträge sowie das Vorwort der Herausgeberin sind lesenswert. Während die (etwa ökonomischen und ökologischen) Implikationen des gewählten Zentralbegriffs "Zirkulation" (statt etwa Dissemination oder Verteilung) für den Band noch etwas eingehender besprochen hätten werden können, sind auf der Ebene der einzelnen Texte Konzepte und Methoden plausibel abgegrenzt und auf den Gegenstand abgestimmt. Die Sprache des englischsprachigen transcript-Bands ist generell klar und gut lesbar. Auch den Texten deutschsprachiger Autor*innen, einer knappen Mehrheit im Band, sind nur selten Kollateralschäden des Sprachtransfers anzumerken. (Ausreißer: Einmal sind die "Hochzeiten" – offenkundig gemeint: Konjunkturen – eines Unternehmens irrtümlich als "weddings" [S. 123] übersetzt.)</p> <p>In der Zusammenschau skizzieren die Texte auf anregende Weise drei methodische und konzeptuelle Herausforderungen, die über den Band hinausweisen: Erstens bedeutet die Ausweitung des Untersuchungsgebiets von digitalen Medien auf die letzten mehr als 150 Jahre eine Herausforderung der Periodisierung. Wie vertragen sich aktuelle Konzepte der Bildzirkulation beispielsweise mit dem klassischen Moderne-Diskurs der Jahrzehnte um 1900, den viele der Autor*innen (etwa Handy und Wiedenmann) bemühen (S. 33, S. 61, S. 121f)? Ein im Band häufig herangezogener Bezugspunkt in dieser Sache ist Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz, beziehungsweise dessen Relektüre durch Erika Balsom, wonach Benjamins Reproduktionsbegriff mindestens so sehr auf das Vervielfältigen und Verteilen der Aufnahmen hinauswollte wie auf ihre referenzielle Beziehung zum Aufgezeichneten. Darüber hinaus wäre ich aber neugierig gewesen auf weitere Überlegungen, wie einige der jüngeren Konzepte, beispielsweise Bruno Latours Urteil einer "a-modernity of circulation" (S. 19) – im Sinne von Zirkulation als Vermischung scheinbar reinlich-modern ausdifferenzierter Sphären – den emphatischen Moderne-Bezug einiger speziell fotohistorischer Beiträge eventuell auch verändern.</p> <p>Auf produktive Weise a-modern im Latour'schen Sinn einer Hybridisierung ist der Band wiederholt darin, wie er oberflächliche Periodisierungen und konzeptuelle Zuordnungen zu Analog- vs. Digitalfotografien unterläuft. Besonders eindrücklich tut Jonathan L. Dentler das in einer Studie über telegrafische Fotoübertragung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der parallel als analog und als digital einzustufende Verfahren herangezogen wurden. (Eher aus der fototheoretischen Vogelperspektive denn entlang medienhistorischer Fallstudien bürstet auch Michelle Henning in ihrem Beitrag einige vertraute Konnotationen von Analog- vs. Digitalfotografie gegen den Strich.)</p> <p>Die zweite Herausforderung, die dieser Band in der Zusammenschau verdeutlicht, betrifft die analytische Durchdringung von Zirkulation als eine Frage nicht nur von infrastrukturellen Makro-, sondern auch medienpraxeologischen Mikrodimensionen: Bestimmte Bildsorten zirkulieren massenhaft, auf Social Media oder als Postkarten, aber dabei gehen sie durch unzählige einzelne Hände, die im Teilen ihre eigenen Einschreibungen hinzufügen. Auf die Handlungsspielräume von User*innen und Sammler*innen verweisen Handy (zu Postkarten) und Wiedemann (zu Sammelpraktiken von Cartes-de-Visite), ohne aussagekräftige Beispiele für deren Nutzung vorzulegen. Überzeugender wird diese Schwierigkeit – Mediennutzungsverhalten zu analysieren, ohne es zum "typischen" Beispiel oder zur solitären Anekdote zu machen –, im Aufsatz von Lucas Hilderbrand gelöst. Sein überarbeiteter Wiederabdruck eines Textes von 2009 handelt von der Verbreitung von Todd Haynes' Film <em>Superstar: The Karen Carpenter Story</em> (US 1987) mittels illegaler Bootleg-Videokassetten, um rechtliche Einschränkungen zu umgehen. Hilderbrand hatte natürlich den Vorteil, Zeitzeug*innen zu ihren Sammel- und Sichtungspraktiken und der emotionalen Aufladung ihrer <em>Superstar</em>-Videokassetten befragen zu können.</p> <p>Drittens schließlich geht der Band die interdisziplinäre Herausforderung an, digitale Praktiken der Bildzirkulation auch in ihren technischen Spezifika aufzurollen: In einem ausführlichen Beitrag erläutern die beiden Informatiker Frank Bauer und Philipp Kurth Unterschiede zwischen Streaming und Download, wie auch zwischen Codec und Container, die Unterscheidungen aus dem (auch kulturwissenschaftlichen) Alltagsverständnis verwirren. Die Übertragbarkeit solcher Inputs in die Medienkulturwissenschaft ist nicht bruchlos: Bei einigen Differenzierungen war mir nach vollständiger Lektüre nicht klar, welchen Unterschied sie für eine Analyse machen könnten, in anderen Fällen würden implizite Wertsetzungen der Autor*innen (etwa zur Effizienz von Streams im Vergleich zu "alten" Trägern wie DVDs, S. 169, S. 178) eine eingehendere Analyse lohnen – etwa auch aus der Perspektive von Laura U. Marks' rezenter Kritik am ökologischen Fußabdruck von Streaming. Andererseits steuert auch dieser Beitrag mit seinen Beobachtungen zur schwierigen Leserlichkeit nächtlicher Schlachtszenen aus <em>Game of Thrones</em> (2011–2019) im komprimierten Stream Beobachtungen bei zu einem der faszinierendsten Nebenthemen des Buchs: der Determinierung und Formatierung ästhetischer Gestaltungsentscheidungen durch Logistiken der Zirkulation. Wenn etwa in Dentlers Beitrag die Rede ist von Lehrbüchern für Fotojournalismus aus den 1930er Jahren, die Kompositionsregeln lehrten, um Fotos optimal auf ihre verlustarme telegrafische Übertragung abzustimmen (S. 59), dann ist das auch die Vorgeschichte zu den Regelwerken für streaming-kompatible Kameraarbeit, auf die Netflix heute Produktionsfirmen verpflichtet.</p> <p><strong>Quellen:</strong></p> <p>Brantner, Cornelia/Götzenbrucker, Gerit/Lobinger, Katharina/Schreiber, Maria (Hg.): <em>Vernetzte Bilder. Visuelle Kommunikation in Sozialen Medien</em>. Köln: Herbert von Halem 2020.</p> <p>Rothöhler, Simon: <em>Das verteilte Bild. Stream – Archiv – Ambiente</em>. Paderborn: Wilhelm Fink 2018.</p> Joachim Schätz Copyright (c) 2023 Joachim Schätz http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-15 Eleonora Roldán Mendívil/Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8080 <p>Die Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo und die Politikwissenschaftlerin Eleonora Roldán Mendívil, legen im Dietz Verlag ihren Sammelband <em>Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus </em>vor, mit dem sie die Relevanz marxistischer Theorie für das Verständnis von Rassismus und anderen Formen der Unterdrückung hervorheben und einen marxistischen Rassismusbegriff entwickeln wollen. Sie reagieren auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse im deutschsprachigen Kontext – von bürgerlichen bis radikal aktivistischen Zusammenhängen sowie der Wissenschaft –, die einen liberalistischen Zugang zu Antirassismus verfolgen und damit letztlich die Aufrechterhaltung von Ausbeutungsverhältnissen zementieren. Gleichzeitig wollen sie den Blick für Rassismen innerhalb der marxistischen Theoriebildung schärfen.</p> <p>Der Band reagiert, so Christian Frings im Gast-Vorwort, auf einen Status quo der, seit Margaret Thatchers Diktum "There is no alternative", vom Gefühl der Ausweglosigkeit aus kapitalistischen Verhältnissen gekennzeichnet ist und einen sukzessiven Rückgang klassenkämpferischer Politikverständnisse verzeichnet (S. 7). So richten sich die Autor*innen entschieden gegen einen Antirassismus im Sinne einer Verwertungslogik, der insbesondere in Diversitätsprogrammen zum Ausdruck kommt. Entsprechend ist der Buchtitel als pointierte Umdeutung zu verstehen, nach der Diversität statt als antirassistische Maßnahme zur Ermächtigung als Ausdifferenzierung der Anforderungen an eine gespaltene Arbeiter*innenklasse enttarnt wird, welche man als "Produkt der unterschiedlichen Ausbeutungsbedingungen, der Diversität der Ausbeutung, begreifen" (S. 34) könne.</p> <p>In der Einführung "Warum Marxismus<em>?</em>" sprechen sich die Herausgeberinnen für eine nicht deterministische Marxrezeption aus und diskutieren kritisch Marx' Vermächtnis für die Rassismusforschung, indem sie seiner Zeit geschuldete Stereotypen und Leerstellen einräumen, jedoch den Nutzen seines theoretischen Instrumentariums für das Verständnis von Rassismus hervorheben. Schließlich verteidigen sie Marxismus, der "im Kern undogmatisch" (S. 187) und in erster Linie als Methode relevant sei gegen den Vorwurf, eine eurozentrische "Ideologie weißer Männer" (S. 22) zu sein und betonen, etwa unter Bezugnahme auf Gilbert Achcar und Vivek Chibber, die reichhaltige Geschichte nicht-westlicher Marx-Rezeptionen (S. 27, S. 117).</p> <p>Während die Beiträge auf einem weiten Spektrum klassischer und neuerer internationaler Werke sowie Studien fußen, versteht sich der Band nicht als Einführung in marxistische Rassismustheorie. Darauf lässt auch das Fehlen einer Gesamtbibliografie schließen. Stattdessen kann es als Debattenbuch bezeichnet werden, das in konkrete gesellschaftliche Diskurse im deutschsprachigen Kontext (wobei die BRD klar im Fokus liegt) intervenieren will. Die Herausgeberinnen platzieren ihre eigenen Beiträge, welche die grundlegende theoretische Ausrichtung vorgeben, als Rahmung an Anfang, Mitte und Ende des Bandes und ergänzen diese durch spezifische Fallstudien weiterer Autor*innen. So schreibt Fabian Georgi unter Zuhilfenahme von Hegemonietheorien zum europäischen Grenzregime und Lea Pilone zeigt in einer historisch fundierten Untersuchung, wie die Etablierung des Polizeisystems mit der kapitalistischen Notwendigkeit zur Disziplinierung von (oft rassifizierten) Arbeitskräften einherging. Celia Bouai untersucht rechtliche Grundlagen und Wirkungsweisen von segmentierten Arbeitsmärkten in der EU und Sebastian Friedrich beschreibt Ursachen für das derzeitige Wiedererstarken rechter Hegemonie in Deutschland.</p> <p>Die Herausgeberinnen verorten sich als Akteurinnen antirassistischer Kämpfe in Berlin – Sarbo ist zudem im Vorstand der "Initiative für Schwarze Menschen Deutschland" aktiv – und geben die Erfahrungen in jenen Praxen und Diskursen als Motivation für das Buchprojekt an, machen ihre Situiertheit jedoch nicht zur Grundlage ihrer Argumentation. Stattdessen benennen sie ein Unbehagen mit Debatten die weitgehend auf identitätspolitischen Kriterien gründen, wodurch Identitäten als zementiert, statt als spezifisch historisch hergeleitet begriffen werden. Weiters positionieren sie sich kritisch zum Konzept der Intersektionalität. Dieses lassen sie zwar als Mittel gelten, "deskriptiv das reale Ineinandergreifen von verschiedenen Unterdrückungsformen" (S. 108) aufzuzeigen, wovon marxistische Forscher*innen viel lernen und eigene Analysen schärfen können, betonen allerdings, dass es wenig zum Verständnis übergeordneter Ausbeutungsverhältnisse beitrage. Gleichzeitig seien Adjektive wie "<em>racial gendered sexual</em>" (kursiv im Original), dem je nach konkreter historischer Ausformung zahlreiche weitere hinzugefügt werden können, im Kapitalismus bereits inhärent enthalten, weshalb auch Konzepte wie <em>racial capitalism</em> reduktionistisch seien.</p> <p>Auch vom Begriff des Klassismus grenzen sie sich ab, da es sich bei Klassenzugehörigkeit nicht um eine Erfahrung handle, sondern ein strukturelles Verhältnis. Statt auf individuellen Erfahrungen oder Identitäten müsse der Fokus einer marxistischen Rassismusanalyse auf den Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen liegen, welche oft jenseits des unmittelbar subjektiven Erlebens wirkmächtig sind. Demnach ist Gesellschaft "bestimmt durch die Art und Weise, wie Menschen sich zueinander ins Verhältnis setzen, um gemeinsam die Produktion und Reproduktion ihres Lebens zu organisieren." (S. 18f) Sarbo definiert Rassismus daher als ein "soziales Verhältnis zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Weise in die Produktion einbezogen und ausgebeutet werden." (S. 58) Nichtsdestotrotz räumen die Herausgeberinnen ein, dass Rasse, wie Stuart Hall und Frantz Fanon zeigten, durchaus auch eine psychologische Kategorie und einen Entfremdungsprozess darstellt (vgl. S. 61f).</p> <p>Um Rassismus in seiner historischen Gewordenheit zu begreifen, sei es wichtig, zwischen den Phänomenen Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung zu unterscheiden. Ausbeutung sei demnach an das Klassenverhältnis gekoppelt, welches die Herausgeberinnen als "grundlegende materielle Struktur unserer Gesellschaft" (S. 119) bezeichnen, ohne sich näher auf die schwierige Frage einzulassen, wer denn nun zur Arbeiter*innenklasse gehöre. Die Antwort wird nur implizit gegeben indem sie die Klassengesellschaft als "die systematische und gewaltsame Trennung der Produzent:innen von ihren Produktionsmitteln" (S. 111) charakterisieren und Lea Pilone ergänzt, dass es zudem des "doppelt freien Lohnarbeiters" (S. 126) bedürfe, der zum Überleben auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft angewiesen sei. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Rassismus (und anderer Unterdrückungsformen) ist die Überausbeutung bestimmter Gruppen, also Ausbeutung zu überdurchschnittlich miserablen Konditionen. Sie beruht auf der Spaltung der Arbeiter*innenklasse und nehme zwar sich historisch wandelnde Formen an, sei aber für das Fortbestehen des Kapitalismus unabdingbar. Unterdrückung stelle die jeweils dominante Herrschaftsform und legt fest, wie Ausbeutung vollzogen wird. Ausbeutung funktioniert auf Grundlage der Verdinglichung konstruierter Unterschiede zwischen Gruppen. Rassismus, ob in seiner biologistischen oder kulturalistischen Ausformung, "setzt die gesellschaftliche Form der Arbeit, verdinglicht über körperliche oder kulturelle Merkmale, mit dem Wesen der Menschen gleich. Die gesellschaftliche Hierarchisierung wird damit zu einer natürlichen gemacht" (S. 57). So werde beispielsweise in der Hautfarbe "ein soziales Verhältnis verdinglicht" (S. 48). Diskriminierung ist dann nichts weiter als der verweigerte Zugang zu einer Form von Ausbeutung, die nicht als Überausbeutung erscheint. Da der Kapitalismus aber stets neue Formen der Überausbeutung produziere, perpetuiere Anti-Diskriminierungspolitik letztlich das systemimmanente Konkurrenzspiel. Während die Subjekte der Rassifizierung sich ändern (vgl. S. 56), bleibe das dem Kapitalismus zugrunde liegende universelle Prinzip der Ausbeutung durch Spaltung bestehen. Daher sei eine "Dialektik von Allgemeinem und Besonderem" (S. 116) notwendig. Rassismus sei nicht die Ursache für ungleiche Ausbeutungsverhältnisse, sondern umgekehrt eine verdinglichte ideologische Rationalisierung oder Legitimation dieser (vgl. S. 47). Dennoch, warnt Sarbo, könne Rassismus eine Eigendynamik entwickeln, denn in "rassistischer Gewalt und letztlich im Genozid gibt es kein funktionales oder rationales Moment." (S. 59) Dabei komme es zu einer Zerstörung der Arbeitskraft die eigentlich nicht im Interesse des Kapitals liege. "Diese Dialektik von Ausbeutung und Vernichtung ist im Wesentlichen kennzeichnend für rassistische Formationen" (S. 60).</p> <p>Die von den Herausgeberinnen vorgeschlagenen Begrifflichkeiten werden nicht durch das Werk hindurch von allen Autor*innen konzise verwendet. So wird ihrer Forderung nach Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung nicht konsequent nachgekommen, was in den Beiträgen von Georgi und Friedrich besonders auffällt, die stattdessen Begriffe wie Herrschaft bzw. Hegemonie verwenden. Insbesondere Friedrichs Ansatz, das Erstarken der Rechten in Europa aus einer Hegemoniekrise des herrschenden Machtblocks abzuleiten (vgl. S. 166f), überzeugt nicht und wirft die Frage auf, ob es sich nicht vielmehr um eine besorgniserregende Anpassung der Herrschenden an rechte Ideologien handelt. Entsprechende Inkonsistenzen in der Gesamtargumentation werden durch die anregende Gegenposition wettgemacht, die der Band liberalen Antirassismen entgegenhält und dabei die Komplexität struktureller Ausbeutungsverhältnisse aufzeigt. Die Autor*innen kommen dabei ohne das Konzept Intersektionalität aus, auch wenn sie das Zusammenwirken verschiedener Unterdrückungsformen an konkreten Fällen analysieren. Dabei zeigen sie, dass diese erst unter dem Gesichtspunkt eines Klassenwiderspruchs in solidarische Ermächtigung umgewandelt werden können. Insbesondere in dem Beitrag von Roldán Mendívil und Hannah Vögele "Soziale Reproduktion, Geschlecht und Rassismus" wird dies deutlich, wenn sie anhand historischer Beispiele zeigen, wie die künstliche Trennung der Reproduktionsarbeit von sonstiger Produktivarbeit ins Private "eine spezifische rassifizierte und binäre Geschlechterordnung festschreibt." (S. 72) Als Weggefährt*innen wünschen sich die Herausgeberinnen Genoss*innen statt <em>Allies</em>. Schließlich beruhe <em>allyship </em>nur aus temporären strategischen Bündnissen, die auf oft deterministisch verstandenen Identitäten beruhen, während Genoss*innenschaft sich aus verschiedenen Positionalitäten heraus auf der Grundlage eines gemeinsamen Anliegens definiere (vgl. S. 20), womit erst der gemeinsame solidarische Kampf möglich und zur situierenden Erfahrung wird.</p> Aylin Basaran Copyright (c) 2023 Aylin Basaran http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-16 Julietta Singh: Kein Archiv wird Dich wiederherstellen. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8281 <p>Wie lässt sich ein Körper-Archiv erstellen? In welcher Form lassen sich (Erinnerungs-)Spuren sammeln und inventarisieren? In ihrem 2018 publizierten und aus dem Englischen übersetzen Buch beschäftigt Julietta Singh das Begehren nach dem eigenen ungeordneten und verfallenden Archiv. Ein Begehren, das eben von der drohenden Zerstörung herrührt. Sie beginnt zu schreiben: über Essen, Sex/ualität, familiäre und queere Beziehungen, über Mutterschaft, Krankheit, körperliche und sprachliche Grenzen.</p> <p>Ein Eindringling im Wohnhaus; er kommt bis zu ihrer Wohnungstür und stiehlt ein Paar Sneaker. Singh beschreibt den Einbruch als auslösendes (greifbares) Moment für ein tiefes Unbehagen (über die Nicht-/Präsenz des Anderen) und starkes Verlangen nach (Selbst-)Wiederherstellung. Am Anfang gilt es, wie in einem vorangestellten Zitat von Antonio Gramsci (1994) steht, ein Inventar zu erstellen: von den Geschichten, die Singh/dich produziert haben.</p> <p>Singh arbeitet als Wissenschaftlerin und (Non-Fiction-)Autorin mit den Schwerpunkten Ökologie, Postcolonial und Queer Studies. Ihr zweites Buch, <em>Kein Archiv, </em>ist sehr persönlich, größtenteils situativ geschrieben und voll mit Freund*innen, queeren Lovern und philosophischen Gefährt*innen. Sie erzählt von ihrer Herkunft, Familie und Studienzeit, von komplizierten (teils überraschenden) Verstrickungen zwischen Essen und Sex, Mutterschaft und Scheiße; zwischen Gender, Sexualität und <em>race</em>. Als kanadisches Kind <em>of Color</em> (eines indischen Vaters und einer irisch-deutsch-jüdischen Mutter) ging sie zum Studieren in die USA. Schon damals war das Archiv von existenzieller Bedeutung, denn es versprach die rettende Lösung aus den prekären (Beschäftigungs-)Verhältnissen der Universität: "Wenn wir nur das richtige Archiv fänden, den richtigen Materialstapel, der sexy genug wäre, um uns zu verkaufen" (S. 16). Statt nach einem "legitimen" Archiv zu suchen (S. 25), wendet sich Singh dem verkörperten zu – ihrem queeren, durch Bulimie, Geburt und neurologischen Schmerz geprägten Körper.</p> <p>Einfach(er) ist es, den Körper als Oberfläche, die äußeren (Ver)Formungen und Verletzungen zu sehen. (Weiblich sozialisierte Personen konzentrieren sich vorrangig auf Makel; vgl. S. 28.) Wenn Singh von "Körper" spricht, schließt sie an feministisch-neumaterialistische Lesarten an, die eine Trennung von Innen/Außen ablehnen, und die Unabgeschlossenheit und umweltliche Verstrickung des Körpers betonen (z. B. Karen Barad, Nancy Tuana). Singh geht tiefer und gibt dem (internalisierten) Drang nach, ihren Körper von seinen Löchern her zu denken. Sie verfasst das Körper-Archiv unter anderem als ein "Archiv der Penetration" (S. 31): in jeden Körper(eingang) sind Affekte, Fremdpartikel und Flüssigkeiten (un/gewollt) eingedrungen und übriggeblieben (archiviert). Und jeder Körper schüttet sich sukzessive aus (vgl. S. 32). Diese wechselseitige Einverleibung fasst Singh mit dem Denkbild des vaginalen Archivs (dem sie im Promotionsprojekt ihrer Studienkollegin C begegnet, und das von dem Widerstand inhaftierter Argentinierinnen, dem Verstecken subversiver Schriften in Vaginalkanälen handelt): " Diese beiden Dinge – Archiv und Vagina – sind in meinen Gedanken vernäht." (S. 24)</p> <p>Sorgfältig sammelt Singh alles, was in ihren Körper hinein- und aus ihm herauskommt. Die sechs Buchkapitel bilden ein fragmentarisches und ebenso kuratiertes Archiv. Jedes enthält kurze Alltagsgeschichten, die mit Versalien beginnen, und zwischen denen ein Leerraum (Whitespace) besteht – zum Ausklingen, Nach- und Weiterdenken. Ich möchte hier zwei Erzählungen, die mich auf irgendeine Weise affiziert haben, nennen: Im Gespräch mit ihrem Partner S bemerkt Singh, dass sie nun direkt über "die Scheiße" schreiben möchte. Diese Thematisierung (und Enttabuisierung) war auch eine Art, über Sex, die Un/Zugänglichkeiten von Körperöffnungen, das Anale und Mütterliche nachzudenken. An Maggie Nelsons (2021) Überlegungen zu Geburt und (Ekel vor) Stuhlgang anknüpfend erklärt Singh, "dass die kulturelle Ablehnung des Analen dem, wie wir denken, ficken, fühlen und lieben, Grenzen setzt." (S. 47f). Sie möchte für ihren Körper und seine Fabrikate – Scheiße und Müll – verantwortlich sein (vgl. S. 50).</p> <p>An späterer Stelle erzählt Sing, die Beschäftigung mit Queer Theory habe in ihr ein queeres sexuelles Begehren bewirkt. Während ihre formale Bildung (und Vertiefung in Kontinentalphilosophie und Postcolonial Studies) keine queeren Texte umfasste, verschlingt sie diese nun wie Smarties ("bekanntlich kann man nach dem ersten nicht einfach aufhören"; S 59). Sex und Essen sind also miteinander verstrickt – bei beiden Aktivitäten dringt etwas in den Körper ein und bewegt sich durch ihn hindurch (vgl. S. 60).</p> <p>Singhs Körper-Archiv liest sich als ein Sound-Archiv: verschiedene Töne, Laute und Schreie (des Schmerzes und Todes, der Geburt und Aufmerksamkeit), die aus dem Körper schallen, die sich in ihn einprägen. Die Verbindung von Archiv und Sound deutet sich schon zu Beginn an, wenn Singh das intellektuelle Begehren nach dem Archiv als ein Klischee abwertet. "Cliché", wie ein älterer Professor erklärte (und zu dem sie in einem klischeehaften Verhältnis stand), sei eine "französische Onomatopoesie" (Lautmalerei), die vom Geräusch einer bestimmten Art des Druckens (Reproduzierens) stammt (S. 20).</p> <p>Singh schreibt nicht fest, <em>was</em> das Archiv ist: "Ich bin eine Person, die schreibt, um zu verstehen, was ich denke; ich schreibe auf, wovon ich noch nicht weiß, wie ich es in Sprache und Gedanken fassen soll." (S. 22) Das Archiv nimmt im Prozess des prosaischen-poetischen-theoretischen Schreibens (eine lose) Form an, und ermöglicht, das Körper-Selbst als Werdendes, Sich-Veränderndes und Vergehendes zu begreifen (vgl. S. 27). Auch wenn Singh/du alles sammelt/sammelst, wird sie das "kaputte Etwas" (S. 13)/wirst du dich – wie der Buchtitel verrät – nicht wiederherstellen.</p> <p><em>Kein Archiv</em> ist weniger eine klassische theoretische Auseinandersetzung mit dem Archivbegriff (Singh erwähnt lediglich Derridas kanonischen Text), als vielmehr eine "endlose Sammlung" eines instabilen, nicht-identischen Selbst (S. 13); von Affekten, Materialien und Körpern, die kollektiv de/konstruiert werden, und in Zusammenhänge von Politik, Macht und Gewalt eingebettet sind. Singh schreibt (theoretisiert und praktiziert) das eigene Körper-Archiv. Oder vielleicht ist es – wie sie mit Erin Mannings (2020) "Anarchiv" schließt – auch gar kein Tun, sondern etwas, das sie im eigenen Werden erfasst (vgl. S. 136). Der "Inhalt" des (Körper-)Archivs entzieht sich dem Blick und wird erst durch seine Medialisierung zugänglich: In Form eines kleinen, vielschichtigen Buches.</p> <p><strong>Quellen:</strong></p> <p>Derrida, Jaques: <em>Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression</em>. Berlin: Brinkmann und Bose 1997.</p> <p>Gramsci, Antonio: <em>Gefängnishäfte</em>. Hamburg: Argument 1994. (Zit. n. Edward Said: <em>Orientalismus. </em>Frankfurt a. M.: Fischer 2008.)</p> <p>Manning, Erin: <em>For a Pragmatics of the Useless. </em>Durham: Duke Univ. Press 2020.</p> <p>Nelson, Maggie: <em>Die Argonauten. </em>Berlin: Hanser 2021.</p> Yvonne Sandell Copyright (c) 2023 Yvonne Sandell http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-17 Christoph Büttner: Postfordistische Fragmente. Filmische Arbeitswelten und Repräsentationen des Sozialen. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8193 <p style="font-weight: 400;">Filme, die Arbeit zum Thema haben, sind selten. Gemessen an der Bedeutung, die Arbeit sowohl in unserem Alltag als auch über das gesamte Leben hinweg einnimmt, ist dies einigermaßen verwunderlich. Berufe spielen eine noch weit geringere Rolle, sieht man von wenigen Ausnahmen wie Kriminalbeamte, Ärzte, Soldaten und Cowboys ab – sowie seit kürzerem auch Kriminalbeamtinnen, Ärztinnen etc. Jedoch bieten sich uns Zuseher*innen selbst in diesen Ausnahmefällen kaum Einblicke in das Berufsleben oder die Rahmenbedingungen dieser Berufe. Essenzielle, die Erwerbstätigkeit bestimmende, Faktoren, wie etwa Arbeitszeiten, Einkommen oder potenzielle Karriereschritte, bleiben meist außen vor. Kurz: man kann noch so viele Stunden mit Kriminalfilmen oder Ärzteserien zubringen, aus ein paar Zeilen eines Berufslexikons erfährt man mehr über den jeweiligen Beruf.</p> <p style="font-weight: 400;">Warum wird Arbeit so selten Gegenstand von Filmen? Eine naheliegende These ist, dass Arbeitende sich nach der Arbeit nicht wieder mit Arbeit beschäftigen wollen, sondern schlicht Abwechslung suchen. Man könnte dies als die Nachfrage- oder Konsumationsthese bezeichnen, eine These, die sozialwissenschaftlich einigermaßen gut belegt ist (Kohli, Dippelhofer-Stiem &amp; Pommerehne 1976, S. 364). Eine andere These setzt beim Angebot bzw. der Produktion von Filmen an. Sie besagt im Wesentlichen: Durch die Tertiärisierung des Arbeitsmarktes ist Arbeit an sich filmisch immer uninteressanter geworden. Durch den Rückgang von Industriearbeit und landwirtschaftlicher Arbeit verschwinden zum einen "anschauliche" Motive, zum anderen aber auch Identifikationsmöglichkeiten, da immer weniger Zuseher*innen in diesen Sektoren beschäftigt sind. Wenn Charlie Chaplin in <em>Modern Times</em> (US 1936) so grandios veranschaulicht, was es bedeutet, als einfacher Arbeiter in die Räder der Maschine zu kommen, schafft er so ein Sinnbild des Fordismus zu einer Zeit, als tatsächlich noch Massen von Fabriksarbeiter*innen die Kinos aufsuchten und ihre Betroffenheit teilen konnten.</p> <p style="font-weight: 400;">Im Postfordismus wurden die Massen der Handarbeiter*innen von den Heerscharen der Wissensarbeiter*innen abgelöst. Leider filmisch frustrierend, lautet eine gängige Beobachtung, denn das Bedienen eines Computers und die Abhaltung einer (Online-)Besprechung in nüchternen Büroräumen liefere ästhetisch reichlich dürftiges Filmmaterial. Da postfordistische Arbeit im Kern unsichtbar wäre, würde die Arbeit zunehmend aus dem Film verschwinden. Dies ist die Ausgangsthese, bei der Christoph Büttners Buch <em>Postfordistische Fragmente. Filmische Arbeitswelten und Repräsentationen des Sozialen</em> ansetzt und mit der er auf 350 Seiten gründlich aufräumt: Weder verschwindet die Arbeit, noch ihr filmisches Pendant. Arbeitsformen und damit einhergehende Formen der Entgrenzung und Entfremdung sind schlicht vielschichtiger geworden und auch der filmische Diskurs dazu.</p> <p style="font-weight: 400;">Er bedient sich hierzu eines Korpus deutschsprachiger Spielfilme und künstlerischer Dokumentarfilme von etwa 1995 bis 2016 sowie einer ausführlichen theoretischen Exploration des Verhältnisses von Film und postfordistischer Arbeit. Zu den bekannteren Filmen, die Büttner im Detail interpretiert, zählen im Dokumentarbereich <em>Work </em><em>Hard Play Hard</em> (DE 2012, Carmen Losmann) und im Bereich Spielfilm <em>Toni Erdmann</em> (DE/AT 2016, Maren Ade). Daneben widmet er auch dem jüngeren Œuvre von Harun Farocki, dessen Interesse zeitlebens der filmischen Analyse der gesellschaftlichen Rolle und Transformation von Arbeit galt, große Aufmerksamkeit.</p> <p style="font-weight: 400;">Das Buch gliedert sich in drei Teile, wobei der erste und umfangreichste Teil der Klärung des Begriffs Postfordismus sowie der theoretischen Fundierung der Repräsentation des Sozialen gewidmet ist. Der zweite und kürzeste Teil beschäftigt sich mit filmischen Verfahren der Repräsentation und führt aus, wie etwa durch die filmischen Inszenierungen von Raum oder Sprache Entgrenzungen postfordistischer Arbeit nachgezeichnet werden. So zeigt Büttner am Beispiel von <em>Zeit der Kannibalen</em> (DE 2014, Johannes Naber) wie sich die globalisierte Welt der Unternehmensberater*innen in immergleichen Hotelzimmern von der "Außenwelt" abschottet; und am Beispiel von <em>Ein neues Produkt</em> (DE 2012, Harun Farocki), wie Filme Kritik an der Leere und Formelhaftigkeit von Wirtschaftssprache üben. Ganz grundsätzlich konstatiert Büttner, dass in den von ihm untersuchten Filmen fast durchgängig geredet wird (S. 149). Konsequenterweise wird im dritten Teil des Buches, der Sujets postfordistischer Arbeit nachspürt, die filmische "Besprechung" ausführlich behandelt.</p> <p style="font-weight: 400;">Die "meetingization of society" ist zweifelsohne ein herausstechendes Merkmal postfordistischer Arbeit und die "Besprechung" zieht sich folglich etwa auch als roter Faden durch das jüngere Werk von Farocki, wie Büttner herausarbeitet. Als weiteres Beispiel filmischer Sprachkritik dient ihm Stefan Landorfs Dokumentarfilm <em>Besprechung </em>(DE 2009) – der Titel ist Programm. Das zweite große Thema des dritten Buchabschnitts bildet die Ökonomisierung des Sozialen, die Büttner in der räumlichen, zeitlichen und persönlichen Entgrenzung von Arbeit verortet. Es gibt wohl kaum einen Spielfilm, der das Thema Entgrenzung in seiner ganzen Fülle besser ausbreitet als <em>Toni Erdmann </em>von Maren Ade und damit gleichzeitig zu einer ganz eigenen Komik findet. Bei der Art und Weise, wie Winfried (Peter Simonischek), verkleidet mit Anzug, Langhaarperücke und falschen Zähnen, als sein Alter Ego Toni Erdmann das Arbeitsmilieu seiner Tochter Ines (Sandra Hüller) aufmischt, bleibt einem häufig das Lachen im Hals stecken. Der Film thematisiert Entgrenzungen der Arbeitswelt, bildet aber selbst ein Beispiel für Entgrenzung, insofern er verschiedene Kategorien wie Milieustudie, Sozialdrama und Satire verbindet und gleichermaßen sprengt. Mag das Feuilleton die Gesellschaftskritik und affektive Wirkung des Films eingehend herausgestrichen haben, so lässt sich bei Büttner im Detail nachlesen, wie sich darin eine Analyse der repräsentierten Arbeitswelt mit einer Analyse filmischer Verfahren verbinden lässt.</p> <p style="font-weight: 400;">Dass es hierzu einer ausgefeilten theoretischen Brille bedarf, steht außer Frage. Ob diese jedoch in der Komplexität, Tiefe und Ausführlichkeit, die Büttner anbietet, notwendig ist, sei dahingestellt. Die Theoriekapitel sind anspruchsvoll, zumal sie Filmwissenschaft, Soziologie und Ökonomie zu verbinden suchen und in diesem Anspruch selbst fragmentarisch bleiben müssen. Als nicht im engeren Sinne filmwissenschaftlich "fachkundiger" Leser fand ich Büttners Buch streckenweise schwer zu lesen, da er zum Nominalstil neigt, sowie unterschiedliche Fachsprachen zusammenführt und in Ansätzen seine eigene entwickelt. Eine Art Zusammenfassung des ersten, theoretischen Teiles liest sich beispielsweise so: "Vorerst lässt sich für filmische Repräsentationen des Sozialen in vereinfachter Weise [sic!] jedoch festhalten: dass sie sich häufig der hypoikonischen Signifikation (vom Film solchermaßen postulierter) indexikalischer und symbolischer Verweise auf ein diegetisches Soziales bedienen; dass dieses diegetische Soziale zudem als homolog zu oder identisch mit einer außerfilmischen sozialen Wirklichkeit gelesen werden kann; sowie dass jene hypoikonischen Zeichen mit filmischen Verfahren im Verbund stehen, die […] eigene symbolische Ausdrucksweisen für ein diegetisches und außerdiegetisches Soziales ostendieren können." (S. 75)</p> <p style="font-weight: 400;">Auf die filmwissenschaftliche Terminologie muss man sich einlassen, an den Stil gewöhnt man sich, und die erhöhte Aufmerksamkeit, die mir seine Ausdrucksform abverlangte, war letztlich dem Inhaltlichen nur förderlich. Begibt man sich einmal in die Begriffs- und Argumentationswelt von Büttner, bleibt man in ihr gefangen. Als ein an der Sache interessierter Leser konnte ich letztlich auch nicht umhin, den Lesefluss immer wieder zugunsten der ausführlichen Fußnoten, die auch den Ansprüchen von David Foster Wallace genügen würden, zu unterbrechen. Aber auch dafür wird man belohnt. So viele für unterschiedliche Zwecke brauchbare Literatur- und Filmverweise sind mir bei einer Fachlektüre lange nicht mehr untergekommen.</p> <p style="font-weight: 400;">Büttners komplexe Argumentation ist der Aufgabe angemessen, nämlich den akademischen Diskurs zum Postfordismus, seine filmische Entsprechung sowie den gesamtgesellschaftlichen Diskurs gemeinsam zu analysieren. Weniger hilfreich aus meiner Sicht ist dabei sein Befund, dass es sich um jeweils fragmentierte Diskurse handelt und daher auch die Analyse fragmentiert bleiben müsse. Gerade aufgrund der Größe und Vielfältigkeit des Gegenstands wäre ein Weniger an Details und ein Mehr an Zusammenhang, Struktur und Kontur sowie ein Herausarbeiten der unterschiedlichen theoretischen Positionen geboten. So findet man zwar viele zweckdienliche Hinweise zum Postfordismus, aber eine Arbeitsdefinition des Begriffs sucht man vergeblich. Büttner analysiert ausgewählte Bruchstücke der Theorien (und der Filme) im Detail, er lässt uns aber im Unklaren, zu welchem größeren Ganzen sich diese zusammensetzen lassen. Vergleichbar mit einem Archäologen, der uns die Skizze der Amphore vorenthält, deren Scherben er uns beschreibt. Ein Einleitungskapitel, das relevante historische Brüche in Wirtschafts- und Filmgeschichte gleichermaßen in den Blick nimmt, hätte diesbezüglich vielleicht Abhilfe schaffen können.</p> <p style="font-weight: 400;">Büttners Beschränkung auf Filme aus Deutschland ab dem Jahr 1995 ist für den Zweck einer Dissertation verständlich. Leider entgehen ihm damit aber auch Beispiele, die eine unmittelbare Verschränkung von Filmproduktion und Postfordismus illustrieren. So schrieb etwa der Medienkünstler Matthias Kispert in seinem bemerkenswerten Projekt <em>Workers</em> <em>leaving the cloud factory</em> (UK 2017) über <em>Amazon Mechanical Turk</em> Mikrojobs zu je einem Dollar aus, für die Arbeiter*innen, in Anspielung auf Lumières <em>La Sortie de l'Usine Lumière à Lyon</em> (FR 1895), sich beim Verlassen ihres Arbeitsplatzes filmen sollen. Die Nachteile des eingeschränkten Filmkorpus sind Büttner aber offensichtlich bewusst, denn an manchen Stellen bewegt er sich selbst aus dem eigenen Korsett, etwa wenn er <em>Workers Leaving the Googleplex </em>(US 2011, Andrew Norman Wilson) bespricht. An diesen Stellen wünscht man sich eine Erweiterung bzw. Fortsetzung des Bandes, in der auch jüngere, explizit den Postfordismus thematisierende Filme erörtert würden, wie etwa der Dokumentarfilm <em>The Gig Is Up</em> (US 2021, Shannon Walsh). Gerne würde ich Büttners analytische Virtuosität auch an der derzeit wohl interessantesten Filmparabel zur modernen Arbeitswelt erleben dürfen, nämlich Stéphane Brizés "Trilogie der Arbeit" (<em>La Loi du marché</em>, FR 2015; <em>En guerre</em>, FR 2018; <em>Un autre monde</em>, FR 2021).</p> <p style="font-weight: 400;">Trotz der beschriebenen Abstriche ist Christoph Büttners Buch <em>Postfordistische Fragmente</em> die seit Jahren mit Abstand profundeste deutschsprachige Monographie zum Thema "Arbeit im Film" und wird dies, berücksichtigt man den ungeheuren Aufwand, den Büttner offensichtlich in dieses Werk steckte, vermutlich auch noch lange bleiben. Nachdem dieses Thema jahrzehntelang weitgehend vernachlässigte wurde, gibt Büttners Buch gemeinsam mit rezenten englischsprachigen Veröffentlichungen (siehe etwa Zaniello 2020 oder Sticchi 2021) Hoffnung, dass dem Thema künftig mehr Aufmerksamkeit zukommt. Der gesellschaftliche Bedarf dafür ist jedenfalls gegeben.</p> <p style="font-weight: 400;"><strong>Quellen:</strong></p> <p style="font-weight: 400;">Kohli, Martin/Dippelhofer-Stiem, Barbara/Pommerehne, Barbara: "Arbeiter sehen 'Arbeiterfilme'". In: <em>Leviathan</em> 4/3, 1976, S. 328–367.</p> <p style="font-weight: 400;">Sticchi, Francesco: <em>Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/Extinction</em>. Cham: Palgrave Macmillan 2021.</p> <p style="font-weight: 400;">Zaniello, Tom: <em>The cinema of the precariat: The exploited, underemployed, and temp workers of the world</em>. New York: Bloomsbury Publishing 2020.</p> Jörg Markowitsch Copyright (c) 2023 Jörg Markowitsch http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-05 Daisy Yan Du: Chinese Animation and Socialism. From Animators' Perspectives. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7432 <p style="font-weight: 400;">"[...] we were required to criticize feudalism, capitalism, revisionism, kittens, puppies, and Disney [...]" (S. 239). So charakterisiert der Drehbuchautor Fung Yuk Song die Direktive an das Shanghai Animation Film Studio zu Zeiten der Kulturrevolution und bringt damit eine Marschrichtung auf den Punkt, der in der Geschichte des chinesischen Animationsfilms nicht immer gefolgt wurde. Davon zeugt <em>Chinese Animation and Socialism. From Animators' Perspectives</em>, herausgegeben von der Animationsfilmforscherin Daisy Yan Du. Der Band basiert auf einer Konferenz, die im April 2017 an der Hong Kong University of Science and Technology (HKUST) stattgefunden hat. Anlass für diese Konferenz war der 60. Geburtstag des Shanghai Animation Film Studio (SAFS), seines Zeichens die prägendste Trickfilmstätte des Landes, deren ehemalige Mitarbeiter*innen – und das ist das wirklich Besondere an Dus Buch – hier zu Wort kommen. Sie lassen ihre Erinnerungen Revue passieren und die Zusammenschau der Beiträge gibt so ein recht umfassendes Bild der Entwicklung des Animationsfilms in China, der, Jahrzehnte bevor Japan die Königsposition in dieser Filmgattung für sich beanspruchen konnte, Pionier*innenarbeit leistet.</p> <p style="font-weight: 400;">Die verschriftlichten Vorträge liegen in englischer Übersetzung vor, Du hat sie zu sieben großen Kapiteln zusammengeschlossen, die sich mit folgenden Aspekten des Animationsfilms in China auseinandersetzen: die Hochzeit der sozialistischen Animation; der Übergang zur postsozialistischen Ära; Sound im chinesischen Animationsfilm; Drehbuch. Kapitel 5 widmet sich ausgewählten Animationskünstler*innen (in der Diktion des Buchs jenen, "die nicht vergessen werden sollen"), ein weiteres Kapitel beleuchtet den Zusammenhang zwischen Politik und Animationsfilm, und zum Abschluss wird noch ein Blick auf den Einfluss geworfen, den der chinesische auf den japanischen Animationsfilm hatte. Daisy Yan Du legt damit nach eigener Aussage das erste englischsprachige Buch vor, in dem nicht nur Filmwissenschaftler*innen über die Materie schreiben, sondern die Protagonist*innen des goldenen Zeitalters der chinesischen Animation selbst über ihre Arbeit sprechen. Einige von ihnen waren über Jahrzehnte hinweg Kolleg*innen, sie haben als Regisseur*innen, Drehbuchautoren, Kameramänner*frauen, in der Produktion, als Voice Artists und Komponisten gearbeitet. Viele Beiträge im Buch sind anekdotisch angelegt, es gibt sich überschneidende Eindrücke, und einige Wortmeldungen, die – meist in dezenten Zwischentönen, seltener explizit – nicht nur ein Loblied auf die politische Atmosphäre anstimmen, in der die Kreativität teils rigorosen Vorstellungen der Machthabenden untergeordnet war. Dass eine kollektivistische Arbeitsweise nicht nur das ideologische Plansoll erfüllt, sondern auch prädestiniert ist, Kritik in die Filme einzubauen, versteht sich dabei von selbst. Und dass es – bereits vor Mao – hieß, Animationsfilm ist Kinderfilm, war ein weiterer Umstand, der einer zurückhaltenden Unterwanderung Tür und Tor öffnete.</p> <p style="font-weight: 400;">Eine weitere wichtige Dimension, die Dus Konferenzband zutage fördert, ist der wesentliche Beitrag von Frauen zur chinesischen Animationsfilmgeschichte, allen voran Chen Bo'er, Schauspielerin und Regisseurin, die mit <em>The Dream to be an Emperor</em> (<em>皇帝梦</em>, 1947) einen bissigen Puppentrickfilm vorlegt, der sich über die Kuomintang lustig macht.<sup>1</sup> Damals war die Animationsfilmproduktion noch nicht zentralisiert, erst in den 1950er Jahren entsteht durch die Zusammenlegung mehrerer Filmdivisionen das SAFS. Der historische Abriss, mit dem die Herausgeberin das Buch einleitet, bildet eine wichtige Grundlage, sich in der politischen Geschichte Chinas zu orientieren und erweckt so in der Leserin gleichzeitig die produktive Ahnung, dass eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Materie ansteht.</p> <p style="font-weight: 400;">Was aus den Beiträgen der Filmemacher*innen sehr klar hervorgeht, ist der ideologische Nachdruck, unter dem die Animation als Kulturdisziplin identitätsstiftend für China wirken sollte. Die Entwicklung eines nationalen Stils und – später zu Zeiten der Kulturrevolution – dem sozialistischen Regime gefälliger Propaganda standen in der Liste der zu erreichenden Ziele ganz oben. Diesen nationalen Stil beschreiben die Beiträger*innen als eine Ästhetik, die folkloristisch geprägt und vordergründig apolitisch wirken sollte. Keinesfalls durfte der Westen Einfluss nehmen auf die Herausbildung dieses unverkennbaren Stils. Dass sich die Vertreter*innen des Regimes noch so wünschen konnten, ihre Vorstellungen zur vollsten Zufriedenheit umgesetzt zu wissen, ohne die Arbeit der Ausführenden ganz bestimmen zu können, belegt zum Beispiel der Aufsatz des Filmkomponisten Jin Fuzai. Seit 1967 beim SAFS engagiert, berichtet er, wie sehr ihn die Scores der Disney-Filme inspiriert haben. Jin komponiert auch die Musik zu A Das und Lin Wenxiaos <em>One Night at the Art Studio</em> (<em>画廊一夜</em>, 1978), einem Film, der die gewalttätige Vorgangsweise der Gang of Four gegen progressive Kunst in China satirisch aufarbeitet.</p> <p style="font-weight: 400;">Manchmal geben die Filmarbeiter*innen auch rührend Auskunft über ihr Scheitern. So zum Beispiel der Drehbuchautor Ling Shu, der im Winter 1975 damit beauftragt wurde, das Drehbuch für ein Remake von <em>Heroic Little Sisters of Grassland </em>(<em>草原英雄小姐妹</em>, 1964, unter der Regie von Cheng Tang und Yunda Quian) zu verfassen. Tang und Quian sollten auch diesmal Regie führen, also zogen sie gemeinsam mit Ling in die mongolische Steppe, um sich mit dem Leben der Menschen dort vertraut zu machen. Ling hütete Schafe und fror, doch setzte ihm die Kälte nicht am meisten zu. Vielmehr schildert er mit Nachdruck die Verzweiflung über den Auftrag, eine Geschichte zu adaptieren, in der zwei kleinen Mädchen im Zuge des Klassenkampfs die Gliedmaßen abfrieren. Sein Drehbuch blieb unvollendet.</p> <p style="font-weight: 400;">Das Bemerkenswerte an dem vorliegenden, von Daisy Du herausgegebenen Buch, ist der sich mit jedem Beitrag verdichtende Eindruck einer Zeit in China, in der eine Gruppe von Filmarbeiter*innen mit Lust und Schaffensdrang diverse Stadien politischer Entwicklungen an sich vorüberziehen lässt, um unter Berufung auf ein Körnchen Eigensinn ihrer Arbeit nachzugehen – allen Repressalien zum Trotz. Entsprechend wichtig ist auch der Hinweis von Du gleich zu Beginn ihrer Einleitung, dass die Dämonisierung Chinas im Westen nicht allein mit China zu tun hat, sondern mit einer orientalistischen Projektion des Anderen. Nicht jeder chinesische Film war und ist propagandistisch.</p> <p style="font-weight: 400;"><strong>Anmerkungen:</strong></p> <p><sup>1</sup> Zur weiterführenden Lektüre wärmstens empfohlen: Zheng, Wang: <em>Finding women in the state. A socialist feminist revolution in the People's Republic of China, 1949 – 1964</em>. Oakland: University of California Press 2017.</p> Melanie Letschnig Copyright (c) 2023 Melanie Letschnig http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-06 Karola Gramann/Ute Holl/Heide Schlüpmann (Hg.): Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8081 <p>Nach der Lektüre des Bandes <em>Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel,</em> herausgeben von Karola Gramann, Ute Holl und Heide Schlüpmann wünscht man sich, die 2002 verstorbene selbstbezeichnete "Filmkritikerin und Übersetzerin" Frieda Grafe lebte noch und schriebe etwas zu aktuellen Luxushotels. Denn die haben wieder Konjunktur, vor allem in Serien. Allerdings kommt der Luxus der 2020er nicht mehr in der Architektur des Grandhotels daher. Die "leicht verblödeten feinen Leute", die keine "Klasse", sondern "ästhetische Produkte" (S. 65) repräsentieren, wie Grafe in ihrem, dem schmalen Band nachgestellten, Essay "Die saubere Architektur in Gefahr. Die Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie" schreibt, wellnessen heutzutage eher in abgelegenen Luxusressorts als in großstädtischen Prachtbauten. Das hat den Nachteil, dass man nicht einfach zur Drehtür hineinstolpern kann, in das Leben der Reichen.</p> <p>Die Drehtür und das Stolpern leiten denn auch Grafes Essay an, der 1990 für einen Sammelband geschrieben aber darin nicht veröffentlicht wurde. In seiner vollständigen Läge wurde er erst in <em>Frieda Grafe: Film/Geschichte. Wie Film Geschichte anders schreibt</em> abgedruckt, herausgegeben 2004 von Grafes Witwer Enno Patalas, und eben in dem vorliegenden Band. Vollständig bedeutet: inklusive dem "Filmhistorischen Hotelführer", in dem Grafe ihrem Umkreisen des Grandhotel-Kino-Topos kurze Filmtexte nachschickt: etwa zu Friedrich Wilhelm Murnaus <em>Der letzte Mann</em> (DE 1924), Jean-Luc Godards <em>Détective</em> (FR 1985), Marguerite Duras <em>India Song </em>(FR 1975), Stanley Kubricks <em>The Shining</em> (US/UK 1980) oder auch Ernst Lubitschs <em>Monte Carlo</em> (US 1930). Lubitschs Screwball-Komödien fällt der Bärenanteil in Grafes Essay zu, denn "Lubitsch nimmt das dem Grandhotel innewohnende imaginäre Element so ernst, dass es bei ihm zum Emblem der Leichtsinnigkeit des Kinos wird" (S. 62). Und diese Leichtsinnigkeit, die "ungenierte Unterhaltung" (ebd.) ist das, was Grafe beschäftigt.</p> <p>Dass diese interessierte Vorliebe konträr zum Trend ihrer Zeit stand, weiß Ko-Herausgeberin Heide Schlüpmann in ihrem Text "Der Luxus ungenierter Unterhaltung. Grafe, Veblen und Adorno" zu veranschaulichen. Sie nimmt sich die theoretischen Referenzen vor, die Grafe immer nur streift, und schafft es dazu noch, Grafe als Filmkritikerin und Intellektuelle zu verorten, bei der der Film immer an erster Stelle stand: "Ihre Texte zeigen das: Belesenheit in Literatur und Theorie kommt darin nur zur Sprache, um die Filme und ihre Wahrnehmung ins Bewusstsein zu heben. Nicht, um das Kino aufzuwerten, sondern um Theorie auf die Ebene sinnlicher Wahrnehmung zurückzuholen." (S. 48). Damit könnte Grafe eigentlich eine Kracauer-Verwandte gewesen sein, doch: "mit Kracauer fing Grafe allerdings wenig an" (S. 49). Ebenso wenig konnte sie indes der an Adornos und Horkheimers "Kulturindustrie"-Theorem geschulten Ideologiekritik entnehmen. Stattdessen opponiert Grafe, wie Schlüpmann schreibt, dem "‘barbarischen Charakter der Kultur‘" und stellt sich auf die Seite der "'ungenierte[n] Unterhaltung' im Kino" (ebd.).</p> <p>Schlüpmanns Text ist der zwölfte einer Reihe von Auseinandersetzungen mit Grafes "Grandhotel-Essay" in dem vorliegenden Band. Dass fast jeder der kurzen Texte mit einem Zitat Grafes beginnt, ist nicht verwunderlich angesichts ihres prägnanten Stils, den Rike Felka in "Learning from the Grandhotel: Zur Schreibweise Frieda Grafes" selbst sprachlich prägnant scharfstellt. Grafes Ausführungen nähmen immer wieder neu Anlauf, sie seien der Dekonstruktion von Erzählung verpflichtet und stellten komplexe Fragen. Felka erkennt außerdem: "Grafe entnimmt ihre Darstellungstechniken in vielen Fällen dem Film selbst. Sie hat sich das Subversive vom Kino abgeschaut. Pointierung, bis zu kleinen Perle eingekocht, wird gegen Monumentalität gesetzt, Aporetisches auf engstem Raum gegen Grandiosität ausgespielt, der kurze Absatz plus immanenter Umkehr der Geschichte gegen zeitlose Dauer" (S. 19f). Die Spezialität der Filmkritikerin sei zudem an den kurzen <em>Filmtipps </em>geschult gewesen, die sie in den 1970er und 1980er Jahren für die <em>Süddeutsche Zeitung</em> verfasste. Es seien "Sätze, die durch monadische Komprimiertheit im Gedächtnis haften. Sie sind zeichentheoretisch fundiert und deshalb zeitlos. Und sie verführen zum Kinobesuch" (S. 20).</p> <p>Ebendie Rolle der besonderen Filmkritikerin, d. h. einer freiberuflichen, einer (doppeldeutig) "ausgehaltene[n] Frau" (S. 13), wie Grafe selbst scherzte, betrachten die eröffnenden Beiträge von Verena Lueken und Annett Busch näher. Darin geht es, wie auch in der Einleitung der Herausgeberinnen, sowie im Briefwechsel zwischen Grafe und Ko-Herausgeberin Karola Gramann am Ende des Bandes, auch um Grafe als Köchin. In ihrer Küche braute sie erlesene Texte wie Speisen. Diese Konvergenz der Köchin und Schreiberin zieht sich, veranschaulicht durch Fotografien Grafes in ihrer Küche und eines ominösen Küchengerätes, eines "diffuseur grille pain" (S. 57f), durch den Band und regt die weitere Auseinandersetzung mit der Verschränkung von Küche und Kritik an.</p> <p>Andere Beitragende nehmen von der fesselnden Privatperson "Frieda" (wie sie laut Lueken von ihren rein männlichen Verehrern der "Münchner Schule" genannt wurde) (vgl. S. 9) Abstand und begeben sich wieder ins Grandhotel: Etwa Elisabeth Bronfen, die Hotels in Mitchell Leisens Filmen <em>Easy Living</em> (US 1937) und <em>Midnight</em> (US 1939) als Orte der Transformation betrachtet. In der Cinderella-gleichen Verwandlungskunst der Hauptfiguren, die ihre neue Rolle pragmatisch als vorübergehend wahrnehmen, sieht Bronfen unseren Pakt mit dem Kino, nämlich, "dass wir uns willentlich einem Imaginären hinzugeben bereit sind, von dem wir wissen, dass es nur vorübergehend seinen realen Status auf der Leinwand verliehen bekommen hat. Wie die Heldinnen des Grandhotel verlassen auch wir den Kinosaal, nachdem die Lichter wieder angegangen sind." (S. 16)</p> <p>Die Queerness, die dem Transformationsmoment inhärent ist, arbeitet Ute Holl leichtfüßig anhand ihrer Analyse der Laurel &amp; Hardy Komödie <em>Double Whoopee</em> (US 1929) heraus. Grandhotels seien ein "Versprechen auf gestundete Identität, Vermischung und Durchlässigkeit". Dabei weiß sie, dass Grafe selbst "Querverweise auf Geschlechterdifferenz, deren Binarität <em>Double Whoopee</em> in ein glitschiges Ölbad von Verquerungen taucht", kaum adressiere, aber immer mitführe. "Die Historikerin Grafe weiß, dass Identität, auch die von Klasse und Geschlecht, immer nur das ist, was ein Medium so festhält, als Büro- oder Architektur- oder Kostümdispositiv" (S. 26).</p> <p>Bei so viel historischem Einblick über die heutzutage vieldiskutierten und umkämpften Identitätspolitiken wäre es, um wieder an den Ausgangspunkt der Rezension zurückzukommen, doch interessant, Grafe auf aktuelle Identitätsdiskurse loszulassen. Würde sie diese als lästiges Moralisieren abschütteln, oder vielleicht als kämpferisches Spiel um Repräsentation sehen, dessen Idee sie im Grandhotel zu erkennen vermeinte. Und würde sie, angesichts der realen vernichtenden Bilanz um soziale Mobilität, die sich auch in den abgeschotteten Luxusressorts heutiger Serien und Filme wie <em>The White Lotus</em> (Staffel 1; US 2021), <em>Triangle of Sadness </em>(SE/DE/FR/UK 2022) oder <em>Nine Perfect Strangers</em> (US 2021–) zeigen, ihre beizeiten treu dem<em> american dream </em>verschriebene Sicht eines "Grandhotel als Melting Pot und Meeting point", das "zum Inbegriff der beweglichen amerikanischen Gesellschaft [wird], in der Klassenbarrieren dynamisch mit Aufzügen, die bei Disney 'people movers' heißen, bewältigt werden" (S.65), einer weiteren Prüfung unterziehen?</p> <p> </p> <p>Über zeitgemäße Fragen wie diese wird zwar in keinem der Beiträge von <em>Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel</em> spekuliert, aber das trübt kaum die Freude an der Lektüre des inspirierenden, zwischen essayistischen, privaten und analytischen Zugängen schweifenden Bandes, dessen Idee, einen Text der bekannten Filmkritikerin zum Ausgangspunkt für weitere Perspektiven auf die Topoi Grandhotel/Kino und das kritische Erbe Grafes zu nehmen, mehr als aufgeht.</p> Valerie Dirk Copyright (c) 2023 Valerie Dirk http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-07 Bettina Henzler: Filmische Kindheitsfiguren. Bewegung – Fremdheit – Spiel. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8261 <p style="font-weight: 400;">In ihrer umfangreichen und theoretisch sowie analytisch sehr vielschichtigen Studie <em>Filmische Kindheitsfiguren. Bewegung – Fremdheit – Spiel</em> befasst sich Bettina Henzler mit der filmästhetischen Darstellung von Kindern und Kindheit. Ihre Monografie steht dabei in einer Tradition von internationalen Einzelstudien, welche explizit die Figur des Kindes ins Zentrum film- und medientheoretischer Betrachtungen stellen (vgl. etwa Lebeau 2008, Lury 2010, Stewen 2011). Um definitorische Missverständnisse zu vermeiden, stellt Henzler zu Beginn ihrer Ausführungen klar, dass nicht etwa "<em>Kinderfilme</em>, Filme für ein Kinderpublikum […], sondern <em>Kindheitsfilme</em>, in denen sich Filmschaffende mit Kindern und Kindheit auseinandersetzen" (S. 9), den Forschungsschwerpunkt ihrer Arbeit ausmachen. Gerade aufgrund der diesbezüglich oftmals schwammig vorgenommenen Abgrenzungen in früheren filmwissenschaftlichen Publikationen, die wiederum in neueren Studien häufig gewinnbringend thematisiert sowie etwa auch vom Metagenre des Familienfilms abgegrenzt werden (vgl. Brown 2017), erscheint eine solche akademische Betonung von Alleinstellungsmerkmalen des Kindheitsfilms eminent wichtig; insbesondere als theoretisch-methodische Distinktion einer entsprechenden filmischen Kindheitsforschung gegenüber Überlegungen aus der Kinderfilm- und -medienforschung.</p> <p style="font-weight: 400;">Des Weiteren fokussiert Henzler ihren Analysegegenstand auf das französische Kino. Dabei behandelt sie ein umfangreiches Spektrum von Kindheitsfilmen, welche seit Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, um filmhistorisch-revisionistisch auch Filme in den Fokus zu rücken, die "in der Filmgeschichtsschreibung bisher zu Unrecht übergangen" (S. 18) worden sind. Ausgangspunkt bilden Überlegungen zum Nachkriegskino der Moderne als Kristallisationspunkt für die zu behandelnden Formen filmischer Kindheitsdarstellungen. Henzler argumentiert dabei symptomatisch, dass im modernen französischen Kino drei wichtige mit Kindheit assoziierte und den Kindheitsfilm daraufhin bestimmende Konstanten für dessen Popularität verantwortlich sind: die Bedeutung der Schule als bevorzugter Ort gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen; der autobiografische Bezug zur eigenen Kindheit als Quelle erster Kinoerfahrungen und damit Ursprungsort der Cinephile vieler Filmschaffender – bereits in einem Film wie <em>Zéro de Conduite</em> (FR 1933) und später etwa prominent in den Werken François Truffauts oder Louis Malles <em>Zazie dans le Métro </em>(FR 1960) vertreten –; sowie das Interesse für das Alltägliche (und damit auch die Alltäglichkeit des Kindes) im französischen Autorenfilm (vgl. S. 18f).</p> <p style="font-weight: 400;">Henzler wählt einen diachronen Zugang, indem sie sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme nicht chronologisch, sondern anhand bestimmter "Kindheitsfiguren" miteinander in Beziehung setzt und dabei Produktions-, Rezeptions- und Artefaktebene berücksichtigt. Anders als etwa Motive, die eine primär semantische Aussagekraft besitzen, erscheinen Figuren als komplexe "filmische Erfahrungs-, Ausdrucks,- und Reflexionsformen [und] als strukturelle und formgebende Einheiten, die in ihrer sinnlich-affektiven Wirkung erst bedeutsam werden" (S. 21f) und damit eine phänomenologische Herangehensweise ermöglichen. Kindheitsfiguren implizieren eine doppelte Perspektivierung, "richten sich auf das filmische Wissen von der Kindheit, aber auch auf die medialen Eigenschaften, die in Kindheitsdarstellungen zur Geltung kommen" (S. 12). Sie sind darüber hinaus im phänomenologischen Sinne als (medien-)reflexiv anzusehen: Filme reflektieren durch den Bezug zu Kinderdarsteller*innen oder dem kindlichen Blick ihre eigene Beziehung zur Kindheit und die damit einhergehenden filmästhetischen Strategien und befördern gleichzeitig auf Zuschauerebene "ein gesteigertes Bewusstsein der filmischen Wahrnehmung" (S. 12). Stets ist es dabei "die körperliche Disposition von Kindern, die im Prozess des Filmens und Filmeschauens eine ganze Reihe ästhetischer, medientheoretischer und ethischer Fragen nach sich zieht" (S. 15).</p> <p style="font-weight: 400;">Henzler benutzt darüber hinaus das Konzept der Kindheitsfigur als eine Art epistemologischen Knotenpunkt, um sehr fundierte Überlegungen über integrative Möglichkeiten unterschiedlicher phänomenologischer (Film-)Theorien anzustoßen: Sich auf Maurice Merleau-Pontys Definition von kinästhetischer Erfahrung als Verschränkung von Wahrnehmung und Bewegung stützend, argumentiert sie, dass Kinderfiguren auf Darstellungsebene "als bewegte Schauende auch die phänomenologische Grundlage der Filmästhetik" (S. 64) verkörpern und reflektieren. Dies geschehe wiederum in kinästhetischen Momenten abseits von narrativer Informationsvermittlung, in denen kindliche Protagonist*innen ein mimetisches Verhalten in Relation zu ihrer Umgebung an den Tag legen würden, indem sie sich etwa dem Fahren von Zügen oder dem Fließen eines Flusses körperlich angleichen. Darüber hinaus würden Kinder in den jeweiligen Filmen als "Stellvertreter der mimetische[n] <em>Zuschauererfahrung</em>" (S. 66) dienen und Rezipient*innen somatisch affizieren, was Henzler unter Berücksichtigung jüngerer, von ihr als rezeptionsästhetisch subsumierter phänomenologischer Ansätze etwa bei Vivian Sobchack, Laura Marks und Thomas Morsch konstatiert. Gleichzeitig würden Kinder in der Art, wie sich etwa die Kamera zu ihnen positioniere, auf die gleichfalls "mimetische <em>Haltung der Regie</em>" (S. 66) verweisen, beispielsweise im Rahmen der sich an Mimik oder körperlichem Aktionsradius des Kindes orientierenden Kamera. Für diesen Umstand dienen wiederum frühere phänomenologische Filmtheorien – etwa von Walter Benjamin, Béla Balázs und Siegfried Kracauer –, welche das produktionsästhetische Potential filmischer Technik betrachten würden, als theoretisches Fundament.</p> <p style="font-weight: 400;">Die Monografie besteht nach einer theoretischen Einführung, in welcher das Kind als reflexive Figur des modernen Kinos vorgestellt wird (vgl. S. 29<em>–</em>49), aus drei Hauptkapiteln, welche jeweils eine Kinderfigur als übergeordnete Kategorie zusammenfassen: Dabei handelt es sich um unterschiedliche Formen kindlicher Bewegung ("Bewegungen"), die spezifische kindliche Perspektive und die erwachsene Wahrnehmung von Kindern als fremd oder <em>anders </em>("Wahrnehmungen") sowie eine vielseitige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Verkörperungen des kindlichen Spiels ("Ästhetik des Spiels"). So wird etwa die körperliche Welterfahrung eines Kleinkinds in Truffauts <em>L'Argent de Poche</em> (FR 1976) beleuchtet (vgl. S. 79f) und später verdeutlicht, inwieweit das Kind im Rahmen eines Changierens zwischen ausgestellter Körperlichkeit und filmischer Rolle mit einer Slapstickfigur gleichgesetzt werden kann (vgl. S. 86). An anderer Stelle wird anhand von Filmen wie <em>Le Gamin au Vélo </em>(FR/IT/BE 2011) und <em>Moi Ivan, Toi Abraham </em>(FR/BY 1993) ziellose Fortbewegung und der Wechsel von Bewegung zu Stillstand als sinnbildlich für gesellschaftliche Missstände verstanden (vgl. S. 105). Im Rekurs auf ein phänomenologisches Konzept von Fremdheit nach Bernhard Waldenfels argumentiert Henzler, Kinder würden in semidokumentarisch wirkenden Filmen wie <em>Demi-Tarif</em> (FR 2003) deshalb als fremd dargestellt, weil sie auf Darstellungsebene bewusst abseits von erwachsenen sozialen Ordnungen und Identifikationsstrukturen existieren (vgl. S. 181). Gerade die transgressive Kindheitsfigur als Aufbrechen erwachsener Sinnzuweisungen durchzieht Henzlers Studie als roter Faden. Auch die damit einhergehenden Überlegungen zu Kindern als Perspektivfiguren für die Erschließung fremder Orte findet vermehrt Einzug, etwa die Betrachtung der Natur als Übergangsraum anhand von Kurzfilmen wie <em>Crin Blanc</em> (FR 1953) und <em>Rentrée des Classes</em> (FR 1955) (vgl. S. 232). Anhand von beispielsweise Spielzeugen als Übergangsobjekten nach Donald Winnicott, wie einer Puppe in <em>Ponette </em>(FR 1998) oder dem Rollenspiel in <em>La Guerre des Boutons</em> (FR 1960) (vgl. S. 334f), wird mittels eines multiperspektivischen Zugangs das kindliche Spiel untersucht. Medientheoretisch betrachtet trage dieses "Züge einer ludischen Didaktik, die die filmische Medialität in ihrer Vielgestaltigkeit reflektiert" (S. 449).</p> <p style="font-weight: 400;">Henzlers primär phänomenologischer Ansatz wird je nach Forschungsfrage stets sinnvoll erweitert – so werden etwa nicht nur Merleau-Pontys in der Filmwissenschaft bekannte phänomenologischen Schriften, sondern auch seine gleichfalls der Kinderpsychologie und Kindheitspädagogik zuzuordnenden Vorlesungen berücksichtigt (vgl. etwa S. 295). Es entsteht jedoch nie der Eindruck eines theoretischen und methodischen Eklektizismus; stattdessen gelingt es Henzler auf beeindruckende Art und Weise, Theorie und Analyse stets nachvollziehbar und gewinnbringend zusammenzuführen und dabei sehr nah an den einzelnen Filmen sowie auch stets sprachlich zugänglich und präzise zu bleiben. Eine wertvolle Ergänzung bilden auch die zahlreichen, sorgfältig ausgesuchten Filmstills, welche die Ausführungen zusätzlich unterstützen. Darüber hinaus erscheint der herausgearbeitete filmästhetische und medientheoretische Ansatz sehr anschlussfähig für weitere Überlegungen zum grundsätzlichen Wechselverhältnis von Film und Kindheit, beispielsweise als eine auf den Kindheitsfilm ausgerichtete, revisionistische Filmgeschichtsschreibung im Rahmen anderer nationaler Kinematografien. Die Betrachtung von Kindheit als filmästhetische Kategorie ermöglicht auch, im Einklang mit der gegenwärtigen Kindheitsforschung primär biologistische oder auch rein sozialkonstruktivistische Definitionen zu umgehen und nichtdestotrotz potenzielle Unterschiede zwischen kindlichen und erwachsenen Erfahrungswelten zu berücksichtigen (vgl. Gubar 2016). Gleichzeitig wird die Kindheitsfigur als Prämisse für eine sehr innovative Erweiterung der phänomenologischen Filmtheorie gesetzt, was auch abseits des eigentlichen Forschungsschwerpunkts wertvolle Erkenntnisse liefert. Nicht zuletzt könnte sich diese Monografie auch für Forschende und Lehrende anderer mit Kindheitsforschung in Verbindung stehender Disziplinen als interessant erweisen, weil Henzler sehr eindrucksvoll zeigt, inwieweit Film im Rahmen seiner spezifischen Medienästhetik ein nuanciertes Nachdenken über Kindheit ermöglicht.</p> <p style="font-weight: 400;"><strong>Quellen:</strong></p> <p style="font-weight: 400;">Brown, Noel: <em>The Children's Film. Genre, Nation, and Narrative</em>. New York: Columbia University Press 2017.</p> <p style="font-weight: 400;">Gubar, Marah: "The Hermeneutics of Recuperation: What a Kinship-Model Approach to Children's Agency Could Do for Children's Literature and Childhood Studies". In <em>Jeunesse. Young People, Texts, Cultures</em> 8/1, Summer 2016, S. 291<em>–</em>310.</p> <p style="font-weight: 400;">Lebeau, Vicky: <em>Childhood and Cinema</em>. London: Reaktion Books 2008.</p> <p style="font-weight: 400;">Lury, Karen: <em>The Child in Film. Tears, Fears and Fairy Tales</em>. London: IB Tauris &amp; Co. 2010.</p> <p><span style="font-weight: 400;">Stewen, Christian: <em>The Cinematic Child. </em></span><em style="font-weight: 400;">Kindheit in filmischen und medienpädagogischen Diskursen</em><span style="font-weight: 400;">. Marburg: Schüren 2011.</span></p> Michael Brodski Copyright (c) 2023 Michael Brodski http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-08 Sulgie Lie: Hong Sangsoo. Das lächerliche Ernste. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8264 <p>Im Festivalkino der Gegenwart gibt es wenige Filmemacher, die so viel Aufmerksamkeit und Lob erfahren, wie der südkoreanische Filmemacher Hong Sang-Soo. Seit nun schon über 25 Jahren setzen sich seine Filme immer wieder mit der Beziehung zwischen Männern und Frauen auseinander, die er oft erbarmungslos humoristisch portraitiert. Seine unglaubliche Produktivität führt dazu, dass er oft 2 bis 3 Filme pro Jahr produziert (mittlerweile hat er schon 30 Spielfilme inszeniert) und diese dann auf den wichtigsten Filmfestivals der Welt präsentiert. Nun gibt es mit <em>Hong Sangsoo: Das l</em><em>ä</em><em>cherliche Ernste</em> von Sulgi Lie endlich eine deutschsprachige Publikation, die sich mit dem Werk Hongs auseinandersetzt. Das Buch ist mit nur knapp 90 Seiten ebenso kurz und bündig wie einige Filme des Regisseurs. Lie widmet sich dabei seiner Filmografie in grob chronologischer Reihenfolge und durchquert diese anhand verschiedener Themenkomplexe, denen er einzelne Kapitel widmet.</p> <p>Gleich im ersten Satz des ersten Kapitels finden wir die (vielleicht?) entscheidende Formel des Kinos von Hong Sang-Soo: Männer, Frauen und Alkohol. Davon ausgehend beschäftigt sich Lie zuerst damit, wie der Konsum von Alkohol die Kommunikation der Figuren in Hongs Kino vereinfacht, verkompliziert oder sogar verunmöglicht. Aufgrund von Hongs umfangreicher und schnell wachsender Filmografie widmet sich Lie nicht der langen Analyse einzelner Filme, sondern beschäftigt sich eher mit Ideen und Themen, die sich durch die Filme ziehen. Das Werk von Hong Sang-Soo bietet sich für diese Leseart gut an, da die Filme oft Variationen von ähnlichen Beziehungsgeflechten, Konflikten und Fragen sind. Oft hört man, dass alle seine Filme vielleicht eher so etwas ein langer Film sind, dem er sukzessiv Bruchstücke und Fragmente hinzufügt. Der theoretischen Unterbau für die Beschäftigung mit den verschiedenen Themen, die Lie in der Filmografie Hongs herausarbeitet, ist breit gefächert: Von popkulturellen Bezugspunkten, wie der Musik der Pet Shop Boys, bis hin zu den Texten von Jean Epstein, Jean Paul Sartre, André Bazin und vielen weiteren nutzt Lie verschiedenste Quellen, um über die Filme von Hong Sang-Soo nachzudenken.</p> <p>Viele der Schlussfolgerungen, die Lie im Laufe seiner Analyse der Filme trifft, sind nicht unbedingt neu: Die Männer in Hongs Filmen sind erbärmlich, verlogen, lächerlich. Die Frauen oft ehrlicher, und falls doch verlogen, behalten sie wenigstens ihre Würde. Aber Lie unterbreitet diese weit verbreiteten Analysen über Hongs Figuren mit vielen Beispielen und Zitaten aus den Filmen, die ein klares Bild schaffen und auch neue Einsichten bereithalten. So wird die These klarer, wenn Lie z. B. gegenüberstellt, wie Männer und Frauen in Hongs Filmen beten, welche Worte sie dabei verwenden, was ihre Intentionen zu sein scheinen und wie sie dabei gefilmt werden.</p> <p>Hongs berühmte Ästhetik (die vielleicht eher eine Nicht-Ästhetik ist) wird ebenfalls untersucht. Der Band enthält keine Bilder, stattdessen gibt es immer wieder sorgfältige, detaillierte Beschreibungen, in denen Lie Hongs Einstellungen veranschaulicht. Diese zeichnen sich oft durch die Kamerabewegung aus (Schwenks und Zooms bestimmen Hongs Bildsprache), für deren Analyse Standbilder ohnehin nicht ideal wären. Immer wieder arbeitet Lie in diesen Beschreibungen die feinen visuellen Unterschiede heraus, die in Hongs einander oft spiegelnde Szenen zur Geltung treten. Er veranschaulicht das z. B. an der Handlung von <em>Right Now, Wrong Then</em> (KR 2015), in dem uns zwei Versionen einer Geschichte gezeigt werden, wovon eine leicht "besser" für die Hauptfigur verläuft als die andere. Lie zeigt uns, dass Hong auch mit feinen visuellen Unterschieden, wie dem leichten Verschieben einer Kameraperspektive, die Variation dieses doppelten Narrativs unterstreicht.</p> <p>Ein weiteres Thema, dem sich Lie an vielen Stellen seines Buchs – am stärksten im Kapitel "Eingebildete Bilder" – widmet, sind Hongs filmische Einflüsse. Wann immer Hong Sang-Soos Filme auf ihre filmischen (und ästhetischen) Einflüsse hin untersucht werden, fallen dieselben Namen: Eric Rohmer, Paul Cezanne, Robert Bresson. Sie werden auch in diesem Band genannt. Doch Lie fügt dieser Liste noch einige Namen hinzu, wie z. B. Jean Renoir, Yasujiro Ozu, Luis Buñuel, Jean-Luc Godard oder François Truffaut. Hong Sang-Soos Filme sind nicht dafür bekannt, dass sie die Filmgeschichte ausgiebig zitieren. Eher werden sie als eine Art in sich geschlossenes Universum betrachtet, in dem sich die einzelnen Filme stärker aufeinander beziehen als auf Werke andere Filmemacher. Dementsprechend interessant ist es, wenn Hong als ein bewanderter Filmkenner gezeigt wird. Lie findet filmgeschichtliche Zitate nicht nur in einigen Filmtiteln (<em>Woman on the Beach </em>(KR 2006) in Bezug auf Jean Renoir oder <em>Claire’s Camera</em> (KR/FR 2017) in Anlehnung an Eric Rohmer) oder in visuellen Motiven Querverweise auf andere Filmemacher sondern z. B. auch in der Auswahl bestimmter Musikstücke.</p> <p>Andere Blicke, die Lie auf die Filme wirft, sind weniger vertraut. So rückt er einige der späteren Filme Hong Sang-Soos in die Nähe des Melodramas. Für Hong, dessen Filme oftmals eine ironische Distanz zu ihren Figuren und deren Verhalten einnehmen, ist diese Zuordnung eine ungewohnte. Lie erkennt jedoch in der Zuwendung der Filme zu weiblichen Protagonistinnen eine Bewegung weg von der Komödie in Richtung des Melodrams. Diesen widersprüchlichen Raum zwischen Dramatik und Lächerlichkeit, der dem Band seinen Namen gibt, macht Lie sogar in einzelnen Handlungen Hong'scher Figuren aus (besonders gut veranschaulicht er diese Gratwanderung anhand der Tränen der männlichen Figuren, denn auch wenn diese oft aus lächerlichen Gründen weinen, macht sie das nicht weniger traurig). So stellt sich Lie gezwungenermaßen der Frage: sind Hongs Filme ernst oder lustig? Die Antwort lautet natürlich, dass es sich um kein "entweder, oder" handelt. Er schlägt den Begriff des "lächerlich Ernsten" bzw. des "ernsten Lächerlichen" vor, um diese Ambivalenz des Kinos von Hang Sang-Soo zu fassen.</p> <p><em>Hong Sang-soo: Das lächerliche Ernste</em> von Sulgi Lie ist eine erhellende Einführung in das Werk Hong Sang-Soos und füllt als erster deutschsprachiger Band, der sich ganz den Filmen des Regisseurs widmet, eine Lücke und gibt hoffentlich Anstöße für weitere Beschäftigungen mit dem Werk dieses bedeutenden zeitgenössischen Filmemachers.</p> Sebastian Bobik Copyright (c) 2023 Sebastian Bobik http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-09 Volker Pantenburg: Aggregatzustände bewegter Bilder. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8260 <p>Das Kino befindet sich seit geraumer Zeit in einem Transformationsprozess. Digitalisierung, neue Aufnahme- und Abspielmedien sowie Plattformen bedingen die zahlreichen Entgrenzungen unterschiedlichster Existenzformen bewegter Bilder. Studien zu diesem "flüssigen" Zustand des Kinos, dessen "Remediation" (Bolter/Grusin) und "Relocation" (Casetti) finden sich in den letzten Jahren zuhauf. Unter dem vieldeutigen Begriff "Post-Cinema" werden zahlreiche Praxen des "verteilten Bildes" (Rothöhler) und Umdeutungen des Bild-Begriffs zwischen Filmkultur, Streaming und neuen Rezeptionsformen ausdifferenziert. Um den Blick am Spannungsverhältnis von Kino, Filmkunst und Museen zu schärfen, schränkt Volker Pantenburg gleich zu Beginn seiner Studie <em>Aggregatzustände bewegter Bilder</em> den Blick auf den Begriff "Post-Cinema" ein. Der "Pendelverkehr zwischen dem Kino als traditionellem Dispositiv des bewegten Bilds und dem Museum mit seiner spezifischen, immer wieder neu auszuhandelnden Konfiguration von Zeit und Raum" (S. 13), steht im Zentrum der Texte und eröffnet einen weitreichenden und erhellenden Blick auf die Geschichte und Gegenwart der nicht immer einfachen Konstellation von Black Box und White Cube. Mit diesem Fokus steckt Pantenburg ein Themenfeld ab, das einerseits in den Diskursen um Post-Cinema und dessen Konzentration auf Neue Medien und Games vernachlässigt scheint<sup>1</sup>, und bezieht sich andererseits auf gegenwärtige Diskussionen, die innerhalb Filminstitutionen, Museumssammlungen und Kunstkritik geführt werden. Das Buch eröffnet damit, abseits medientheoretischer Begriffsdiskussionen, einen wohltuenden Blick auf praktische wie theoretische Fragestellungen und thematisiert, inwiefern heutzutage aus unterschiedlichen filmwissenschaftlichen, kuratorischen und künstlerischen Perspektiven konzeptuell mit dem sich verändernden Dispositiv Kino umgegangen werden kann.</p> <p>Das Buch unterteilt sich in drei Abschnitte: "I. Ökonomien von Aufmerksamkeit und Erfahrung", "II. Zum Bewegtbild zwischen Kino und Museum" und "III. Kuratorische Fragen". Bei den darin enthaltenden 17 Beiträgen handelt sich ausnahmslos um bereits veröffentlichte Texte aus einem Zeitraum von 2010 bis 2020. Vier Texte erscheinen erstmals in deutscher Übersetzung. Diese Anhäufung von Veröffentlichungen aus wissenschaftlichen Zeitschriften, Katalogen oder Internetplattformen hat variierende Textformen, -stile und -längen zur Folge. Vereinzelt neigen die Texte daher in der Verwendung der hervorgebrachten Argumente, Theoriebezüge und besprochenen Beispiele zu Wiederholungen. Das erste Kapitel vereint mit seinen drei theoretisch ausgerichteten Texten einige Debatten und Fragestellungen zum gegenwärtigen "Aggregatzustand" des Bewegtbildes. Die zehn Texte des zweiten Kapitels stellen in Form kritischer Text-Miniaturen eine Bandbreite an filmischen Arbeiten und kinematographischen Installationen im Kontext von Kino und Ausstellungsraum vor. Im abschließenden dritten Kapitel hingegen werden anhand von vier Texten kuratorische Fragen diskutiert und ein Ausblick auf mögliche Umgangsweisen mit zuvor in Theorie und Fallbeispielen erläuterten Problemstellungen gegeben.</p> <p>Die vielfältigen Ökonomien von Aufmerksamkeit und Erfahrung werden im ersten Kapitel zum theoretischen Ausgangspunkt gesetzt, um den Strukturwandel des Kinos zu verstehen. Film begegnet uns mittlerweile an verschiedenen Orten und in ganz unterschiedlichen Konturen. Diese Entgrenzung des Kinos verfolgt Pantenburg in den folgenden Texten anhand zweier Bewegungen. Einerseits werden die Verschiebungen von Film zu Kunst bzw. Kino zu Ausstellungsraum betrachtet, andererseits die Loslösung des Filmischen vom Kino ins Private und dessen neuen Trägermedien. Genau diese Verschiebungen des Kinos führen zu neuen Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen von Bewegt-Bildern. Um eine historische Kontextualisierung dieser Transformationsprozesse bedacht, beschreibt Pantenburg die Veränderungen des Kinos in drei Etappen: 1. Expanded Cinema, 2. Museum als Erfahrungsraum und 3. der Flaneur als Typus des Museumsbesuchers. Der anti-institutionelle Impuls des Expanded Cinema der späten 1960er und 1970er Jahre ist Antrieb für die Migration des Kinos in andere Räume. Das Kino ist hier noch stark an den Analogfilm und an dessen verbindliche Zeitlichkeit in der Projektion gebunden. Die Konjunktur des Ausstellungskinos in den 1990er Jahren löst hingegen eine klar definierte Zeitspanne der Rezeption auf. Flexibilität, Beweglichkeit und Zerstreuung treten anstelle einer konzentrierten Rezeptionssituation. Diese Veränderung, von Pantenburg als "prekäre Dialektik von Aufmerksamkeit und Zerstreuung" (S. 33) bezeichnet, stellt ein Kernthema des ersten Kapitels dar. Obwohl der mobile Ausstellungsbesucher frei ist, "immer auch etwas anders sehen zu können" (S. 31), muss sogleich vor einer Überbewertung der Reflexionsfähigkeiten des Museumsbesuchers als kurzweiliger Flaneur gewarnt werden. Flexibilität heißt nicht zwangsläufig Reflexivität. Insbesondere wenn diese in sich ambivalenten Kategorien Teil unseres gegenwärtigen Medienalltags sind. Die Differenz von Kino als Ort eines "puristischen" analogen Experimentalfilms und dem Museum als Ort (häufig digitaler) Installationskunst verläuft demnach immer zwischen der Frage nach unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi (konzentriert oder flexibel) und divergenten Raum- und Zeiterfahrungen. Anhand Douglas Gordons Installation <em>24 Hour Psycho</em> (bzw. Don DeLillos Lesart in seinem Roman <em>Point Omega</em>) verdeutlicht Pantenburg anschaulich, dass es im Oszillieren zwischen Konzentration und Zerstreuung immer um die Frage der eigenen Nutzung geht und mehrere mögliche Herangehensweisen an eine Film- oder Video-Installation existieren. Die Aufgabe der Filmwissenschaft müsse es daher sein, das komplizierte Verhältnis unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen zu identifizieren und zu kontextualisieren. Auch wenn dies nicht einfach erscheint denn, die "Proliferation von Filmen in die unterschiedlichsten Kanäle hat diese Fragen eher vervielfacht, als sie zu beantworten" (S. 70). Eine Kritik jener Konzepte, die die Mobilität der Rezipient*innen überschätzen, bleibt für Pantenburg jedoch unabdingbar: "Warum ein umherwandelnder Besucher reflektierter, kritischer oder alerter sein solle als ein Zuschauer in seinem Sessel, blieb entweder undeutlich oder verdankte sich einer problematischen Gleichsetzung von körperlicher mit gedanklicher oder reflexiver Aktivität" (S. 54).</p> <p>Anhand von zehn unterschiedlichen Beispielen werden im zweiten Kapitel die zuvor ausgeführten Problemstellungen nochmal verdeutlicht. Die mitunter sehr kurzen Texte decken ein weites Feld unterschiedlicher künstlerischer Arbeiten und Zeiträume ab. Die gelungenen und plastischen Beschreibungen der Arbeiten ermöglichen es, den verhandelten Argumenten gut zu folgen. Dazu tragen ebenfalls die schon erwähnten Wiederholungen von Denkfiguren bei, die jedoch keinesfalls stören, sondern vielmehr eine Verortung der thematisch weitreichenden Fallbeispiele ermöglichen. So wird anhand Yvonne Rainers Filmen wie <em>Journeys from Berlin/1971</em> (US/UK/DE 1980) und <em>The man who envied women</em> (US 1985) oder auch anhand Jean-Luc Godards Ausstellung "Voyage(s) en utopie" (2006) verdeutlicht, inwiefern die schon in Kapitel 1 angesprochenen Umbrüche im Avantgarde- und Experimentalfilm Rückschlüsse auf die veränderte Bedeutung von Bewegt-Bildern zulassen. Wie in Museen mit Projektionsdispositiven und Anordnungen von analogen wie digitalen Filmen umgegangen wird, kann hingegen anhand Sharon Lockarts Arbeiten und einer Ausstellung von Luis Recorder und Sandra Gibsons erfahren werden. Doch auch Möglichkeiten der Nutzung erweiterter kinematographischer Räume für Geschichte und Geschichtsforschung werden anhand Maya Schweizers Arbeiten oder Yael Bartanas Filmen erörtert. Die Texte sind sinnvoll angeordnet und bieten einen beispielhaften Überblick zu den zuvor ausgeführten Debatten. Das zweite Kapitel endet insofern konsequent. Nur wenige Filmemacher*innen widersetzen sich so beharrlich der Vereinnahmung durch digitale Distributionsimperative wie Robert Beavers. Dieser versteht das Kino als bestmöglichen Rezeptionsraum von analogem Film und sein Versuch, absolute Kontrolle über sein Werk zu behalten, lässt gegenwärtig eine unerhörte und sogleich verheißungsvolle These erahnen: Nicht alles muss permanent verfügbar sein.</p> <p>Im dritten Kapitel werden nochmal vorherige Diskussionen aufgegriffen, um einen erweiterten Blick auf die zuvor skizzierte Dichotomie "Film/Modernismus" und "Video/Postmoderne" zu geben. Pantenburg stellt die Frage, "wie angesichts einer zunehmenden Hybridisierung von Medien und der Kopräsenz denkbar unterschiedlichster Bewegtbilder im Ausstellungsraum und im Alltag über die je eigentümlichen Formen und Bedingungen der Bilder nachgedacht werden kann" (S. 206). Hier verschränken sich kuratorische Fragestellungen zur Ausstellung und Projektion von Bewegtbild zwischen Kino und Museum mit archivarischen Praxisfragen im Umgang mit Sammlungen: Was passiert mit den Abspielgeräten alter Medien? Dient die Digitalisierung dem Zugang oder der Archivierung? Und was passiert mit den originären Trägermaterialien? Pantenburg schlägt hier ein Verständnis von Kuratieren vor, das im Wust der Bewegt-Bilder Kontext und Zusammenhänge liefern sollte: "Die kuratorische Aufgabe könnte sein, für genau das zu sorgen, was in der Migration durch die digitalen Plattformen verlorengeht; die Werke in ihren historischen, technologischen und sozialen Zusammenhängen zu präsentieren und für die Rahmenbedingungen zu sorgen, dies angemessen wahrnehmen zu können" (S. 214). Inwiefern dies scheitern kann, zeigt die Auseinandersetzung mit der Ausstellung "Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Die angeführten Probleme von Film im Museumsraum (schlechter Ton, zu helle offene Räume und mittelmäßige Filmtransfers von DVD) sind aus Museumsbesuchen bekannt. "Wir haben diese Filme nicht, aber in der Projektion tun wir so, als hätten wir sie" (S. 248), schließt Pantenburg nicht ohne Polemik mit manch einer kuratorischen Entscheidung ab<strong>. </strong>So ist <em>Aggregatzustände bewegter Bilder</em> durchaus als ein Plädoyer zu lesen mit dem Imperativ, der Installation und der damit verbunden Mobilität, Flexibilität und Ästhetik des Nebeneinanders etwas mehr zu widerstehen. Das Kino sollte als kuratorischer Raum wieder stärker in den Fokus rücken um, "dem Magnetismus des Museums zu widerstehen und die Filme an ihrem angestammten Ort zu zeigen: im Kino. […] Dabei müsste der kuratorische Imperativ, ein Werk in seinen zeitlichen, räumlichen und medialen Anforderungen so angemessen wie möglich zu präsentieren, erst recht jetzt gelten, wo ein Großteil der Bilder des Kinos im Internet und auf zahllosen mobilen Geräten zirkuliert." (S. 254)</p> <p><em>Aggregatzustände bewegter Bilder</em> bietet eine verständliche und nachvollziehbare Sammlung an kritischen wie theoretischen Texten zum "flüssig" gewordenen Bewegt-Bild. Die Konzentration auf die Beziehung von Kino und Ausstellungsraum erscheint für eine Abgrenzung vom Begriff "Post-Cinema" nicht nur wichtig, sondern essentiell für die mit Hintergrundwissen gespickten Verortungen der Fallbeispiele und Debatten. Die Wandlung des Experimentalfilms vom Structural Film über Expanded Cinema und Ausstellungsfilm zu Clips auf YouTube bedarf insofern weiterer Untersuchungen. So ist das Buch auch als ein Appell an die Filmwissenschaft zu verstehen, nochmal genauer das eigene Verhältnis zur Geschichte experimenteller Filmpraxen in den Blick zu nehmen und sich nicht vor den Diskussionen in Museen, Kinematheken und Kunstkritik zu verschließen.</p> <p><strong>Anmerkungen:</strong></p> <p><sup>1 </sup>Siehe bspw. Post-Cinema-Studien und deren Fokus auf die Übergänge von Kino, Neuen Medien und Games: Casetti, Franceso: <em>The Lumiere Galaxy. 7 Key words for the cinema to come</em>. New York: Columbia University Press 2015; oder: Denson, Shane/Leyda, Julia (Hg.): <em>Post-Cinema: Theorizing 21st Century Film</em>. Sussex: Reframe Books 2016.</p> Jan-Hendrik Müller Copyright (c) 2023 Jan Hendrik Müller http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-10 Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7913 <p>Andrej Tarkowski (1932–1986) gilt als einer der herausragenden Regisseure des 20. Jahrhunderts und seine Werke waren wegweisend für Generationen von Filmschaffenden. Seine Arbeiten warfen in der Rezeption immer neue Fragen auf, weshalb sämtliche Äußerungen Tarkowskis zu seinem Werk mit großem Interesse zur Kenntnis genommen wurden; zu nennen ist in diesem Zusammenhang neben seinen Tagebüchern vor allem der Band <em>Die versiegelte Zeit</em>, der aus Interviews hervorgegangen ist. Ein besonderes Kennzeichen von Tarkowskis Veröffentlichungen und vor allem von <em>Die versiegelte Zeit</em> ist, dass sie in diversen, sich voneinander unterscheidenden Ausgaben erschienen sind, was auf Tarkowskis Praxis zurückzuführen ist, bei Neuveröffentlichungen die Texte noch einmal einer Revision zu unterziehen und Korrekturen, aber auch inhaltliche Überarbeitungen vorzunehmen.</p> <p><em>Die versiegelte Zeit </em>ist aus einem gleichnamigen Essay Tarkowskis im Jahrbuch <em>Probleme der Kinokunst</em> von 1967 (Tarkovskij 1967) sowie einer Reihe von Interviews mit der Filmkritikerin Olga Surkova hervorgegangen, die bis 1982 in der Zeitschrift <em>Die Kunst des Kinos</em> veröffentlicht wurden. In diesem Werk äußert sich der Regisseur zu den Entstehungsbedingungen und zu künstlerischen Entscheidungen in seinen Filmen, aber vor allem auch grundsätzlich zu Fragen der Kunst des Films. In <em>Die versiegelte Zeit</em> verteidigt Tarkowski zunächst die Auffassung, dass es sich beim Film um eine eigenständige Kunstform mit eigenen Mitteln handelt. Darüber hinaus äußert er sich aber auch zu Filmkonzepten, zur Montage, zur Mise-en-scène sowie zur Philosophie des Films und zur Verantwortung des Künstlers. Bekannt geworden ist seine Definition des Idealfalls der Filmarbeit:</p> <p>"Der Idealfall einer Filmarbeit sieht für mich folgendermaßen aus: Ein Filmautor zeichnet auf Millionen von Filmmaterial-Metern jede Sekunde, jeden Tag, jedes Jahr ohne Unterbrechung auf, etwa das Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Mit Hilfe des Schnittes würde man dann daraus einen Film von 2500 Metern Länge gewinnen, das heißt einen Film mit etwa anderthalb Stunden Laufzeit. (Interessant wäre dabei auch die Vorstellung, dass diese Millionen von Filmmetern in die Hände verschiedener Regisseure gerieten, von denen dann jeder für sich daraus einen jeweils äußerst unterschiedlichen Film zusammenstellen würde!)" (S. 82)</p> <p>Der deutschen Übersetzung von <em>Die versiegelte Zeit</em> durch den Filmhistoriker und -theoretiker Hans-Joachim Schlegel (1942–2016), die erstmals 1985 im Ullstein Verlag erschien, kam eine besondere Bedeutung zu, denn sie stellte auch die Erstveröffentlichung von Tarkowskis Werk dar, da das russische Original erst nach einer weiteren Übersetzung (1986 ins Englische) im Jahr 1991 erschien, also nach dem Tod des Regisseurs. Dass bereits 1988 eine überarbeitete Neuauflage der deutschen Übersetzung notwendig wurde, hatte vor allem damit zu tun, dass Tarkowski noch ein Kapitel zu seinem letzten Film <em>Opfer</em> (SE/UK/FR 1986) hinzugefügt hatte. Für die, 2009 durch den Alexander Verlag Berlin veranlasste, neue Ausgabe überarbeitete Schlegel seine Übersetzung und ergänzte und aktualisierte auch die Anmerkungen zum Text.<sup>1</sup></p> <p>Eine neue Ausgabe von Tarkowskis Werk in italienischer Sprache war dann im Jahr 2015 dafür verantwortlich, dass die deutsche Übersetzung von 2009 ein weiteres Mal überarbeitet und neu herausgegeben werden musste: Für die, durch das von Tarkowskis Sohn geleitete und in Florenz ansässige Istituto Internazionale Tarkovskij 2015 veranlasste, italienische Edition von <em>Die versiegelte Zeit</em> (Tarkovskij 2015) waren die fünf vorhandenen, durch Andrej Tarkowski korrigierten Versionen abgeglichen und somit gewissermaßen eine endgültige Fassung erstellt worden, die Fehler in der russischen Ausgabe korrigiert, sich aber auch inhaltlich von dieser unterscheidet. Diese russische Fassung letzter Hand von <em>Die versiegelte Zeit</em> war dann die Grundlage für die vorliegende Überarbeitung von Hans-Joachim Schlegels deutscher Übersetzung des Werks. Für den mittlerweile verstorbenen Schlegel übernahm die Übersetzerin Yvonne Griesel die Aufgabe, die notwendigen Änderungen in den Text einzupflegen; die noch von Schlegel angefertigten Anmerkungen zum Text wurden von der Redaktion des Alexander Verlags aktualisiert.</p> <p>Ein Vergleich der letzten, von Hans-Joachim Schlegel noch selbst verantworteten, Fassung der Übersetzung mit der Überarbeitung durch Yvonne Griesel offenbart große Unterschiede. Während einige dieser aus redaktionellen Entscheidungen herrühren und nur die Korrektur einzelner Wörter oder die Schreibung von Namen betreffen (und deshalb hier auch nicht näher interessieren sollen), gibt es auch in inhaltlicher Hinsicht große Unterschiede.</p> <p>So wird etwa von den Autoren, die Tarkowski im ersten Kapitel als Beispiel für die Verbindung von Poesie und Philosophie dienen, der Prosaschriftsteller Michail Prischwin in der Neuauflage nicht mehr erwähnt. Oder etwa es fehlt ein ganzer Satz, wie jener, mit dem Tarkowski in der Fassung von 2009 einen Abschnitt mit einer deutlichen Kritik am naiv-naturalistischen Kino abschließt: "Und ich bin nun einmal dafür, daß das Kino so nahe wie möglich an jenem Leben bleibt, das wir sonst gar nicht in seiner tatsächlichen Schönheit wahrnehmen können" (Tarkowski 2009, S. 37). Tarkowski hat aber nicht nur solche Passagen gestrichen, sondern auch Gedanken eingefügt, die für seine Poetologie des Films relevant sind. So wird in der Neuauflage beispielsweise der Satz "Ein Kunstwerk – das bedeutet in jedem Fall die organische Verknüpfung von Idee und Form" durch die Passage "Form ohne Idee oder Idee ohne Form sind Variationen, die es zerstören und jenseits der Grenzen von Kunst ansiedeln" ergänzt (S. 38). Eine Vielzahl solcher und ähnlicher Änderungen lässt sich bei einem Vergleich der Übersetzung von 2009 mit der überarbeiteten Fassung feststellen. Eine eindeutige Tendenz bei diesen Änderungen ist jedoch auf den ersten Blick nicht auszumachen – hier bietet sich ein interessantes Forschungsfeld für Tarkowski-Spezialist*innen, die dieser Frage in Detailstudien nachgehen könnten.</p> <p>Andrej Tarkowski hat seine Ausführungen zur Poetik des Films immer wieder Revisionen unterzogen, und mit der Neuauflage liegt die nun wohl endgültige Gestalt der Überlegungen des russischen Regisseurs zu seiner Kunstform vor. Bei der Neuauflage von <em>Die versiegelte Zeit</em> handelt es sich zwar nicht um ein gänzlich neues Werk, aber um einen Text, der gegenüber früheren Fassungen signifikante Unterschiede aufweist; dank der mustergültigen Arbeit von Yvonne Griesel fügen sich die Änderungen auch organisch in den Text ein. Glücklicherweise hat die Redaktion bewährte Bestandteile des Buches wie ein komplettes Werkverzeichnis mit erschöpfenden Informationen zu seinen Theater-, Opern- und Hörspiel-Regiearbeiten sowie zu allen Filmen, bei denen Tarkowski Regie geführt oder auf andere Weise (etwa als Berater) mitgewirkt hat, sowie das wichtige Nachwort von Hans-Joachim Schlegel auch in die Neuauflage übernommen. Wer die Gedanken eines der wichtigsten Regisseure des zwanzigsten Jahrhunderts zum Film in ihrer endgültigen Gestalt kennenlernen will, wird Andrej Tarkowskis <em>Die versiegelte Zeit</em> in der Neuauflage von 2021 mit Gewinn lesen.</p> <p><strong>Anmerkungen:</strong></p> <p><sup>1</sup> Mein herzlicher Dank gilt dem Alexander Verlag (Berlin) für die Zurverfügungstellung dieser Ausgabe in einem Druck von 2012.</p> <p><strong>Quellen:</strong></p> <p>Andrej Tarkovskij: "Zapečatlennoe vremja". In: <em>Problemy kinoiskusstva</em> 9, 1967, S. 78–102.</p> <p>Andrej Tarkovskij: <em>Scolpire il tempo. Riflessioni sul cinema</em>. Firenze: Istituto Internazionale Tarkovskij 2015.</p> <p>Andrej Tarkowski: <em>Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films.</em> Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Hans-Joachim Schlegel. Berlin: Alexander Verlag 2009 und öfter. </p> Sebastian Cwiklinski Copyright (c) 2023 Sebastian Cwiklinski http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-11 Andreas Veits: Narratologie des Bildes. Zum narrativen Potenzial unbewegter Bilder. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/6601 <p style="font-weight: 400;">Der Untertitel <em>Zum narrativen Potential unbewegter Bilder</em> macht in seiner Bescheidenheit stutzig. Ist das nicht längst ein von der Narratologie zur Genüge erforschtes Feld? Ist es mitnichten, wie diese sehr lohnenswerte Studie von Andreas Veits zu Beginn bereits deutlich macht. Denn wie Veits in der Einleitung ausführt, wurde die Motivation für eine dezidiert narratologische Erforschung unbewegter Bilder trotz deren Bedeutung in der Kulturgeschichte – so könnte zusammenfassend gesagt werden – zwischen der auf Stilgeschichte konzentrierten Kunstwissenschaft und der auf sequenzielle Repräsentationen wie Texte, Filme, Games fokussierten Narratologie zerrieben. So liegt der vorliegenden publizierten Dissertation angesichts des Gegenstands und der Fragestellung schon zwingend ein interdisziplinärer Ansatz zugrunde. Das theoretische Fundament dafür bilden die literaturwissenschaftliche Narratologie sowie die Kognitionswissenschaft und die narrative Psychologie. Damit werden sowohl die Seite des Gegenstands als auch die der Rezeption in den Blick genommen:</p> <p style="font-weight: 400;">"Um die Fragen zu beantworten, inwiefern und auf welche Weise Bilder erzählen können, bedarf es aus Sicht dieser Arbeit stattdessen einer Betrachtung von Eigenschaften der Bildrepräsentation sowie von Prozessen des Bildverstehens als analytische Einheit." (S. 21)</p> <p style="font-weight: 400;">Die Studie klärt zunächst, von welchem Verständnis von Bild ausgegangen wird. Veits entwickelt hier ein dezidiert "exklusives" Bildverständnis, was sich folgerichtig aus der Frage nach der Erzählhaftigkeit unbewegter Bilder ergibt (S. 40). Ein Bild wird hier als "'Fenster'<strong> </strong>in eine fiktive Welt" (S. 40) verstanden, die von den Rezipierenden als medial vermittelte konstruiert und von der außermedialen Welt unterschieden wird. Diese Welthaftigkeit medialer Repräsentationen konstituiert, so Veits, die Voraussetzung für deren potenzielle Narrativität. Im Folgenden entfaltet Veits dann akribisch, dabei aber immer gut verständlich, die kognitionstheoretischen und narratologischen Grundlagen. Zentrale Begriffe auf der kognitionstheoretischen Seite sind etwa "Schemata" und "Skripte". Die beiden Begriffe beschreiben verschiedene Ebenen der Wissens- und Erfahrungsstrukturierung, die bei der Betrachtung von Bildern aktiviert werden können. Schemata beziehen sich auf die Ebene der Objekterkennung, während Skripte ganze Situationen und Handlungsabläufe umfassen können.</p> <p style="font-weight: 400;">Bei kognitionstheoretischen Argumentationen ist in der Regel die Übertragbarkeit von Ergebnissen der zugrunde liegenden Studien auf künstlerische Artefakte ein Problem, da sich die entsprechenden Experimente auf einfache Reizkonstellationen beziehen und nicht auf fiktionale Welten. Veits aber gelingt die Verbindung verschiedener kognitionstheoretischer Erkenntnisse zur Hypothesenbildung für eine Narratologie des unbewegten Bildes. Dazu trägt zwar auch die relative Reizarmut unbewegter Bilder im Vergleich etwa zum Film bei, was der reduzierten Komplexität im Experiment nahekommt und die Übertragung der kognitionstheoretischen Erkenntnisse nachvollziehbarer macht; vor allem aber überzeugt in diesem Zusammenhang die differenzierte und anschaulich exemplifizierte Darstellung der theoretischen Grundlagen durch den Autor.</p> <p style="font-weight: 400;">Die Brücke zur Narratologie bildet dann ein Kapitel zu verschiedenen Darstellungsmodi von Bildern. Damit sind verschiedene "Bildtypen" (S. 61) gemeint, die dann ausgehend vom Einzelbild noch in Formen von seriellen Bildtypen unterteilt werden. Auf dieser Basis kann im Folgenden jene Annahme in der Narratologie kritisch geprüft werden, der zufolge Zustandsveränderung die Minimalbedingung für Narrativität bilde: Veits arbeitet sich hier an rigiden Positionen ab, die davon ausgehen, dass eine Zustandsveränderung mehr oder weniger direkt dargestellt sein müsse, um Narrativität zu erzeugen, und bringt in diesem Zusammenhang anschließend den Begriff der "Erfahrungshaftigkeit" von Monika Fludernik in Stellung: Fludernik nimmt eine Wendung hin zu den Rezipient*innen vor (S. 82ff), indem sie die Bedingung für das Verstehen medialer Deutungen in den Wissensbeständen der Rezipient*innen begründet sieht. Nach Fludernik entwickelt sich zwischen dem Medium und den Rezipient*innen ein Prozess der Erfahrungshaftigkeit, wenn zwischen den Wissensressourcen der Rezipient*innen und der medialen Darstellung eine Verknüpfung entsteht. Dieses Erfahrungswissen kann auf körperlicher Ebene, der Ebene des Bewusstseins und des Zeiterlebens bestehen (S. 82f). Hier kommen dann auch die Schemata ins Spiel, die als Wissensressourcen bei den Rezipient*innen durch Einzelbilder abgerufen werden können.</p> <p style="font-weight: 400;">Um die bisher entwickelten theoretischen Grundlagen seiner Studie weiter abzusichern, geht Veits noch auf die narrative Psychologie ein. Im Grunde geht es hier um eine grundsätzliche narrative Verfasstheit des Menschen im Austausch mit seiner Umwelt, die auch evolutionär begründet wird. Ob dieses Kapitel in seiner Ausführlichkeit notwendig gewesen wäre, um die Argumentation zu stützen, ist fraglich; interessant ist es aber allemal.</p> <p style="font-weight: 400;">Die Bestimmbarkeit des narrativen Potentials in unbewegten Bildern stellt eine zentrale Herausforderung dar, um die Anwendbarkeit des narratologischen Ansatzes auch für deren Analyse zu gewährleisten. Dem widmet Veits zwei weitere Kapitel. Etwa definiert Veits Formen von Aktivitätsdarstellungen nach den drei Dimensionen "kräftebezogen, räumlich und zeitlich" (S. 145ff). Auch hier überzeugt die Studie durch verschiedene Bildbeispiele mit Anschaulichkeit. Überhaupt werden in der Studie auch immer wieder Typologien aufgeführt, die eine gewisse Übersichtlichkeit gewähren. An dieser Stelle sei außerdem noch der Begriff der Prozessualität erwähnt, den Veits einführt, um die Analyse von unbewegten Bildern auf deren narratives Potential hin auszurichten und den Begriff der Narrativität schließlich zu vermeiden. Veits definiert Prozessualität folgendermaßen:</p> <p style="font-weight: 400;">"Fiktive Situationen, die auf problemorientierte Verhaltensweisen von Figuren verweisen, werden stets als 'prozesshafte' Verläufe rekonstruiert. Die Umsetzungsphase einer Problemlösung beinhaltet eine sukzessiv fortschreitende Kette von Aktivitäten, die zur Problemreduzierung zielgerichtet ausgeführt werden. In Bezug auf die Nachvollziehbarkeit eines auf diese Weise verknüpften Verlaufs von Problemlösungsschritten, die auf ein zu befriedigendes Bedürfnis ausgerichtet sind, spreche ich von Prozessualität." (S. 190)</p> <p style="font-weight: 400;">Wie stark die Darstellung von den Rezipient*innen gewissermaßen aufgefüllt werden muss, damit sie als narrativ wahrgenommen wird, hängt auch vom Bildtypus ab. Bei seriellen Bildern, die mehrere Phasen zeigen, muss eventuell weniger Aufwand betrieben werden als bei einem Einzelbild. Das und den Umstand, dass der Begriff der Narrativität in der Narratologie sehr unterschiedlich verwendet wird, führt Veits als Begründung für seinen Begriff des "narrativen Potentials" als Ziel der Analyse unbewegter Bilder an.</p> <p style="font-weight: 400;">Im letzten Kapitel werden die Kategorien dann anhand von Beispielanalysen erprobt, die durchaus auch den Anspruch haben, eine Typologie zu entwickeln: "Gleichzeitig erlaubt es das Korpus, einen breit gefächerten Überblick über die verschiedenen Strategien zu gewinnen, die von Bilderproduzierenden eingesetzt werden, um narrative Deutungen zu evozieren." (S. 201) Die Analysen zeigen dann auch überzeugend die Anwendbarkeit der Kategorien auf.</p> <p style="font-weight: 400;">Die Anschlussfähigkeit der Analysen an weitere Forschungsperspektiven bilden zudem eine der großen Qualitäten von Veits' Buch, wobei nicht ganz klar wird, warum er diese stellenweise nicht stärker hervorgehoben hat. So werden bei der Analyse des Gemäldes <em>Die Wahrsagerin</em> konsequent das Sujet und die Interaktion der Figuren mit den Kategorien der Aktivitätsdarstellung analysiert. Auf die auffällige Mimik der im Zentrum stehenden männlichen Figur geht der Autor allerdings nicht ein. Auch bleibt der Umstand, dass die einzige männliche Figur von lauter Frauen umringt und offenbar bestohlen wird, unerwähnt – was aus heutiger, genderpolitisch sensibilisierter Perspektive verstärkt Fragen aufwirft.</p> <p style="font-weight: 400;">Die analysierten Bilder sind ausreichend groß in Farbe abgedruckt und den Analysen jeweils vorangestellt, wodurch ein lästiges Blättern weitgehend entfällt. Das Buch ist insgesamt ansprechend gestaltet, das Schriftbild gut lesbar und der Aufbau übersichtlich. Das gut strukturierte Inhaltsverzeichnis ermöglicht es, auch zentrale Begriffe schnell zu finden, was den fehlenden Index zwar nicht komplett ersetzen kann, aber immerhin eine Orientierungshilfe darstellt. Mit der <em>Narratologie des Bildes</em> hat Andreas Veits wichtige Grundlagenforschung zum Verständnis unbewegter Bilder und deren Funktionsweisen geleistet. Darüber hinaus bietet die Studie ein effektives und anschlussfähiges Instrumentarium zur Analyse narrativer Potentiale unbewegter Bilder, das auch zahlreiche Anregungen für die Auseinandersetzung mit bewegten Bildern evoziert.</p> Rayd Khouloki Copyright (c) 2023 Rayd Khouloki http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 2023-11-16 2023-11-16 2023/2 10.25365/rezens-2023-2-12