[rezens.tfm] https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm <p>e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien</p> de-DE <p>Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de" target="_blank" rel="noopener">Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0</a>. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.</p> rezens.tfm@univie.ac.at (Redaktion [rezens.tfm]) florian.schwarz@univie.ac.at (Florian Schwarz) Thu, 16 May 2024 00:00:00 +0000 OJS 3.2.1.3 http://blogs.law.harvard.edu/tech/rss 60 Evelyn Echle/Kristina Köhler (Hg.): Mode. montage AV 32, 1/2023. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8736 <p>Audrey Hepburn im ikonischen "Little Black Dress" von Givenchy in <em>Breakfast at Tiffany’s </em>(Blake Edwards, US 1961), Anne Hathaway verloren im Fashionbusiness in <em>The Devil Wears Prada</em> (David Frankel, US 2006), das sind wahrscheinlich die ersten Assoziationen, die man hat, wenn man an das Thema Mode im Film denkt.<br />Zusammenarbeiten von großen Modehäusern bzw. renommierten Designern mit Filmschaffenden (wie Dior mit Hitchcock, Chanel mit Resnais oder Gaultier mit Besson), also Synergien, die sich zwischen Kunst und Kommerz bewegen, bilden aber nur einen kleinen Ausschnitt der vielschichtigen Wechselwirkungen von Film und Mode.<br /><br />Wie vielgestaltig diese sind, will diese Ausgabe der Zeitschrift <em>montage AV</em> mit ihrem Schwerpunkt Mode zeigen. Die beiden Herausgeberinnen Evelyn Echler und Kristina Köhler geben ihrem Editorial den Titel "Verwobenes" und lenken den Blick auf die nicht augenscheinlichen Verbindungen vom Stofflichen des Textils und der Materialität des Filmischen: Beispiele für dieses Naheverhältnis wären etwa die Kunststoff-Verbindung Zelluloid, die sowohl als durchsichtiger Träger für fotographische Filme, als auch – zumindest in ihrer Anfangszeit – in der Bekleidungsindustrie in Form von Korsettstäbchen oder Manschetten Verwendung findet, oder auch die Praxis der (analogen) Montage mit ihrer Ähnlichkeit zu dem Zuschneiden und Vernähen von Stoffen. <br /><br />Mode kommt aber auch eine diegetische Bedeutung im Film zu. Als Kostüm kann sie den Film in einer Zeit verorten und Zeitsprünge visualisieren, als Kleidung ist sie weit mehr als nur Angezogen-Sein, sondern sozialisiert und individualisiert ihren jeweiligen Charakter. <br /><br />Die Beiträge dieser Ausgabe setzen sich aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln mit der ästhetischen, kommerziellen, sozialen und historischen Bedeutung von Bekleidung im Zusammenhang mit filmischer Erzählung auseinander. <br /><br />Zwei Texte beschäftigen sich mit der Stummfilmzeit: Marie-Aude Baronian stellt den Schrankkoffer der armenischen Schauspielerin und Genozid-Überlebenden Aurora Mardiganian in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zum Kostüm und seiner Bedeutung für eine Erinnerungskultur, die sowohl etwas Identitätsstiftendes hat, als auch einem gewissen Exotismus Vorschub leistet. Der überdimensionale Koffer wie auch sein Inhalt, Kleider und Accessoires waren, als Überbleibsel aus einem ausgelöschten armenischen Lebensalltag, Teil der Promotionstour durch die USA, auf der Aurora Mardiganian den Film <em>Auction of Souls</em> (auch: <em>Ravished Armenia</em>, Oscar Apfel, US 1919) begleitete, von dem heute nur noch wenige Fragmente erhalten sind.<br />1919 ist auch der Zeitpunkt, an dem Jeanpaul Goergen seinen Beitrag über die vielgestaltige Beziehung von Mode und Film festmacht. Im ersten Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kommt der Damenmode eine besondere Bedeutung zuteil: die Sehnsucht nach Luxus und Zerstreuung lässt Mode zu einem Wirtschaftsfaktor werden, der auch die Filmwelt nachhaltig durchdringt, von den Kostümen im Film, der Kleidung der (weiblichen) Stars, bis hin zu Berufsfeldern wie dem Kostümbild. <br />Auch einen Weltkrieg später zeigen sich Wirtschaftswachstum und Fortschrittswille an der Mode. Sigrun Lehnert untersucht in ihrem Text "Vom Luxushotel zur Fabrikhalle", dass Modeschauen von 1950-1965 ebenso integraler wie auch beliebter Bestandteil von Kino-Wochenschauen in Ost- und Westdeutschland waren und macht anschaulich, wie nicht nur ideologische, sondern auch ästhetische und inszenatorische Unterschiede zu erkennen sind.<br /><br />Eine Modenschau als Film, die Präsentation der Hermès-Herren-Kollektion Sommer 2021 mit dem vielsagendem Titel <em>Hors-Champ</em>, entpuppt sich in Bianka-Isabell Scharmanns Text als viel mehr als nur eine Notlösung, um die pandemiebedingte Unmöglichkeit einer Show vor einem Livepublikum zu kompensieren.<br /><br />Die seltsam aus der Zeit gefallene Kleidung der Hauptfigur Martha aus Rainer Werner Fassbinders gleichnamigem Film aus dem Jahr 1974 ist der Ausgangspunkt für Christine Noll Brinckmanns Überlegungen zu einer – selbst im Nachkriegsdeutschland – omnipräsenten NS-Ideologie, die das Geschlechterverhältnis prägt: "zu der Erkenntnis Fassbinders, dass der Schatten der NS-Zeit, der noch Jahrzehnte über der bürgerlichen Ehe liegt, für eine unheilvolle Polarisierung der Geschlechter sorgt; und dass übermäßiger Masochismus in die Hölle weiblicher Lähmung führt" (S.112).</p> Aki Beckmann Copyright (c) 2024 Aki Beckmann http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8736 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Vinzenz Hediger/Rembert Hüser (Hg.): Jean-Luc Godard. Film denken nach der Geschichte des Kinos. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8655 <p style="font-weight: 400;">Während in der französisch- und englischsprachigen Literatur die Beschäftigung mit Jean-Luc Godards (Spät-)Werk schon ein eigenes Forschungsgebiet gebildet hat, findet sie in den hiesigen Film- und Medienwissenschaften eher in kleinerer Form statt. Das Interesse an Godards Arbeiten entspringt dabei am Übergang von Cinephilie, Poetologie und Medientheorie – schriftliche Auseinandersetzungen lesen sich so auch schon mal als Paratexte zu Godards Œuvre, etwa jene von Nicole Brenez. Neben seinen eigenen Kritiken für die <em>Cahiers du Cinéma</em> gilt Godards Werk nicht als das eines Literaten, wenngleich der Kern seiner Arbeit in der brechtschen Konfrontation von Worten und Bildern liegt. Seine verstreuten Publikationen beinhalten Gespräche, beispielsweise mit dem Filmwissenschaftler Youssef Ishaghpour, gehaltene Vorträge oder die Herausgabe seiner Filme in Manuskriptform. Darüber hinaus versuchen nicht erst seit seinem Tod unterschiedliche Biografien, sein Leben für das Kino auszubuchstabieren, etwa auf Deutsch von Bert Rebhandl oder (erst kürzlich aktualisiert) auf Französisch von Antoine de Baecque.</p> <p style="font-weight: 400;">Möglicherweise darf Godard als einer der Filmemacher gelten, die zu Lebzeiten mit den meisten akademischen Texten bedacht wurden. Aus ihnen lässt sich allgemein ableiten, dass sowohl die Beschäftigung mit dem Werk als auch seiner Künstlerperson unablässig theoretische Fragen der Filmgeschichte evoziert. Um dieses Paradigma kreist der Sammelband von Vinzenz Hediger und Rembert Hüser, worin schon im Titel eine doppelte Figur des "d'après / après" der Kinogeschichte reklamiert wird. "Film denken nach der Geschichte des Kinos", bezieht sich einerseits auf eine historisch ausgewiesene Filmtheorie, und andererseits, im Sinne des Post-Cinema-Diskurses, dem Philipp Stadelmaier unlängst eine Studie zu Godard und Serge Daney widmete, auf eine alte (abgeschlossene) und neue Filmgeschichte.</p> <p style="font-weight: 400;">In seinem kenntnisreichen Einleitungstext geht Hediger den Hypothesen des Bandes grundlegend nach und problematisiert, was Godard eigentlich unter Geschichte begreifen könnte. Hediger weist dazu auf die bereits geleistete Arbeit von Michael Witt mit <em>Jean-Luc Godard, Cinema Historian</em> hin, die Godards filmhistorisch-selbstreflexives Opus Magnum <em>Histoire(s) du cinéma</em> referiert. Insofern handele es sich um eine "subjektiv-leidenschaftliche Historiografie" (S. 13), die vor allem dem Modell einer nationalen Filmgeschichte entspringt, welche sich auf einen populären wie künstlerischen Kino-Begriff der Länder Russland, Deutschland, Frankreich, USA und Italien stützt. Diese Betrachtungsweise geht auf die Generation der <em>Cahiers</em>-Autoren in den 1950er Jahren zurück, deren Kritik sich an der französischen Kunstkritik unter dem Einfluss rechter Denker wie Jacques Laurent, Lucien Rebatet, Maurice Bardèche und Robert Brasillach orientierte (ebd.). Im Verhältnis zum breit rezipierten Manifest des indischen Filmkritikers Girish Shambu "For a new cinephilia" in <em>Film Quarterly</em> stellt Hediger dann die Frage, worin noch die Aktualität von Godards Denken besteht. Statt bloßer Modernität wäre bei Godard ein nostalgisches Moment zu vernehmen, das aber weiterhin den modernen Charakter einer "stets erneuerbaren Form von Sehen und Wahrnehmung für das Kino" (S. 14) trägt.</p> <p style="font-weight: 400;">Auf Grundlage einer nun über zehn Jahre zurückliegenden Vorlesungsreihe an der Goethe Universität (als wiederkehrende Kooperation zwischen Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Deutsches Filminstitut &amp; Filmmuseum) versammelt der Band sowohl namhafte internationale Wissenschaftler*innen als auch Kritiker*innen. In zuweilen essayistischen Einzelstudien, die sich durch die Phasen von Godards Film-Biografie bewegen, wird damit der aktuelle Forschungsstand abgebildet. Zunächst fallen die methodischen Überlegungen von Georges Didi-Huberman auf, die man zwar auch in seinen Büchern nachlesen kann, sich hier aber in komprimierter Form auf die Bedeutung der Sprachspiele konzentrieren, die mit der Montage verwandt erscheinen: "[E]s geht darum, Ordnungsrufe zu formulieren, definitive Formen zu schaffen, Bilder, die keine Diskussion zulassen (<em>voilà, no comment</em>), aber das auf der Grundlage einer entorteten, dislozierten Sprache" (S. 45).</p> <p style="font-weight: 400;">Dass die Erforschung des Godard-Werks nicht notwendigerweise widerspruchsfrei ist und man eine gewisse Fehlertoleranz mitbringen muss, wird spätestens hier deutlich. Das Erkenntnisinteresse sollte eher darin bestehen, eine besondere Präzision in den verworrenen Zerlegungen nachzuzeichnen. So könnte in den Dichotomien eine Wahrheit liegen, die aber nicht mehr dem angehört, der mit dem Amalgam spielt (Godard). Demzufolge entsprechen die nachfolgenden Betrachtungen beispielhaften Ortungsversuchen, wo sich Godard in seinen Filmen bemerkbar macht und wo er zum Vermittler der Medienkultur in den 1960ern wird. Spielerisch-werktreu ist dies bei Rembert Hüser nachzulesen. Ausgehend von <em>La Chinoise</em> ließe sich Godards Unterfangen im Allgemeinen nämlich als recherchierende Versuchsanordnung verstehen, indem disparates Material ergebnisoffen hintereinandergestellt wird, was ebenso auf Godards Vorlesungsreihe <em>Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos</em> zuträfe: "Die Fundstücke sind schnell zusammengeholt, relativ beliebig und stofflich motiviert. […] Aber hier muss man ansetzen, wenn man nicht will, dass es ewig so weiter geht." (S. 103) Mit dieser Arbeitsform des Versatzstücks deutet Hüser bereits auf die bislang weniger erforschte Zeit nach 1968 in Godards Film-Biografie hin.</p> <p style="font-weight: 400;">Die anschließenden Texte, insbesondere jener von Michael Witt über die Adaption <em>Voyager à travers un film</em> von <em>Sauve qui peut (la vie)</em>, versuchen dahingehend Schlaglichter auf vergessene Arbeiten Godards zu werfen und deren Hintergründe zu beleuchten. Es stellt sich heraus, dass Godard immer wieder seine eigenen Arbeiten neu zusammensetzte oder das Neue in kleinerer Form erprobte. Gleichzeitig war er von Geldgebern wie Fernsehanstalten oder Marken abhängig, in deren Auftrag ebenso einige der abweichenden Arbeiten entstanden. So werden in den Texten vor allem Einblicke in unzugängliche Werke (vielleicht eher Werkprozesse) ermöglicht. Ähnlich zu seiner letzten, postum in Cannes gezeigten Arbeit <em>Drôles de Guerres</em> haftet an den wissenschaftlich beförderten Wiederentdeckungen aber eine unübersehbare und zudem möglicherweise selbsterzeugte Fetischisierung Godards. Sie lässt zum einen danach fragen, was das Verschwinden bedingt – Witt erklärt es mit dem geringen Interesse für die Produktionsbedingungen am Beispiel des Schweizer Fernsehens – und zum anderen, ob dieses archäologische Denken nicht auch schon ideell in Godards Werk angelegt sei (vgl. S. 157). Eine Antwort darauf liefert Regine Prange, die aus Sicht der Kunstgeschichte Godards Versuch examiniert, in <em>Passion</em> der Geschichte durch Gemälde habhaft zu werden:</p> <p style="font-weight: 400;">"Anders als Jerzy analysiert [Godard] die historischen Bildwelten und ihre narrativen Strategien als Ausdruck konkreter Herrschaftsverhältnisse. […] Deutungen, die <em>Passion</em> für eine postmoderne Inthronisierung des Imaginären reklamieren, müssen notwendigerweise an dieser materialistischen Geschichtstheorie Godards vorbeigehen und lassen die Perspektivierung des filmischen Denkens […] außer Acht." (S. 179)</p> <p style="font-weight: 400;">Die Unmöglichkeit des Geschichte(n)-Erzählens, mit der Jerzy in <em>Passion</em> konfrontiert ist, verkörpere insofern einen filmhistorischen Nullpunkt, die postkinematografische Utopie, in der die Bilder von selbst zu erzählen beginnen. Godard greift dafür auf die Ikonographie "christlicher wie pagan-antiker Befreiungsmythologien" zurück: "Die Schwelle zwischen 'fremdbestimmter' Inszenierung und zufällig ins Bild kommenden 'echten' Handlungen wird unbestimmbar gemacht, und in dieser Bild-Störung manifestiert sich die Utopie der Postkinematografie." (S. 197) Laut Volker Pantenburg stellt sich darin ebenso ein zentraler Konflikt dar, in dem Godard immer wieder zweifelhaft erstrebte, vor der eigens theoretisierten Autorenpersona (<em>Politiques des Auteurs</em>) zu fliehen, um sie schließlich doch anzunehmen und zu verwandeln. Alle Formen des entgrenzten Filmischen durch Methoden der Polyphonie oder Skizzenhaftigkeit würden demnach an einer Neuverortung Godards zum "Zuschauer oder Kommentator" arbeiten, kulminiert in den <em>Histoire(s) du cinéma</em> (vgl. S. 219). Damit hätte für Daniel Fairfax die "anti-dialektische Phase (1973–1979)" Godards geendet, um sich stärker einer Begriffsarbeit des Bildes zuzuwenden und wieder an die eigenen filmischen Anfänge in Anlehnung an Sergei Eisenstein sowie seines "dritten Bildes" anzuknüpfen, was sich in der 3D-Arbeit <em>Adieu au language</em> manifestiere. Zwei Augen derselben Betrachter*in könnten darin unterschiedliche Bilder sehen und zugleich begreifen, wie sie sich unweigerlich denkend überlagern (vgl. S. 269). "[I]m Wesentlichen erreichen sie auf einer räumlichen Ebene, was die jump cuts von Jean Seberg auf der Fahrt durch Paris in <em>À bout de souffle</em> auf der zeitlichen Ebene schaffen." (S. 276) Fairfax weist daraufhin, dass Godard erstaunlicherweise in dieser Form nicht mit historischem Material arbeitete. Die Antwort könnte in einer kulturkritischen Ethik der Bilder enthalten sein, die Hediger in seinem abschließenden Text skizziert und damit gewissermaßen die vermissten zeitgeschichtlichen Bezüge entschuldigt, von denen Godards Filme ebenso leben – darunter nicht zuletzt sein oft merkwürdiges bis zweifelhaftes Interesse für die deutschen Republiken oder den Nahen Osten.</p> <p style="font-weight: 400;"><em>Jean-Luc Godard. Film denken nach der Geschichte des Kinos</em> liefert primär Einblicke in die aktuelle Godard-Forschung und bringt bislang kaum zugängliche Werke näher. Dennoch liest sich der Band eher wie ein nostalgisch erinnertes, nicht sonderlich sorgfältig lektoriertes Vorlesungskompendium, dessen Erkenntnisse selten über Godard hinausweisen. Eine angemessene Würdigung im Sinne weiterdenkende Lektüre, also Film denken nach Godard, kann man dem Band leider nur in Ansätzen entnehmen.</p> Ronny Günl Copyright (c) 2024 Ronny Günl http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8655 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Sassan Niasseri: Shoot 'em in the Head. Eine Film- und Seriengeschichte der Zombies. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8657 <p style="font-weight: 400;">Zombies sind in der Populärkultur nicht totzukriegen, wie die weit gestreuten alltagssprachlichen Verwendungen zeigen: Sie reichen vom Cocktailnamen bis zu wirtschaftlich maroden "Zombiebanken" und auf Smartphones starrenden "Smombies". Der Zombie als Untersuchungsgegenstand ist mittlerweile auch vermehrt Thema wissenschaftlicher Publikationen. Insbesondere im letzten Jahrzehnt sind viele Veröffentlichungen mit unterschiedlichen Ansätzen erschienen. Der Großteil dieser Publikationen verfolgt eher film- und nahe kulturwissenschaftliche Ansätze (u. a. Kleinschnittger 2015, Abbot 2016, Kee 2017, Olney 2017, Ziegler 2017, Wadell 2018, Cameron 2021, Saldarriga/Manini 2022). Einige Publikationen fokussieren Themen wie die pandemische Dimension des Zombiefilms (Kroulík 2021, Laltha 2023) oder setzen einen politikwissenschaftlichen Schwerpunkt (Drezner 2022). Sassan Niasseris neue Monografie <em>Shoot 'em in the Head</em> begleitet den Zombiefilm chronologisch von seinen Anfängen bis in die Gegenwart. Während sich in anderen Publikationen die Filmanalysen häufig einem übergeordneten Thema anpassen, geht <em>Shoot 'em in the Head</em> den umgekehrten Weg. Durch die Beschreibung einzelner Filme werden neue, verbindende Motive eröffnet.</p> <p style="font-weight: 400;">In der Einleitung werden einige grundlegende Begriffe wie die ursprüngliche Bedeutung des Zombies erklärt und eine Abgrenzung zu anderen Monstern der Populärkultur vorgenommen (vgl. S. 27f). Unterteilt in drei größere Abschnitte, werden in chronologischer Reihenfolge Produktionen aus unterschiedlichen Ländern besprochen, wobei der Fokus auf US-amerikanischen Produktionen liegt. Der Umfang die einzelnen Beiträge variiert von mehrseitigen Analysen bis zu kurzen Besprechungen. Ergänzt werden die einzelnen Beiträge durch Interviews mit an der Produktion beteiligten Personen. Diese Interviews sind nicht in kompletter Länge abgedruckt, sondern im Fließtext zu einzelnen Aspekten des jeweiligen Films eingebunden. Eines der Hauptanliegen des Autors ist es, den Zombiefilm in seiner politischen Relevanz hervorzuheben. So würden Zombiefilme stärker als viele andere Horrorfilme gesellschaftliche Spannungen aufarbeiten, wie Niasseri zu belegen versucht.</p> <p style="font-weight: 400;">Erwartungsgemäß großen Raum nehmen die Filme des US-amerikanischen Regisseurs George A. Romero (1940-2017) ein. Mit <em>Night of the Living Dead</em> (US 1968), <em>Dawn of the Dead</em> (US/IT 1978) und <em>Day of the Dead</em> (US 1985) erschuf dieser drei der einflussreichsten Genrebeiträge. Zwar sei Romero nicht der Erfinder der Zombies, aber maßgeblich für die Popularität des Zombies im Film verantwortlich (vgl. S. 22). Er griff dazu eine zeitgenössische Strömung des Horrorkinos auf: Bereits in den 1950er Jahren waren Horrorfilme vor allem durch die Motive der Technikskepsis und Angst vor kommunistischer Invasion und Kollektivismus geprägt (vgl. Kleinschnittger 2015, S. 71).</p> <p style="font-weight: 400;">Niasseri betont auch wiederkehrende Themen, die das Werk von Romero prägen. So etwa ein ambivalenter Rassismusdiskurs. Alles Nicht-<em>Weiße</em> würde auf einer symbolischen Ebene mit Infektion gleichgesetzt, aber selbst <em>weiße</em> Menschen würden durch das Virus ihre zugeschriebenen privilegierten Eigenschaften verlieren (vgl. Kee 2017, S. 53). Auch Medienkritik ist ein fester Bestandteil der Filme von Romero, und besonders diese Sichtweise wurde von anderen Zombiefilmen übernommen, die Medien und deren Berichterstattung (samt sich verselbständiger Panikschleifen) insgesamt als negativ darstellen (vgl. Cameron 2021, S. 50). Vor allem sei Kapitalismuskritik kennzeichnend für das Werk von Romero. Die Kritik von Romero an der (amerikanischen) Konsumkultur lautet überspitzt formuliert: Wer seine Zeit mit sinnlosem Konsum verschwendet, ist der wirkliche Zombie (vgl. Saldarriga/Manini 2022, S. 55). Last but not least, experimentierte Romero mit progressiven Frauenrollen. <em>Day of the Dead</em> wäre fast als Horrorfilm mit einer der progressivsten Frauenrollen in die Filmgeschichte eingegangen. Allerdings überstrahlte der zeitgleich wesentlich erfolgreichere <em>Aliens </em>(James Cameron, US/UK 1986) den Film in dieser Hinsicht (vgl. S. 58).</p> <p style="font-weight: 400;">Mit dem zweiten Kapitel des Buches ("Wanderjahre") ist der Zombiefilm im Bereich des Mainstreamkinos angekommen. Das Subgenre ist in den 1980er Jahren durch immer heftigere Gewaltdarstellungen auch ein Objekt erhöhter behördlicher Aufmerksamkeit. Zusammen mit anderen Horrorfilmen landen viele Filme auf Verbotslisten, die letztendlich deren Bekanntheit nur steigern sollten (vgl. S. 72f). In diesem Zusammenhang schildert der Autor, dass der Zombie zunehmend des ursprünglichen Grusels beraubt wurde. Damit einhergehend findet auch ein Abflachen der kritischen Grundtöne statt. Filme wie <em>The Return of the Living Dead</em> (Dan O'Bannon, US 1985) und <em>Braindead</em> (Peter Jackson, NZ 1992) vermischen Horror mit Comedy. Rückblickend wird gerade an diesen Zombiefilmen kritisch betrachtet, wie sie den weiblichen Körper als erotisiertes Objekt männlicher Befriedigung darstellen und die Frau zu einer Quelle des Horrors transformieren (vgl. Olney 2017, S. 84).</p> <p style="font-weight: 400;">Der Zombiefilm verliert in den 1990er Jahren zunehmend an Bedeutung. Mit <em>Resident Evil</em> (ab 1996) erschien eine populäre Spieleserie vom japanischen Entwicklungsstudio Capcom. Die übergeordnete Handlung der Spiele und ihrer Filmumsetzungen kann auch als kritische Betrachtung von Großkonzernen und deren intransparenter Geschäftsaktivitäten gesehen werden (vgl. S. 102f). Dies sorgte insgesamt für neue Impulse für das Genre.</p> <p style="font-weight: 400;">Um die Jahrtausendwende erlebt der Zombiefilm eine neue Popularität, besonders ausgehend vom Remake von <em>Dawn of the Dead</em> (Zack Snyder, US/FR/JP 2004). Mit diesen Entwicklungen beschäftigt sich das letzte Kapitel des Buchs. Viele Zombiefilme in diesen Jahren thematisieren gegenwartspolitische Entwicklungen wie die Angst vor "Überfremdung", Terrorgefahr und die Zerstörung der Umwelt (vgl. S. 117f). In produktionstechnischer Sicht erreichen Zombiefilme neue Höhen. Mit <em>World War Z</em> (Marc Forster, US 2013) entsteht der bis dahin teuerste Genrebeitrag, ein Film, der auch als wütender Kommentar auf den Spätkapitalismus und seine globalen Verknüpfungen verstanden werden kann (vgl. Olney 2017, S. 77). Der globale Erfolg der Horrorfigur des Zombies zeigt sich auch in einer Reihe von asiatischen Produktionen. Mit der TV-Serie <em>The Walking Dead</em> (US 2010-2022) entsteht außerdem eine der populärsten TV-Serien der letzten Jahre, die den Maßstab von Gewaltdarstellungen im Mainstream-TV verändert hat (vgl. S. 166).</p> <p style="font-weight: 400;">Die Publikation legt anhand von Filmanalysen dar, wie sich die Popularität des Zombies in den letzten Jahrzehnten bis in die Gegenwart entwickelt hat. Leider verpasst das Buch die Chance, wissenschaftliche Literatur stärker in die Analysen einfließen zu lassen. Somit bewegt sich der Inhalt eher zwischen Fandiskursen und Journalismus. Der kulturwissenschaftliche Anteil der Quellen ist in der Minderheit. Das Buch eignet sich daher vor allem für Fankreise und Einsteiger*innen in die Thematik. Vor allem für Filmfans bietet das Buch einen reichhaltigen Fundus, da es sich auch mit einigen Aspekten der Filmproduktion beschäftigt. Dazu tragen vor allem Auszüge aus den Interviews bei.</p> <p style="font-weight: 400;">Im Kontext des globalen Phänomens des Zombies wären tiefere Analysen von Produktionen außerhalb des englischsprachigen Raums – vor allem im asiatischen Raum – interessant gewesen. Weiterführende (wissenschaftliche) Literaturhinweise zum Thema Zombies wären eine wertvolle Ergänzung gewesen, die in der Publikation angegebenen Quellen verweisen überwiegend auf journalistische Onlineportale. Positiv hervorzuheben ist, dass diese Publikation auch als Einstieg in die Thematik dienen kann, vor allem aufgrund der leicht verständlichen Schreibweise. Die Publikation leistet einen Beitrag dazu, ein interessiertes Laienpublikum auf die Komplexität der populär- und alltagskulturellen Figur des Zombies hinzuführen. Für eine konzeptuell rigorosere Auseinandersetzung mit dem Zombie sei hingegen auf die weitere hier zitierte Fachliteratur zum Thema verwiesen.</p> <p style="font-weight: 400;"><strong>Literatur:</strong></p> <p style="font-weight: 400;">Abbott, Stacey: <em>Undead Apocalyse. </em><em>Vampires and Zombies in the 21st Century</em>. Edinburgh: Edinburgh University Press 2016. <a href="https://www.cambridge.org/core/books/undead-apocalyse/55D90CBBCB6F71E77E1ADDBDEE5346FB">https://www.cambridge.org/core/books/undead-apocalyse/55D90CBBCB6F71E77E1ADDBDEE5346FB</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Cameron, Allan: <em>Visceral Screens. Mediation and Matter in Horror Cinema.</em> Edinburgh: Edinburgh University Press 2021. <a href="https://doi.org/10.1515/9781474419208">https://doi.org/10.1515/9781474419208</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Drezner, Daniel: <em>Theories of International Politics and Zombies.</em> Princeton: Princeton University Press 2022. <a href="https://doi.org/10.1515/9780691223520">https://doi.org/10.1515/9780691223520</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Kee, Chera: <em>Not Your Average Zombie. Rehumanizing the Undead from Voodoo to Zombie Walks.</em> New York: University of Texas Press 2017. <a href="https://doi.org/10.7560/313176">https://doi.org/10.7560/313176</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Kleinschnittger, Vanessa: <em>Zombie Society. Mediale Modulationen der Figur des Zombies in Vergangenheit und Gegenwart. </em>Baden-Baden: Nomos 2015. <a href="https://doi.org/10.5771/9783845265827">https://doi.org/10.5771/9783845265827</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Kroulík, Milan: "Pandemics and Zombies. How to Think Tropical Imaginaries with Cinematic Cosmologies". In: <em>eTropic. Electronic Journal of Studies in the Tropics </em>20/1, 2021<em>.</em><a href="https://doaj.org/article/b9a7a6ca2e904e0db649e3c5c3743b5c">https://doaj.org/article/b9a7a6ca2e904e0db649e3c5c3743b5c</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Laltha, Samiksha: "Creatures in our bed. Pandemics, posthumanism and predatory nature in World War Z (2013)". In: <em>HTS Teologiese Studies/Theological Studies </em>79/3, 2023. <a href="https://doi.org/10.4102/hts.v79i3.7935">https://doi.org/10.4102/hts.v79i3.7935</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Olney, Ian: <em>Zombie Cinema</em>. Ithaca: Rutgers University Press 2017. <a href="https://doi.org/10.36019/9780813579498">https://doi.org/10.36019/9780813579498</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Saldarriaga, Patricia/Manini, Emy: <em>Infected Empires. Decolonizing Zombies</em>. Ithaca: Rutgers University Press 2022. <a href="https://doi.org/10.36019/9781978826823">https://doi.org/10.36019/9781978826823</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Waddell, Calum: <em>The Style of Sleaze. The American Exploitation Film 1959-1977</em>. Edinburgh: Edinburgh University Press 2018. <a href="https://doi.org/10.1515/9781474409261">https://doi.org/10.1515/9781474409261</a>.</p> <p style="font-weight: 400;">Ziegler, Daniel: "Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation". In: <em>Kino und Krise. Kultursoziologische Beiträge zur Krisenreflexion im Film</em>. Hg. v. Lim Il-Tschung/Daniel Ziegler, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 31-49. <a href="https://doi.org/10.1007/978-3-658-14933-8_2">https://doi.org/10.1007/978-3-658-14933-8_2</a>.</p> Angelo Wiesel Copyright (c) 2024 Angelo Wiesel http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8657 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Charlotte Arnsperger: Im Archiv. Der Suhrkamp Theaterverlag in den 1960er und 1970er Jahren. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8068 <p>Kulturbetriebliche Einrichtungen wie Buchverlage und Agenturen wurden bislang in historiografischen Zugängen zum Theater nach 1945 nicht zentral berücksichtigt. Dies ändert die Literaturwissenschaftlerin Charlotte Arnsperger mit <em>Im Archiv,</em> ihrer 2018 an der Universität Tübingen angenommenen und 2022 publizierten Dissertation. Sie legt das Augenmerk auf das dramenspezifische Verlegen im Suhrkamp Verlag, indem sie die Theaterabteilung des renommierten Frankfurter Verlagshauses in den 1960/70er Jahren untersucht. An der Schnittstelle von Literatur- und Theaterwissenschaft widmet sich die innovative Studie damit dem Verlegen deutschsprachiger Dramatik innerhalb eines Buchverlags und stellt die Theaterverlagsgeschichte ausgehend von noch unerschlossenen Archivbeständen dar. Dadurch erweitert sie den bislang vorrangig fokussierten Zeitraum theaterhistoriografischer Untersuchungen zu Agenturtätigkeiten vom Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Watzka 2006) um das Verlegen von Theater- und Medientexten in der Bundesrepublik nach 1945.</p> <p><em>Im Archiv</em> reiht sich ein in buch-, literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zu Verlagsgeschichten, welche die Relevanz solcher Kulturunternehmen für das intellektuelle Klima der alten Bundesrepublik diskutieren (Felsch 2015; Gerlach 2005; Misterek 2002). Nicht selten ist der Suhrkamp Verlag sozialgeschichtlicher Gegenstand, um das Publizieren von Lyrik, Romanen oder auch Theorie basierend auf Archivmaterial zu beleuchten. Einschlägig war dafür das Suhrkamp-Forschungskolleg (2012–2016) am Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. zur Bestandserschließung und -erforschung des Siegfried-Unseld-Archivs (vgl. Jaspers 2022; Amslinger 2018; Sprengel 2016). In ebenjenem Kontext entstand auch die vorliegende Arbeit, die das Archiv der Theaterabteilung von Suhrkamp zum Ausgangspunkt nimmt und seine prekäre Systematik nicht nur problematisiert, sondern methodisch in einen deskriptiven Zugang zum Verlegen von Dramatik <em>im Archiv </em>überführt.</p> <p>In acht Teilen beschreibt die Autorin den Suhrkamp Theaterverlag auf Basis von Korrespondenzen, Reisenotizen und Ankündigungen und spürt dabei einer verlagsspezifischen Konzeption des Dramas nach. Arnsperger arbeitet Verbindungen zwischen Theaterinstitutionen, Dramaturg*innen, Autor*innen, Regisseur*innen, aber auch zwischen theater- und medienwissenschaftlichen Einrichtungen heraus, die den Verlag als "'Hauptumschlagplatz' für Autoren, Ideen und Stücke" (S. 9) sichtbar werden lässt.</p> <p>Die Einleitung gibt einen kurzen Überblick zur Genese von Bühnen- und Theatervertriebsstrukturen im deutschsprachigen Raum. Davon ausgehend argumentiert die Verfasserin, dass es ihr weniger um Distributionswege zwischen Verlag und Bühnen gehe. Vielmehr stünden verlagsseitige Konzeptionen von Drama und Theater im Zentrum, die für den Aufbau der Theaterabteilung ab 1959 konstitutiv gewesen seien. Für deren Freilegung werden vor allem bekannte Namen aus Theater und Literatur der Nachkriegszeit aufgerufen (z. B. Max Frisch, Peter Suhrkamp, Martin Walser).</p> <p>Der II. Teil ("Quellen und Vorgehensweise") ist methodologischen Überlegungen zum Verlagsarchiv gewidmet. Arnsperger geht der Spezifik von Verlagsarchiven nach, die sie gleichermaßen als Archive für Literatur und die Privatwirtschaft beschreibt. Sie gelangt so von allgemeinen Verlagsarchiven in Deutschland zur Bestandsebene des Siegfried-Unseld-Archivs und differenziert die archivischen Voraussetzungen von Suhrkamps Buch- und Theaterverlag: das "Theaterarchiv" (S. 48) sei vergleichsweise lückenhaft und stehe in Zusammenhang mit differenzierten Arbeitsmodi der Bühnen.</p> <p>Am umfangreichsten ist der III. Teil, der sich dem "Dramenboom" widmet. Ausgehend von den Reihen <em>Suhrkamp Spectaculum</em> und <em>Im Dialog</em> diskutiert die Verfasserin die Aufmachung von Dramenanthologien. Im Rekurs auf Willy Fleckhaus werden Umschlaggestaltungen und Typographien exemplifiziert. Entscheidend ist, dass die Verfasserin nicht nur Designmerkmale wiedergibt, sondern die "Lesebühne[n] der Dramatik des Verlags" (S. 91) im Zusammenspiel mit Peter Szondis <em>Theorie des modernen Dramas</em> von 1956 diskutiert. Anders als z. B. in Siegfried Melchingers aufführungszentriertem <em>Theater der Gegenwart</em> aus demselben Jahr, erkennt sie in der Dissertation Szondis eine prinzipielle Aufwertung der jüngeren Dramenlektüre. Ausgehend davon attestiert sie ab Ende der 1950er Jahre, und damit parallel zum Aufbau der Theaterabteilung, eine Konjunktur des Lesedramas im Taschenbuch, das als "mobiles Buch" (S. 79) auch zur Mitnahme ins Theater einlade.</p> <p>Ab dem IV. Teil wird der Theaterverlag in Konkurrenz zum Mediensektor in der BRD dargestellt. Auf die Verbreitung von Massenmedien reagiert der Verlag mit der Platzierung von Theateraufzeichnungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und mit Rundfunkkooperationen. Der "Medienwandel" (S. 104) werde aber auch innerhalb des Verlagshauses von politischen Nutzungsdebatten flankiert, wie die Autorin in Bezug auf Enzensbergers <em>Bewusstseins-Industrie</em> verdeutlicht (vgl. S. 118).</p> <p>Mit den medialen Verschiebungen modifiziert Arnsperger ihre Perspektive: Der Teil "Theaterräume" löst sich von den engen Vorgaben des Archivs und nimmt Bezug auf theaterwissenschaftliche Theorien. Im Rekurs auf Hans-Thies Lehmanns <em>Postdramatisches Theater</em> (1999) und Erika Fischer-Lichtes <em>Ästhetik des Performativen</em> (2004) konstatiert sie eine Zäsur im Theater der 1960er Jahre, welche das "Zentrum der Theaterpraxis" (S. 129) verrücke und infolge dessen dem Absatz von Dramatik zuwiderlaufe. Referenziert werden einschlägige Debatten seit den 1950er Jahren. Happening, "Mitspiel" (S. 139) oder auch Diskussionen um Theaterarchitektur bindet Arnsperger an personelle Knotenpunkte im Suhrkamp-Netzwerk zurück, wobei der Bezug zum Verlegen von Dramatik an dieser Stelle eher latent ist.</p> <p>Die Absatzminderung deutschsprachiger Dramen aus dem Suhrkamp Verlag bilanziert die Verfasserin abschließend als "Dramenkrise". Begleitet wird diese auf institutioneller Ebene von der kulturgeschichtlich weithin bekannten Kündigungswelle in Zusammenhang mit dem "Aufstand der Lektoren" 1968. Gleichzeitig identifiziert Arnsperger neben einer Renaissance von Klassikerinszenierungen auch die "Werktreue"-Diskussion als Teil der "Dramenkrise". Sie nimmt zwar Christopher Balmes Einordnung der national-völkischen Färbung des Begriffs zur Kenntnis, hält allerdings entgegen, dass der Werkstatus für kulturökonomische Debatten um die Entlohnung zeitgenössischer Theaterautor*innen, wie sie sie im Archiv vorfinde, entscheidend sei.</p> <p>Der VII. Teil wagt einen "Ausblick in die 1970er Jahre". Die Gründung des Medienverlags und der Suhrkamp-Produktionsgesellschaft markiere eine Verlagerung von der Theorie zur Praxis innerhalb des Unternehmens. Damit schließt Arnsperger wieder an ihre Ausgangsthese des Aufbruchs der Dramenlektüre durch Szondis <em>Theorie des modernen Dramas </em>an. Der Dramenboom ende sodann in den 1970er Jahren in einer Krise, die im "Fehlen zeitgenössischer Dramatik" (S. 199) kulminiere.</p> <p>Gibt diese Gesamtkonzeption der Dissertation über den Theaterverlag in zwei Dekaden zwar eine thesenhafte Form, führt sie im Fazit jedoch zu einer nicht unproblematischen Generalisierung der Dramenkrise als Theaterkrise: "Die 1960er Jahre sind für das Theater eine Phase der Blüte, des Experiments und der Visionen, und diese Bewegungen werden im Theaterverlag aufgegriffen oder angestoßen. Dagegen bricht mit den angehenden 1970er Jahren eine Krisenstimmung an, die die enthusiastische Aufbruchsbewegung der vorherigen Dekade ablöst." (S. 211) Interessant wäre hier allerdings auch, den ausgehend vom Suhrkamp Theaterverlagsarchiv akzentuierten Bedeutungsverlust eines dramenbasierten Theaters im Hinblick auf den größeren kulturellen Zusammenhang der 1970er Jahre zu betrachten. Die Frage, wie es im Verhältnis dazu anderen Verlagen und Agenturen erging – eventuell sogar unter Berücksichtigung der Dramenproduktion in der DDR – bleibt offen.</p> <p>Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive irritierend gestaltet sich der Versuch der Engführung rezeptionsästhetischer Theatertheorien mit der Konzeption von Theater im Verlagsarchiv. Hier stellt sich die Frage, wieso die Autorin den Bezug des <em>Postdramatischen Theaters</em> zu Szondi weitgehend unkommentiert lässt und sich stattdessen für die Darstellung von Architekturkommentaren und Performances kanonisierter Theatermacher*innen entscheidet.</p> <p>Dennoch ist es ein besonderer Verdienst dieser Arbeit, dass sie im virulenten Feld von Verlagsgeschichten auf das Verlegen von Dramen aufmerksam macht, ohne dabei den Dramentext hermetisch aufzufassen. Vielmehr zeigt Arnsperger, dass der Theaterverlag unterschiedliche Medien adressiert. Dahingehend ist das Kapitel zu den Dramenanthologien besonders hervorzuheben, da es den Blick auf andere Präsentationsorte jenseits der Bühneninszenierung freigibt.</p> <p>Wäre zwar ein noch stärkerer Fokus auf nicht realisierte Projekte im Verlagsarchiv wünschenswert, legt die Studie doch auch interessante Spuren für fachgeschichtliche Fragen aus: So wäre es spannend, mehr über die Konzeption theater- und medienwissenschaftlicher Reihen, wie die 1971 geplante Zeitschrift <em>Media/Diskurs,</em> zu erfahren. Denn solche Fallbeispiele befragen die Funktion von Verlagen nicht nur für die Publizität von Drama und Bühne, sondern eben auch für die Theater<em>wissenschaft</em>.</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Amslinger, Tobias: <em>Verlagsautorschaft. Enzensberger und Suhrkamp</em>. Göttingen: Wallstein 2018.</p> <p>Felsch, Philipp: <em>Der lange Sommer der Theorie</em>. München: C.H. Beck 2015.</p> <p>Gerlach, Rainer: <em>Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss</em>. St. Ingbert: Röhrig 2005.</p> <p>Jaspers, Anke: <em>Suhrkamp und DDR. Literaturhistorische, praxeologische und werktheoretische Perspektiven auf ein Verlagsarchiv</em>. Berlin/Boston: De Gruyter 2022.</p> <p>Misterek, Susanne: <em>Polnische Dramatik in Bühnen- und Buchverlagen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR</em>. Wiesbaden: Harrassowitz 2002.</p> <p>Sprengel, Marja-Christine: <em>Der Lektor und sein Autor. Vergleichende Fallstudien zum Suhrkamp Verlag</em>. Wiesbaden: Harrassowitz 2016.</p> <p>Watzka, Stefanie: <em>Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger</em>. Marburg: Tectum 2006.</p> Lisa-Frederike Seidler Copyright (c) 2024 Lisa-Frederike Seidler http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8068 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Friederike Oberkrome: Über die Wiederkehr des Botenberichts im Theater der Migration. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8069 <p>Die Studie <em>Recherche und Erkundung. Über die Wiederkehr des Botenberichts im Theater der Migration</em> von Friederike Oberkrome untersucht – wie im Titel vorweggenommen – eine Wiederkehr des Botenberichts im postmigrantischen Theater der Gegenwart. "Recherche" und "Erkundung" dienen dabei als Oberbegriffe für unterschiedliche Verfahrensweisen des Berichtens, während der Botenbericht als heuristische Denkfigur verstanden wird, mit der die Autorin untersucht, wie im postmigrantischen Theater soziale, kulturelle und ethnische Ausgrenzung sicht- und erfahrbar gemacht werden können. Als Analysebeispiele werden vier dokumentarische Produktionen herangezogen, die Oberkrome zufolge für das Theater der Migration charakteristisch sind: In Form einer städtischen Erkundung rücken migrantische Lebensrealitäten in den Mittelpunkt der Aufführung, indem öffentliche Räume als Aufführungsort(e) bespielt werden und deren Anwohner*innen als Bot*innen in Erscheinung treten. Darüber hinaus werden in Theaterarbeiten, die als fiktionalisierte Recherchestücke teilweise auf den Biografien des Ensembles basieren, Konstellationen sozialer Marginalität beleuchtet.</p> <p>Die Studie gliedert sich in zwei Hauptteile mit jeweils drei Kapiteln. Im ersten Teil erarbeitet Oberkrome eine theoretische Grundlage für das Verständnis des Botenberichts aus medien- und gesellschaftstheoretischer sowie theaterhistorischer und -theoretischer Perspektive. Dabei werden verschiedene Konzepte wie die Medialität des Boten, dessen Rolle als Vermittler zwischen heterogenen Welten sowie die damit verbundene Problematik der Authentizität und Evidenz von Dokumentarismen eingehend diskutiert. Im zweiten Hauptteil werden vier Theaterarbeiten einer detaillierten Analyse unterzogen: <em>Kahvehane – Turkish Delight, German Fright?</em> (2008) von Tunçay Kulaoğlu und Martina Priessner, <em>Die Lücke</em> (2014) von Nuran David Calis, <em>Common Ground</em> (2014) von Yael Ronen und <em>Ultima Ratio</em> (2015) von Nicole Oder. Diese Theaterproduktionen zeichnen sich durch ihre Annäherung an migrantisch geprägte Wissens- und Erfahrungsräume aus. Sie basieren auf Rechercheprozessen und kollaborativer Stückentwicklung und setzen dabei auf dokumentarische Mittel wie Video- und Audiodokumente.</p> <p>Nach Oberkrome ist den von ihr gewählten Beispielen gemein, dass sie von performativen Widersprüchen des Dokumentarischen geprägt sind: einerseits werden sie mit Authentizität, Evidenz und Echtheit in Verbindung gebracht, wodurch ein Objektivitätsanspruch der inszenierten (Lebens-)Geschichten impliziert wird. Andererseits sind diese dokumentarischen Mittel als Erzeugnisse gesellschaftlicher Vermittlungs- und Konstruktionsprozesse stets kritisch zu betrachten. Diese in den Inszenierungen beobachtbare, paradoxe Gegenbewegung bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung und zugleich ihren analytischen und methodischen Ansatz. Darüber hinaus folgt die Studie zwei wechselseitig aufeinander verweisenden Thesen: Der Botenbericht wird zur Form eines (postmigrantischen) marginalen Berichtens, wogegen die vier Theaterbeispiele der These von einer Wiederkehr des Botenberichts im Theater der Migration dienen. Aufgrund der gesellschaftlichen Randständigkeit solcher migrantischen Wissens- und Erfahrungsräume, bezeichnet die Autorin die untersuchten Botenformen als "marginales Berichten" (S.14). Die unterschiedlichen Formen des Berichtens gestalten sich "weniger als ein Berichten <em>vom</em> Rand, sondern als ein Berichten <em>am</em> oder <em>auf</em> dem Rand" (S. 15), wodurch mediale Konstruktionen des Migrantischen zwar berührt, jedoch nicht affirmiert und reproduziert werden. </p> <p>Schwerpunktmäßig geht es in der Arbeit um dokumentarische Ästhetiken des Berichtens, die Oberkrome als mediale Vorgänge mit politischen Implikationen versteht, weswegen diese zugleich ein unscharfes und im Spannungsfeld von Authentizitätsversprechen und Realitätskonstruktion ambivalentes Medium darstellen. Die Autorin nähert sich dieser Problemstellung, indem sie zunächst die medien- und gesellschaftstheoretischen Implikationen des Berichtens in den Fokus ihrer Untersuchung rückt. Hierfür stützt sich Oberkrome auf Sybille Krämers medienphilosophische Überlegungen zur Botenfigur als einer zentralen Reflexionsfigur für Übertragungsvorgänge. In <em>Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität</em> (2008) beschreibt Krämer den Boten als Mitte und Mittler – als eine Figur des Dritten, die eine Kommunikation zwischen heterogenen Welten ermöglicht. Ferner sind für diese ersten theoretischen Schritte vor allem Aspekte der Distanz und der Heteronomie in Krämers Botenmodell zentral: Der Bote tritt als Reflexionsfigur für eine Vielfalt medialer Gegebenheiten auf, in denen Distanzierung und Annäherungsprozesse zusammenfallen. Diese Überlegungen zum Vermittlungsvorgang sowie zur Figur des Boten bei Krämer sind für die Analysen Oberkromes insofern ausschlaggebend, als dass sie unterschiedliche asymmetrische und nicht-dialogische Formen der Ansprache untersuchen und zugleich inszenatorische Strategien sowie ästhetische Besonderheiten in den Fokus der Untersuchung rücken kann.</p> <p>Vor dem Hintergrund einer postmigrantisch strukturierten und kolonial geprägten Gesellschaft, die in den vier Theaterbeispielen thematisiert wird, geht Oberkrome in ihrer Studie der Frage nach, inwiefern das Botenmodell Fremd- und Selbstbestimmtheit kritisieren und reflektieren kann bzw. ob der Bote als Mittler vorhandene Wahrnehmungsmuster und bestimmte soziale Ordnungen sichtbar macht und aufbricht. Hierzu bezieht sich Oberkrome zunächst auf Homi K. Bhabhas Hybriditäts-Begriff, um "die subversive Kraft des Dritten als Störfaktor binärer Ordnungssysteme zu bestimmen" (S. 23). Um sich dem machtkritischen Potenzial der Botenfigur zu nähern, stützt sich Oberkrome ferner auf Frantz Fanons phänomenologische Auseinandersetzung mit kolonialen Blickregimen, wodurch sie sich den Bedingungen und Effekten von rassifizierenden Fremdzuschreibungen medialer Übertragung nähert.</p> <p>In <em>Schwarze Haut Weiße Maske</em> (1952) kritisiert Fanon basierend auf seinen eigenen Erfahrungen, wie eine "Welt der Weißen" die Selbsterfahrung sowie die Erfahrungswelt Schwarzer Menschen bestimmt und dominiert. Bei Fanon steht dementsprechend ein medial übertragenes Bild von Schwarzen Menschen im Zentrum, das durch <em>weiße</em> Blickregime und radikale Fremdbestimmung determiniert ist. Ferner scheint sich Oberkrome auf die Begriffe <em>weiß</em> und <em>Schwarz</em>, die besonders im Kontext der Critical Whiteness Anklang finden, zu berufen, was jedoch nicht näher ausgeführt wird und bezogen auf die vielfältigen und disparaten migrantischen Erfahrungswelten im Kontext der deutschen Einwanderungsgeschichte stellenweise für Irritationen sorgt. Hierzu wäre eine kritische Diskussion bezüglich der Verwendung dieser Konzepte<em>, </em>die sich nicht auf die Hautfarbe<em>, </em>sondern auf Rassismuserfahrungen sowie auf gesellschaftliche Normen und Machtpositionen beziehen, aufschlussreich gewesen.</p> <p>Im Hinblick auf die Auswahl der Theaterbeispiele, in denen rassistische Erfahrungen türkischer Gastarbeiter*innen und ihrer Nachkommen sowie Kriegs- und Fluchterfahrungen eines postjugoslawischen Ensembles thematisiert werden, stellt sich die Frage, warum sich Oberkrome hierzu nicht auf konkrete Untersuchungen von Postkolonialität im deutschsprachigen Raum bezieht, etwa auf den von Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodriguez herausgegeben Band <em>Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik</em> (2003). Auch hinsichtlich rassistischer Fremdzuschreibungen von Personen aus Südosteuropa hätte sich Oberkrome auf eine vielfältige Auswahl an bedeutenden Studien zu antislawischem Rassismus stützen können, wodurch es ihr möglich gewesen wäre, sich den jeweils unterschiedlichen migrantischen Erfahrungen in Deutschland, die in den Theaterbeispielen bereits implementiert sind, präziser zu nähern.</p> <p>Im zweiten Teil der Studie widmet sich Oberkrome schließlich den vier Theaterbeispielen, die sie einerseits unter dem Aspekt der urbanen Erkundung und andererseits als szenischen Rechercheprozess untersucht. Hierzu nimmt sie zunächst <em>Kahvehane – Kahvehane </em><em>‒ Turkish Delight, German Fright?</em> und <em>Die Lücke</em> vergleichend in den Blick, die auf unterschiedliche Weise einen öffentlichen städtischen Raum bespielen. Theater-Parcours <em>Kahvehane – Kahvehane </em><em>‒ Turkish Delight, German Fright?</em> wurde 2008 im Rahmen von <em>Dogland – Junges postmigrantisches Theaterfestival</em> produziert. Das Theaterprojekt brachte insgesamt zwölf junge Künstler*innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, wie etwa Bosnien und Herzegowina, Israel oder der Türkei mit jeweils einem Kaffeehaus in Kreuzberg oder Neukölln zusammen, um vorherrschende Bilder und Mythen über türkische Arbeitsmigrant*innen zu beleuchten. Auf der anderen Seite thematisiert das Stück <em>Die Lücke</em> den verheerenden Nagelbombenanschlag, der am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) verübt wurde. Diese Aufführung stellt die Lebensrealität der migrantischen Anwohner*innen nach dieser traumatischen Erfahrung extremer Gewalt in den Mittelpunkt ihrer Handlung.</p> <p>Daran anschließend analysiert Oberkrome im fünften Kapitel die Inszenierungen <em>Common Ground</em> und <em>Ulima Ratio</em>, um sich der zeitlich komplexen Vermittlungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu nähern, die sich in beiden Beispielen im Motiv der Reise niederschlagen. Während in <em>Common Ground</em> die vom Ensemble für die Stückentwicklung unternommene Reise nach Sarajevo sowie darauf basierende Erinnerungen mit Kindheitserinnerungen des postjugoslawischen Ensembles verschränkt werden, erzählt <em>Ultima Ratio</em> die Fluchtgeschichte eines somalischen Paares, das in Deutschland vergeblich Asyl zu beantragen versucht.</p> <p>Mit dieser gezielten Auswahl strebt Oberkrome einen repräsentativen Querschnitt an, der das Theater der Migration in Deutschland breit abbilden soll. Dabei werden spezifische Zeitabschnitte abgedeckt, die für die Geschichte der Migration nach Deutschland von großer Bedeutung sind, wie etwa die Migration von Arbeitskräften, die ab den 1950er Jahren als sogenannte Gastarbeiter*innen in die Bundesrepublik kamen. Des Weiteren wird die Migration der vor den jugoslawischen Zerfallskriegen flüchtenden Menschen während der 1990er Jahre thematisiert sowie die jüngste Fluchtmigration nach Deutschland.</p> <p>In den Analysen gelingt es der Autorin, auf präzise Weise zentrale Aspekte des Berichtens beziehungsweise eine aktualisierte Version der Botenfigur im postmigrantischen Theater herauszuarbeiten: Der Bote ist selbstreflexiv, bezieht sich auf (inter-)mediale Konstellationen und ist eng mit der Frage nach Ethik und Darstellung verbunden sowie von sozialer Marginalität geprägt. Die Studie bietet somit präzise Einblicke in Strategien der Emanzipation von hegemonialen Identitätszuschreibungen im Theater der Migration. Sie setzt dabei konkrete Vorkenntnisse über postkoloniale Theorien voraus und richtet sich darum vor allem an Leser*innen, die mit postkolonialen Diskursen im deutschsprachigen Raum und postmigrantischem Theater vertraut sind.</p> Darija Davidovic Copyright (c) 2024 Darija Davidovic http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8069 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Lotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8364 <p>Mit dem Frühling beginnt heuer die Tanz-, Theater- und Musikfestivalsaison. Die Festivals bieten einerseits dem größtenteils lokalen Publikum in einer kurzen Zeitspanne einen intensiven Einblick in das aktuelle Schaffen internationaler Künstler*innen. Sie sind andererseits Plattformen, auf denen sich die unterschiedlichen Berufsgruppen miteinander austauschen und dies zurück in ihre Praxis tragen. Anders als vor etwa hundert Jahren finden hingegen Großausstellungen mit integrierten Jahrmärken, die einen spezifischen Fokus auf Theater haben, heute nicht mehr statt.</p> <p>Diesen sogenannten Theaterausstellungen widmet sich Lotte Schüßler in ihrer 2022 im Wallstein Verlag erschienen Studie <em>Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900. </em>Darin untersucht die Theaterwissenschaftlerin, wie und in welchen interdisziplinären Zusammenhängen das zeitgenössische und historische lokale, deutschsprachige und internationale Theaterschaffen ausgestellt wurde und diskutiert deren grundlegende Rolle als Diskursplattformen für die Professionalisierung und Institutionalisierung der Theaterwissenschaft. Schüßler geht in ihrer Monografie von der These aus, dass Theaterausstellungen "zentrale Orte der Produktion und Rezeption geisteswissenschaftlichen Wissens waren – Spielräume, in denen die Geisteswissenschaften mit unterschiedlichen Medien experimentierten und sich hierbei konstituierten" (S. 10f).</p> <p>Im ausgehendem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert befand sich die Ausstellungskultur in ihrer Hochphase; auf Welt-, National- oder Kunst- und Gewerbeausstellungen kamen Wissensvermittlung und -formierung, (nationaler) Wettbewerb und Vergnügungskultur zusammen. Anders als bei Weltausstellungen, zu denen zahlreiche kritische Publikationen vorliegen, ist die hier besprochene Publikation bisher die einzige wissenschaftliche Auseinandersetzung, die sich spezifisch mit Theaterausstellungen im deutschsprachigen Raum und im Kontext der Großausstellungen befasst. Drei der Theaterausstellungen stehen im Mittelpunkt: Die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen in Wien (1892), die Deutsche Theaterausstellung in Berlin (1910) und die Deutsche Theater-Ausstellung Magdeburg (1927), nach deren Ende es Theaterausstellungen in dieser Form nicht mehr gab. Es sind Ausstellungen, die in unterschiedlicher Weise miteinander in Beziehung stehen und die für die Geschichte der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Theaterwissenschaft im Besonderen maßgebend sind.</p> <p>Die Autorin widmet sich in jeweils einem Kapitel einer Ausstellung. Sie beleuchtet dabei geisteswissenschaftliche Medien und Praktiken, die sich durch ihre visuellen, plastischen und auditiven Eigenschaften auszeichneten und sich dadurch von sprachbasierten akademischen Praktiken unterschieden. Trotz der sehr unterschiedlichen Quellenlagen zu den drei Ausstellungen, untersucht Schüßler mittels minutiösen Archivrecherchen, breit ausgelegter Referenzliteratur und vergleichender Diskussionen, wie diese Ausstellungen Medien des Wissens über Theater (und andere Künste) hervorbrachten. In Bezug auf die Entstehung der Geisteswissenschaften um die Wende zum 20. Jahrhundert schlussfolgert sie dementsprechend: "Die Geisteswissenschaften […] bestritten ihre Diskurse nicht nur mit Büchern und Vorlesungen. Sie formierten sich ebenso in architektonischen Räumen, mit materiellen Objekten, wissenschaftlichen wie populären und pädagogischen Medien und Praktiken, welche die Großausstellungskultur erst ermöglichte" (S. 244).</p> <p>In ihren differenzierten Analysen geht die Autorin einerseits von der grundlegenden Interdisziplinarität ihres Gegenstands aus und setzt andererseits bestimmte Schwerpunkte, die die Konstituierung der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, außerhalb eines institutionellen universitären Rahmens, näher beleuchten.</p> <p>Im Kapitel zur Musik- und Theaterausstellung in Wien wird die Ausstellung beider Geisteswissenschaften während beziehungsweise vor ihrer universitären Etablierung verglichen. Die Untersuchung der jeweils eigenen kuratorischen Konzepte und zweier entsprechender Publikationsprojekte macht deutlich, dass sich die Disziplinen der Musik- und Theaterwissenschaft sowohl als sammelnde und ordnende Wissenschaften formierten, als auch äußerst unterschiedliche Bedürfnisse an die Wissensvermittlung aufweisen.</p> <p>Für das Kapitel zur Deutschen Theaterausstellung in Berlin legt die Autorin den Fokus auf die produktiven Beziehungen von Theater- und Literaturwissenschaft, indem sie auf medien- und wissenstheoretische Diskurse und wissenschaftspolitische Debatten eingeht. Anhand der virulenten öffentlichen Diskussion um papierene Ausstellungsexponate und theaterhistorische Quellen, wird – entgegen dem Abgrenzungsnarrativ der Theaterwissenschaft gegenüber der Literaturwissenschaft – deutlich, dass sich beide Disziplinen dezidiert geisteswissenschaftliche Argumente für die Forderung nach eigenen Museen und Archiven teilten. Ebenso selten für die deutschsprachige Fachgeschichtsschreibung der Theaterwissenschaft ist die Perspektive auf das starke akademische Selbstverständnis der Theaterwissenschaft, das sich auch in Reaktion auf die Ausstellung in Berlin, rund zehn Jahre vor der ersten Institutsgründung, öffentlich offenbarte.</p> <p>Im dritten Kapitel zur Theater-Ausstellung in Magdeburg wird deutlich, dass sich die Theaterwissenschaft – inzwischen als universitäre Disziplin – mit einem gefestigten Selbstverständnis einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, indem unter anderem in den Ausstellungsräumen Kongresse durchgeführt und Diskurse fortgeführt wurden. Den Schwerpunkt auf architektonische und diskursive Räume legend, zeigt Schüßler ferner auf, wie durch die Sonderausstellungen zu Film, Rundfunk und Lautforschung/Grammophon sich die Theaterwissenschaft neuen Medien gegenüber interessiert positioniert und innerhalb einer interdisziplinären Konstellation perspektiviert.</p> <p>Die drei Theaterausstellungen sind, so wird in dieser Studie deutlich gemacht, Spielräume, in denen geisteswissenschaftliche Diskurse und Disziplinen durch multiple Ausstellungsmaterialien verhandelt und mitgestaltet werden. Die Medien und Praktiken sind wissenschaftlich, populär und pädagogisch zugleich, wodurch sich auch die Theaterwissenschaft in ihrer Gründungsphase profiliert und professionalisiert.</p> <p>Als roter Faden zieht sich durch die Studie dementsprechend auch die Analyse und Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen des Streitbegriffs der "Anschauung". Schüßler zeichnet nach, wie zentral der Begriff für die Bestrebungen um die möglichst sinnliche und zugängliche Vermittlung von Wissen über Theater war, die mittels visueller und plastischer Medien in den jeweiligen Ausstellungen verhandelt wurde. Demgegenüber steht der geisteswissenschaftliche Anschauungsbegriff, den Wissenschaftler*innen in dezidierter Abgrenzung zur sinnlichen Wissensvermittlung hervorbrachten. Im Gegensatz zu visuell-plastischen und populären Vermittlungsformen, beschreibt der geisteswissenschaftliche Anschauungsbegriff einen innerlichen geistigen Prozess, der insbesondere über sprachbasierte (schriftliche) Medien geformt und vermittelt werden soll.</p> <p>Dieser rote Faden verleiht der Studie eine Verbindung zu noch beziehungsweise wieder aktuellen und virulenten Diskussionen um die Wissenschaftsvermittlung. Damit einher würde auch die aktuelle Positionierung universitärer geisteswissenschaftlicher Fächer gegenüber didaktisch sinnlichen Formen der Verhandlung von Wissen und ihrer Zugänglichkeit für ein breites Publikum gehen. In der Publikation fehlt jedoch diese Brücke in die Gegenwart, was weniger als Kritik, als vielmehr als Einladung an die zukünftigen Leser*innen verstanden werden soll. Denn wie lohnend der Blick auf unterschiedliche interdisziplinäre Konstellationen, populäre Formate und angewandte Forschungsvorhaben für die Geschichtsschreibung der/einzelner Geisteswissenschaft/en ist, führt Lotte Schüßler in dieser Monografie auf gewinnende, wissenschaftlich versierte, gut strukturierte und nicht zuletzt äußerst anschauliche Weise vor.</p> Johanna Hilari Copyright (c) 2024 Johanna Hilari http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8364 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Sarah Banet-Weiser/Kathryn Claire Higgins: Believability. Sexual Violence, Media, and the Politics of Doubt. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8665 <p><strong>Diskurse zu sexueller Gewalt waren immer schon postfaktisch.</strong></p> <p>Im Jahr 2016 verhandelt das Gericht Berlin Tiergarten einen Fall falscher Verdächtigung. Die Prominente Gina-Lisa Lohfink hatte zwei Männer beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. In geleakten Videoaufnahmen war der fragliche Sex zu sehen und zu hören wie Lohfink "nein" und "hör auf" sagt. Trotz dieses Beweises hielt die Staatsanwaltschaft sie für unglaubwürdig und erhob Anklage gegen sie. Es formierte sich feministischer Protest, der die deutsche Rechtsprechung medienwirksam als opfer- und frauenfeindlich kritisierte. Lohfink wird 2017 rechtskräftig schuldig gesprochen. Der Richter diskreditiert in seinem Urteil die feministische Kritik, die das Gericht als moralische Autorität der Wahrheitsfindung angezweifelt und Lohfink als Opfer misogyner Justiz definiert hatte. Er bezeichnet die Unterstützer*innen Lohfinks als eine "weitgehend desinformierte Öffentlichkeit", die sich im Bereich der "irrealen Welt alternativer Fakten" bewege. (Vgl. Spoerr 2017) Mit diesem Richterspruch, den ich als deutsche Rezensentin hier einbringe, ist ein Knoten angezeigt, den die feministischen Medienwissenschaftlerinnen Sarah Banet-Weiser (USA) und Kathryn Claire Higgins (GB) in ihrem Buch zum Ausgangspunkt nehmen: die Verknüpfung der Diskurse um sexuelle Gewalt, das Postfaktische ("post-truth"), Popfeminismus und der daraus in spezifischer Weise bedingte Diskurs um die Glaubwürdigkeit im Kontext sexueller Gewalt.</p> <p>Die Autorinnen fokussieren das gleichzeitige Auftreten vom Postfaktischen – die mit der Trump-Regierung aufgekommene Bezeichnung für die öffentliche Angst um den Status der Wahrheit (S. 3) – mit der feministischen #MeToo-Debatte (im Original "#MeToo moment"), die mit dem viralen Hashtag im Oktober 2017 startete. Banet-Weiser/Higgins begreifen diese Gleichzeitigkeit als ein signifikantes, politisches Zusammentreffen ("conjuncture"). Der Begriff der "conjuncture" oder Konjunktur zeigt die Methode der Medienwissenschaftlerinnen an, die sich an Foucault und die Cultural Studies nach Hall anschließen. Banet-Weiser und Higgins begreifen Medien als relationale Artefakte, die sich in einer Kultur verbinden und deren historisch spezifische, kulturelle, politische und ökonomische Ermöglichungsbedingungen sie untersuchen. (Vgl. S. 16) Die Konjunktur, die sie in den Blick nehmen, "is conditioned by both histories and current struggles over who the 'doubtful subject' is, the 'crisis' of post-truth, and the spectacular capitalist visibility of networked media and social movements like #MeToo". (S. 16)</p> <p>Banet-Weiser und Higgins analysieren rezente Medienproduktionen Post-#MeToo (TV, Serien, Film, in Kapitel 1), die Vermarktung von Selbstverteidigungsartikeln (pinkes Pfefferspray, Nagellack, mit dem Partygänger*innen ihre Drinks qua Fingereintauchen auf das Hypnotikum Rohypnol testen können etc. in Kapitel 2) sowie öffentlich und besonders online verhandelte Vorwürfe beziehungsweise Fälle sexueller Gewalt (unter anderen Depp v. Heard, R. Kelly, Cosby, Kavanaugh in Kapitel 3 und 4). Ihre Analyse von Glaubwürdigkeit und der aktuellen wie historischen Konstitution zweifelhafter Subjekte bleibt dabei stark auf die Diskurs- und narrative Inhaltsebene fokussiert. Audiovisuelle Ästhetiken und andere Medienspezifika blenden sie zugunsten einer breiteren Kulturanalyse (Post- und neoliberaler Feminismus, die Ökonomie privater Medienplattformen und kommodifizierendes Brand-Marketing, intersektionale Ungleichheit durch Klassifikationen nach <em>race</em>/<em>class</em>/<em>gender</em>) weitestgehend aus.</p> <p>Die Autorinnen zeigen – und das macht ihre Arbeit besonders interessant – inwiefern Logiken und politische Affekte (Sara Ahmed) des Postfaktischen im Kontext der Diskurse um sexuelle Gewalt ihre Wirkung zeitigen und schon lange gezeitigt haben. Sie entwickeln daraus ihr Konzept aktueller, mediatisierter Glaubwürdigkeitsökonomie und eine sehr treffende Beschreibung von Glaubwürdigkeit im Kontext sexueller Gewalt: "Believability can't be 'fact-checked' as it is not (primarily) about the facts but, rather, about who those facts pertain to and whether or not those people are 'deserving' the kinds of recognition and solidarity that believability affords." (S. 150) Die Glaubwürdigkeit einer von sexueller Gewalt betroffenen Person hängt weniger von Beweisen ab als davon, ob sie ihre Betroffenheit überzeugend performt und ob sie ein Subjekt ist, das es verdient hat, Solidarität und Anerkennung zu erfahren wie auch umgekehrt, ob die der Tat beschuldigte Person als Täter*in überhaupt einer Diskreditierung ausgesetzt werden soll. Zum Beispiel kommen hier die Kategorie des Rassismus und die <em>weiße </em>Frau, die Männer of Color glaubhaft beschuldigen kann, ins Spiel (vgl. S. 170ff).</p> <p>Die Arbeit der glaubwürdigen Performance findet seit #MeToo vermehrt auf den privaten Medienplattformen der Social-Media-Unternehmen statt, wo Betroffene den medienspezifischen Anforderungen entsprechend ihre digitalen "receipts" bereitstellen müssen (vgl. S. 138). In Kapitel 3 beschreiben Banet-Weiser und Higgins eine "digitization of doubt", worunter unter anderem die Fusion der Zweifel an der Authentizität digitaler Beweismittel (immer auch fälschbarer Text- und Sprachnachrichten, Fotos, Videos, Postings) mit den "cultural anxieties about the untrustworthiness of women" (S. 143) zu verstehen ist. Beiden, digitalen Medien und "Frauen", wird Manipulation und Täuschung zugeschrieben, sie geraten zum Objekt kultureller Faszination, Kontroverse und Zweifel. Die in Kapitel 2 analysierten, für die Marktzielgruppe "Frauen" produzierten Artikel wie "safe shorts" mit Schloss oder ein Armband, das mithilfe von Gestank Angreifende abwehren soll (S. 111), kritisieren die Autorinnen mit Bezug auf die Fehlschläge der Verteidigungsstrategien der Wahrheit in einer postfaktischen Kultur. Neben ihrer Konstruktion weiblicher Pflicht zur Selbstverteidigung (und der darin implizierten Mitschuld), spiegeln diese Artikel nämlich jene "most naive responses to 'post-truth' predicaments" (S. 115): hätten wir nur bessere Beweise (eine aufgebrochene Hose, einen stinkenden Angreifer), dann würden sie – "the (overwhelmingly) white men in charge" – es glauben und die Probleme ernst nehmen (S. 116).</p> <p>Mit dem Fokus auf die "Believability", die Banet-Weiser und Higgins von der "Credibility" unterscheiden, erscheint die Krise der Wahrheit gerade nicht als eine der Epistemologie – der Wissbarkeit und des Mangels an Beweisen – sondern "as a crisis of subjectivity" (S. 18). Sexuelle Gewalt wird als radikal kontingent und endemisch zweifelhaft konstruiert, womit die Faktizität der Erfahrung sexueller Gewalt (mitsamt ihrer Beurteilung als gewaltvoll und verletzend sowie nicht bloß individuelles Pech, sondern als ein kollektives Problem) nie gesichert zu sein scheint. Alle drei Aspekte der Tatsache sexueller Gewalt (Erfahrung, Gewaltsamkeit, Kollektivität) beruhen auf der Glaubwürdigkeit der Aussagen von Betroffenen – im häufigsten Fall Frauen – deren Status als "doubtful subjects" jeden einzelnen Aspekt permanent zweifelhaft werden lässt. Banet-Weiser und Higgins verweisen somit auf eine historische Kontinuität des Postfaktischen in Bezug auf die Verhandlung sexueller Gewalt.</p> <p>Durch Rassismus, Geschlecht und Klasse marginalisierte Subjekte leben nicht erst seit dem Ausruf des postfaktischen Zeitalters in einer Welt, in der die ihr Leben betreffenden Aussagen und Tatsachen stets bezweifelbar, beziehungsweise nie restlos aufklärbar erscheinen. Sie haben nicht zu wenig Beweise, um glaubhafte Zeug*innen ihrer (Gewalt)Erfahrung zu sein ("credibility"), sondern ihre Erfahrungen werden schlicht nicht zu "the kinds of facts that come to matter in public life" (S. 189). Marginalisierte Subjekte, die im Gegensatz zu jenen "in positions of privilege and power" (S. 19) vom rezenten unsicheren Status der Fakten also nicht überrascht sind, werden von den Autorinnen mithilfe etablierter, intersektional-feministischer Kategorisierungen bestimmt. Die "people from marginalized groups" sind entsprechend: "women, queer people, and people of color of all genders" (S. 7). Es ist empirisch zutreffend, dass es sich hierbei um jene Menschen handelt, die "regelmäßig als unglaubwürdige, nicht vertrauenswürdige und zweifelhafte Subjekte bestimmt worden sind" (S. 7, Übers. L. H., vgl. auch S. 18f). Doch auch um weniger Gefahr zu laufen, weitere Opfergruppen zu übersehen (Menschen mit Behinderung oder cis männliche kindliche Opfer werden von den Autorinnen nicht berücksichtigt), wäre es meines Erachtens gewinnbringend, ihre Marginalisierung nicht als Ursache ihrer Unglaubwürdigkeit zu setzen. Umgekehrt ließe sich, wie ich vorschlagen möchte, die Frage, inwiefern ihre Bestimmung als unglaubwürdig deren Kategorisierung als weiblich, unmännlich, nicht-<em>weiß</em> etc. erst zum Effekt hat, medienwissenschaftlich produktiv machen. An manchen Stellen im Buch gerät die Analysekategorie der Machtverhältnisse (<em>race</em>/<em>class</em>/<em>gender</em>), entlang derer die Glaubwürdigkeit auch nach ökonomischer Logik ungleich verteilt wird, zum Erklärungsprinzip. Die Analyse wird dadurch nicht falsch, jedoch verliert so das Vorhaben der Autorinnen, aktuelle und konkrete Untersuchungen der kulturellen Glaubwürdigkeitsökonomie vorzunehmen, stellenweise an Überzeugungskraft.</p> <p>Banet-Weiser und Higgins gelingt mit ihrem Buch insgesamt ein spannender, umfangreicher Überblick über aktuelle englischsprachige, westliche mediale Repräsentationen, Diskurse und Vermarktungen ebenso wie über die Forschung zur Glaubwürdigkeit in Fällen sexueller Gewalt. Ihre Entscheidung, Ängste und Verhandlungen um das Postfaktische mit jenen um sexuelle Gewalt zusammen zu analysieren und darin historische Kontinuitäten sowie Aktualisierungen aufzuzeigen, ist überaus gewinnbringend und spannend.</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Spoerr, Kathrin: "Gina-Lisa Lohfink – nicht Opfer, sondern Täterin". In: <em>Welt.de</em>, 10. Februar 2017. <a href="https://www.welt.de/vermischtes/article161986739/Gina-Lisa-Lohfink-nicht-Opfer-sondern-Taeterin.htm">https://www.welt.de/vermischtes/article161986739/Gina-Lisa-Lohfink-nicht-Opfer-sondern-Taeterin.htm</a>, aufgerufen am: 30.04.2024.</p> Louise Haitz Copyright (c) 2024 Louise Haitz http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8665 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Mia Berg/Christian Kuchler (Hg.): @ichbinsophiescholl. Darstellung und Diskussion von Geschichte in Social Media. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8703 <p>"Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl holte das Instagram-Projekt von SWR und BR die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt. Im Kanal @ichbinsophiescholl ließ die 21-jährige Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, ihre User*innen hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben".<sup>1</sup></p> <p> </p> <p>Mit diesem Satz beschreibt die Redaktion des SWR ihr kontrovers diskutiertes <a href="https://www.instagram.com/ichbinsophiescholl/" target="_blank" rel="noopener">Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl</a>. Zwei Jahre nach dem Start des <em>public history</em>-Projekts veröffentlichten Mia Berg und Christian Kuchler einen Sammelband zum Instagram-Kanal, der interdisziplinäre Perspektiven liefert. Während darin – wahrscheinlich auch wegen der Verortung der Herausgeber*innen in der Geschichtswissenschaft – eine historische Perspektive überwiegt, kommen auch Stimmen aus der Medienwissenschaft, der Psychologie und Pädagogik zu Wort. Der Sammelband überzeugt vor allem, da er das Instagram-Projekt des SWR im Kontext der deutschen Erinnerungskultur reflektiert und eine kritische Positionierung zu diesem Erinnern entwickelt. Auch bietet der Sammelband einen Überblick über Fragen der Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur <em>in</em> und <em>mit</em> Sozialen Medien und macht auf Möglichkeiten aber auch Fallstricke aufmerksam.</p> <p>In einem ersten Unterpunkt – "Historische Einordnung und Kontexte" – wird eine fundierte geschichtliche Verortung der Figur Sophie Scholl vorgenommen. Hans Günther Hockerts und Nils Steffen gehen hier in ihren jeweiligen Beiträgen mit dem "Gebot der kritischen Quellenforschung" (S. 22) vor. Dabei arbeitet vor allem Hockerts in seinem Beitrag "History and Memory. Sophie Scholl in der biografischen Forschung und im Boom der Erinnerung" jene Aspekte auf, die in den Instagram-Stories ausgeblendet wurden: Scholls starke religiöse Prägung sowie ihre langjährige Mitgliedschaft im Bund deutscher Mädchen, in dem sie von 1937 bis 1938 zur Oberscharführerin aufstieg und deren Treffen sie bis 1941 besuchte (S. 23). Erst ab 1941/42 ging Sophie Scholl dann als Studentin in die Frontalopposition über und schloss sich spätestens im November 1942 dem aktiven Widerstand ihres Bruders Hans Scholl und dessen Kommilitonen Alexander Schmorell an. Am 18. Februar 1943 wurden Sophie und Hans Scholl bei der Verteilung eines sechsten Flugblattes ihrer Widerstandsgruppe Weiße Rose im Hauptgebäude der Universität München vom – später verurteilten und in der Nachkriegs-BDR begnadigten – Hörsaaldiener Jakob Schmid beobachtet und denunziert. Vier Tage später, am 22. Februar, wurden die Geschwister Scholl sowie Christoph Probst nach tagelangen Verhören zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet. Die von der Gestapo angefertigten Vernehmungsprotokolle dokumentieren eine bis zuletzt "unbeugsame" und "couragierte" Sophie Scholl (S. 32). So viel zur historischen Einordnung. Diese Einordnung – hier stimmen nahezu alle Autor*innen des Sammelbands überein – ist für die wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Instagram-Kanal umso bedeutender, da sich der SWR entschied, keine Quellen auf dem Kanal offenzulegen und auch nicht markierte, was historisch belegbar und was reine Fiktion ist.</p> <p>Besonders scharf kritisiert wird dieser Umstand in den Beiträgen von Tanja Thomas und Martina Thiele sowie von Nora Hespers und Charlotte Jahnz. Sie stellen nicht nur die westdeutsche Fixierung auf die Figur der Sophie Scholl in Frage, sondern gehen auch auf Fragen der <em>memory cultures</em> und <em>studies</em> im Allgemeinen ein. Fragen, die sie besonders interessieren, sind: Wer wird erinnert und wer nicht? In diesem Sinn greifen Thomas und Thiele in ihrem Aufsatz "@ichbinsohiescholl. Erinnern und Vergessen von Widerstand gegen den Nationalsozialismus in medialen Öffentlichkeiten" die Frage auf, ob die Forcierung auf die Figur der Sophie Scholl und das damit einhergehende Verdrängen ihres Bruders Hans Scholl mit dessen Inhaftierung wegen "bündnerischer Betätigung" (homosexuellen Handlungen) im Jahr 1937 zusammenhing. Erschwerte seine vermeintliche Homosexualität die Erinnerung an ihn in der BRD? Immerhin blieb Homosexualität auch nach dem NS-Regime strafbar und Scholl passte somit auch nicht in das Männlichkeitsbild der BRD, das in Bezug auf Homosexualität Unrechtsverhältnisse fortschrieb (S.117). Die westdeutsche Erinnerungskultur ist somit voller Widersprüche, auf die neben Thomas und Thiele auch Jaspers und Jahnz in ihrem Beitrag "Häppchenweise Sophie Scholl. Kritische Anmerkungen zum Instagram-Kanal @ichbinsohiescholl" verweisen. In Anlehnung an die Arbeit von Max Czollek kritisieren sie, dass Scholl zur Figur der "Wiedergutwerdung der Deutschen" wurde (S. 158). Statt sich mit der familiären Nazi-Vergangenheit der eigenen Groß- oder Urgroßeltern zu beschäftigen, bietet der SWR die Identifikation mit einer heldenhaften Sophie Scholl. Auch die Fixierung auf den bürgerlichen Widerstand und seine Figuren, allen voran Sophie Scholl und Claus von Stauffenberg, wird in dem Beitrag kritisch hervorgehoben. Der zahlenmäßig sehr viel stärker vertretene Widerstand von Kommunist*innen, Jüd*innen und Sozialist*innen wird so unsichtbar. Ein Umstand, der gerade aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit der Figuren Scholl und Stauffenberg erstaunlich ist. Hespers und Jahnz fassen so nochmal die Erkenntnisse der langjährigen kritischen Beforschung deutscher Erinnerungskultur zusammen, die, wie sie festhalten, "in den deutschen Medienredaktionen [auch] 30 Jahre später nicht angekommen" ist (S. 157).</p> <p>Aus Sicht der Medienwissenschaft ist zudem die Frage interessant, wie Geschichte auf einer Sozialen Plattform inszeniert wird: Wie wirkt sich die Fokussierung auf Bildmaterial, beziehungsweise das nur fragmentarisch mögliche Geschichtenerzählen in den Stories auf Geschichtsvermittlung aus? Wie wurde damit von Seiten der Produktion umgegangen? Wie wurde der Content rezipiert?</p> <p>Hier bietet der Sammelband nur vereinzelt Hinweise. So beschreibt Christian Kuchler in seinem Beitrag, dass das Projekt zwar breit rezipiert wurde, jedoch die Zielgruppe verfehlte: "alle sprechen von @ichbinsohiescholl – nur Schülerinnen und Schüler nicht" (S. 165). Hervorgehoben wird zudem die Selfie-Perspektive der Posts und Stories, die eine "radikale Subjektivität" ausstellt, wie Jaspers und Jahnz schreiben (S. 149). Wie Tobias Ebbrecht-Hartmann in seinem Beitrag "Eva, Anne und Sophie auf Instagram und Youtube" festhält, versucht das Projekt mit den zahlreichen Selfies – verstanden als fotografische Selbstdokumentationen – sich in das Genre der Dokumentation einzuschreiben und Authentizität zu evozieren. Die Selfie-Perspektive ahmt Videotagebücher nach. Diese Nachahmung spiegelt auch den Selbstanspruch des SWR wider, immerhin soll Scholls Leben "ungefiltert" wiedergegen werden. Ein Versuch, der allerdings, wie Jasper und Jahnz festhalten, in der gefilterten Bildästhetik von Instagram von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die Stories und Bilder der fiktionalisierten Sophie Scholl sind stark bearbeitet und mit Filtern überlegt, die oft den Eindruck erwecken, es würde sich um altes Fotomaterial handeln (S. 154).</p> <p>Gelungen ist dem SWR allerdings der Versuch, wie Hans Ulreich Wagner, Jan Rau, Daria Cepurku, Clara Liebnagel und Daniel Wehrend in ihrem Beitrag "Kommunikative Praktiken der Aneignung und Vergangenheit" beschreiben, die Follower*innen in eine parasoziale Interaktion mit Sophie Scholl zu verwickeln. Viele Kommentare beginnen mit "Liebe Sophie,…" (S. 132). Zudem identifizierten sich auch viele Follower*innen tatsächlich mit der Figur und vergleichen ihr Leben mit dem der Widerstandkämpferin. Dabei kam es allerdings auch zu dem SWR wohl eher unerwünschten Vergleichen, wie dieser Kommentar zeigt: "Sophie, kannst du dir vorstellen, dass es in der Zukunft nicht mehr möglich sein wird, als normaler Mensch angesehen zu werden, sofern man sich nicht mit einem ungetesteten Impfstoff, der gegen eine Krankheit erfunden wurde, an der nicht mal 1 von 100 Infizierten stirbt? Sind das nicht die staatlichen Maßnahmen, gegen die du kämpfst? Gegen Ausgrenzung und Hass auf Basis naturwissenschaftlicher Ideologie?" (S. 137).</p> <p>Das Projekt bestätigt somit wieder einmal mehr wie schwer es ist, die Wirkung und Rezeptionsweisen medialer Formate zu steuern. Ein Eigensinn, der sich auch nicht von einer Rundfunkanstalt einfangen lässt. Abschließend lässt sich festhalten, dass der Sammelband einen guten und vielschichtigen Überblick über das Projekt liefert, der zwar vor allem für Historiker*innen relevant ist, aber auch für Medienwissenschaftler*innen wichtige Impulse und Einblicke liefert: vor allem da die wissenschaftliche Debatte um die deutsche Erinnerungskultur außerhalb geschichtswissenschaftlicher Kreise immer noch zu wenig Aufmerksamkeit erhält.</p> <p><strong>Anmerkungen:</strong></p> <p><sup>1</sup> <a href="https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagram-serie-102.html">https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagram-serie-102.html</a> (letzter Zugriff: 28.03.2024).</p> Leonie Kapfer Copyright (c) 2024 Leonie Kapfer http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8703 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Szilvia Gellai: Glass Scenographies. Notes on Spaces of One's Own. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8686 <p>Im frühen 20. Jahrhundert erlangte Glas eine herausragende Bedeutung als Medium zur Verwirklichung von Idealen der Transparenz in Architektur und Literatur. Bisher konzentrierte sich die Forschung in diesen Bereichen jedoch hauptsächlich auf die Analyse kanonischer Werke, die von männlichen Akteuren geprägt sind. Szilvia Gellais <em>Glass Scenographies</em> durchbricht diese Konvention, indem sie die unterrepräsentierten Beiträge von Frauen zur Glaskultur hervorhebt und neu bewertet.</p> <p>Im Anschluss an Virginia Woolfs Konzept der "glass scenography" (S. 13) untersucht Gellai im einleitenden Kapitel, OBSCURE LIVES, TRANSPARENT BOUNDARIES, wie Glashäuser und -kuppeln für Frauen katalytische Orte der künstlerischen Entfaltung sein können. Dies dient als Ausgangspunkt für Gellais Arbeit, die sich entlang Psychologie, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft bewegt. Im ersten Teil des Werks widmet sich die Autorin der Geschichte von Evelyn Word Leighs Glashaus und bettet diese in die kulturtheoretischen Ansätze Walter Benjamins ein. Im zweiten Teil geht sie dem Motiv der Glaskuppel nach, das sich von den 1920er bis in die frühen 1960er Jahre erstreckt. Dabei analysiert die Autorin surrealistische Fotografien von Claude Cahun und Lee Miller sowie literarische Werke von Hilda 'H.D.' Doolittle, Anaïs Nin und Sylvia Plath. Sie deutet Glashäuser und -kuppeln als Räume der Intimität, sexueller Diversität und queerer Identitäten. Außerdem stellt sie das "concept of transparency" (S. 16) infrage, das sie als in männlich, <em>weiß</em> und westlich-kolonial geprägten Denkmustern verankert sieht.</p> <p>Im Kapitel EVELYN WORD LEIGH'S GLASS HOUSE befasst sich Gellai mit dem Leben der Stummfilmikone Evelyn Word Leigh, die zwischen 1927 und 1940 in einem Glashaus in Nyack wohnte. Dieses Domizil diente Leigh nicht nur als Wohnstätte, sondern auch als Ausdruck ihrer (körperlichen) Selbstbestimmung und Autonomie. Gellai veranschaulicht, wie Leighs Selbstbehauptung sich nicht nur in der bewussten Pflege und Disziplinierung ihres Körpers manifestiert, sondern auch in ihrem reflektierten Umgang mit den Themen Transparenz und Privatsphäre.</p> <p>Leighs Glashaus, dessen ursprüngliche Gestalt heute nicht mehr vollständig rekonstruierbar ist, erfüllte vielfältige Funktionen. In BODY AND CLIMATE TECHNIQUE FOR A DELICATE CREATURE erklärt Gellai, wie das Glashaus zur Regulierung des körperlichen Wohlbefindens als "a body and climate technique" (S. 115) diente. Darüber hinaus war es Instrument zur Steuerung von Nähe und Distanz zur Außenwelt. Durch seine Transparenz nutzte Leigh es subtil zur didaktischen Beeinflussung der Gemeinschaft von Nyack. Obwohl das Wohnexperiment letztlich nicht erfolgreich war, offenbart es eine kreative Adaption moderner Technologien. Gellai zufolge kombinierte Leigh traditionelle, mimetische Körpertechniken wie Tanz, Schauspiel und Mode mit innovativen technologischen Konzepten in den Bereichen Architektur, Massenmedien (wie Printmedien) und Film. (Vgl. S. 115)</p> <p>In ONSTAGE: MASTERING THE ART OF LIVING IN A GLASS HOUSE betrachtet Gellai Leighs Privatleben, ihre Beziehungen zu den Massenmedien und ihre Schauspielkarriere. Gellai zieht Parallelen zwischen Leighs Ablehnung der öffentlich-stereotypen Wahrnehmung von Frauen und der Rolle des Flaneurs, der in der städtischen Menge einen ästhetischen Blick entwickelt. (Vgl. S. 44) Das Glasrefugium diente als Schutzraum, der Leigh vor der erdrückenden Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bewahren sollte.</p> <p>1929 entfachte sich in Österreich eine hitzige Debatte um Evelyn Word Leighs avantgardistisches Glashaus. In deutschsprachigen Medien prallten moralische Entrüstung und voyeuristische Berichte aufeinander. Gellai verdeutlicht im Kapitel ON THE MORALITY OF TRANSPARENCY: EDUCATION, DESIRE, AND SELF-DISCIPLINE wie Weiblichkeit historisch mit Unreinheit assoziiert und gleichzeitig durch bürgerliche Konzepte von Tugend fetischisiert wurde. Sie führt als Beispiel die Darstellung des Glashauses als Disziplinarinstrument in Heinrich Oswalds Sagensammlung <em>Unterm Märchenbaum</em> (1877) an. Gellai verbindet über das Glashaus Leighs Ansicht, dass Geschlecht etwas Erlerntes sei mit Michel Foucaults Begriff der Technologien des Selbst. Leighs Leben im Glashaus spiegelt nicht nur diese Technologien wider, sondern verkörpert auch ein "Theater der Askese", wie Gellai unter Bezugnahme auf die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau (vgl. S. 64) erläutert.</p> <p>Im Abschnitt UNDER THE DOME: FROM CULT TO EXPERIMENT hebt Gellai den für Frauen in patriarchalen Gesellschaften zugewiesenen oder verweigerten Raum hervor. Diese Ein- und Ausschlussmechanismen spiegeln sich in materiellen Kulturen wie den österreichischen Klosterarbeiten, in denen Frauen sowohl als Objekte als auch als Schöpferinnen fungieren, wider. (Vgl. S. 63) Die metaphorische Platzierung von Frauen unter Glasglocken verknüpft Gellai mit Schlüsselkonzepten der Psychoanalyse. (Vgl. S. 67)</p> <p>In FEMALE HEADS AT THE CUTTING EDGE OF SURREALISM analysiert Gellai das wiederkehrende Motiv der Frauenköpfe unter Glaskuppeln in der visuellen Kultur in den 1920er bis 1940er Jahren. Die oft mit stereotypen Klischees von Geheimnis, Natur, Verführung und erotischem Spektakel assoziierten Motive zeigen sich u. a. in Lee Millers fotografischer Zusammenarbeit mit Man Ray. Claude Cahuns Serie von Selbstporträts hingegen stellen eine wirkungsvolle Untergrabung kategorischer Einteilungen dar, indem die künstlerischen Objekte den Blick der Betrachter*innen ungebrochen erwidern.</p> <p>ANAÏS NIN'S GLASS HOUSES AND DOPPELGÄNGER beleuchtet Glas in Anaïs Nins Schaffen. Nin, tief im Surrealismus verwurzelt, verwendet Glas in ihren Werken <em>Winter of Artifice</em> (1948) und <em>Under a Glass Bell </em>(1944) als gleichzeitige Metapher für Schutz und Isolation. Durch das Schreiben strebt Nin, beeinflusst durch Otto Rank, nach Selbstfindung und Selbstermächtigung und hinterfragt kritisch narzisstische Selbstzentriertheit und vorgegebene Rollenbilder. (Vgl. S. 84)</p> <p>Das Kapitel THE METAMORPHOSES OF H.D.'S JELLYFISH EXPERIENCE dokumentiert die Synergien zwischen Hilda 'H.D.' Doolittle und Sigmund Freud in den 1930ern, festgehalten in <em>Tribute to Freud</em>. Für H.D. verkörpert das Glockenglas Schutz und Einsicht. H.D.s narrative Techniken, beeinflusst durch ihre Arbeit mit der Filmzeitschrift <em>Close Up</em> (Pool Group 1927–1933) und den Filmschnitt von <em>Borderline</em> (R: Kenneth Macpherson, GB 1930), zeigen Parallelen zu Filmtechniken. Ihre Beschäftigung mit der "vierten Wand", angeregt durch die Doppeltür in Freuds Büro, erkundet eine Verbindung zwischen Analyse und Theorie, die Gellai mit der räumlichen Anordnung der Proszeniumsbühne verknüpft sieht.</p> <p>Gellai interpretiert Sylvia Plaths <em>The Bell Jar</em> (1963) im Abschnitt SYLVIA PLATH'S POETIC OF X-RAY ARCHITECTURES als eine Auseinandersetzung mit Materialität und psychischem Leid. Die Hauptfigur Esther Greenwood ringt mit Depressionen, die durch die metaphorische Glasglocke verkörpert werden. Ein von Esther abgelehntes Korsett dient Gellai als Anknüpfungspunkt an das Konzept des "Gläsernen Menschen" (S. 100), das medizinische und ästhetische Normen verkörpert. Gellai zieht Parallelen zwischen Esthers Erfahrungen und der modernen Glasarchitektur, die von medizinischem Wissen (u. a. Tuberkulose) und der Röntgentechnologie beeinflusst ist, und verortet sie im Kontext des Diskurses über Gesundheit und Hygiene.</p> <p>In POETS. TEMPLES, AND LEOPARDS erörtert Gellai die transformative Kraft von Kunst und Poesie, indem sie Edith Farnsworths <em>The Poet and the Leopards</em> (1960) als Ausgangspunkt nimmt. Sie wirft erneut einen Blick auf die vorangegangene Analysebeispiele, um die vielfältigen Praktiken, Ansätze und Bedingungen der Künstlerinnen für eine kritisch-feministische Geschichtsschreibung fruchtbar zu machen.</p> <p>In der das Buch abschließenden Respondenz NO WAY HOME. OR, PERPETUAL CARE FOR ARCHITECTURAL RESIDUES von Sina Brückner-Amin, werden Erinnerung, Trauma und Heimatlosigkeit in Bezug zu Architektur über Mike Kelleys <em>Kandor</em>-Projekt bearbeitet. Der Text knüpft an die Diskussionen Gellais an, indem es die langfristigen Verantwortlichkeiten und Herausforderungen betont, die sich aus unserem Umgang mit Architektur ergeben.</p> <p>Szilvia Gellais <em>Glass Scenographies. Notes on Spaces of One's Own</em> stellt einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Glaskultur dar, insbesondere im Hinblick auf die Beiträge von Frauen, die in der Vergangenheit oftmals marginalisiert wurden. Die Fokussierung auf inhaltliche Aspekte und die Sichtbarmachung von künstlerischen Projekten von Frauen verleihen dem Werk eine besondere Relevanz und machen es zu einer wertvollen Ressource für diejenigen, die sich für die Schnittstellen zwischen Architektur, Literatur, Geschlechterstudien und Kulturgeschichte interessieren. Allerdings könnte die thematische Breite des Werks dazu führen, dass tiefere, fokussiertere Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten zu kurz kommen. Eine intensivere Diskussion und Reflexion der Quellenauswahl könnte den Forschungsprozess transparenter machen. Obwohl das Werk die Beiträge von Frauen zur Glaskultur hervorhebt, besteht Raum für eine erweiterte Analyse, die sich noch stärker mit der Vielfalt von Genderidentitäten und -erfahrungen auseinandersetzt. Eine solche Erweiterung könnte die interdisziplinäre Perspektive des Buches vertiefen und die Komplexität des Themas noch umfassender beleuchten. Zusammenfassend ist <em>Glass Scenographies</em> eine empfehlenswerte Lektüre, die einen wichtigen Beitrag zur feministischen und kulturellen Forschung leistet und neue Perspektiven auf die Rolle von Glas in Verbindung mit weiblicher Agency und Kreativität eröffnet. Es regt zur weiteren Diskussion an und kann als Ausgangspunkt für zukünftige Studien dienen, die sich mit den vielschichtigen Verbindungen zwischen Materialität und Gender auseinandersetzen.</p> Daniela Holzer Copyright (c) 2024 Daniela Holzer http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8686 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Henrike Kohpeiß: Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8284 <p>Henrike Kohpeiß' Monografie <em>Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität</em> befragt die affektive Struktur, durch die sich die gegenwärtige Subjektivität westlicher Gesellschaften konstatiert und erhält. Diese Sozialtechnik, die ein rationales europäisches Selbst in Abgrenzung zu einem irrationalen, kolonialisierten Anderen imaginiert, nennt Kohpeiß "Bürgerliche Kälte". (S. 10) Demaskiert werden im Zuge ihrer Monografie verschiedene Gestalten Bürgerlicher Kälte, die als staats- und kapitalismustragende Lebensform (S. 12) mittels affektiver und ästhetischer Strategien koloniale Strukturen aufrechterhalten. (S.12f)</p> <p>Kohpeiß dekonstruiert die Bürgerliche Kälte im Laufe dreier Meeresschauplätze: "Die Ägäis" (S. 29-84), "Das Mittelmeer" (S. 85-242) und "Der Atlantik" (S. 243-248). In einer kurzen Einleitung ("Das Selbst und das Meer") stellt sie das Meer als den historischen und metaphorischen Aushandlungsort von philosophischen Konzepten des Selbst vor dem Hintergrund kolonialer Gewalt vor. Die Philosophie, die maßgeblich an der rassifizierten Konstruktion des aufgeklärten, mündigen Selbst beteiligt war und ist, fordert Kohpeiß auf, "die philosophisch gestützte Negation des Selbst, unter der die Versklavten lebten, zum Ausgangspunkt einer Theorie kolonialer Subjektivität zu machen, die sich von der von Fanon kritisierten bürgerlichen Logik und Ethik zu lösen vermag" (S.15). Die Kritische Theorie, insbesondere Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Analysen des bürgerlichen Subjekts in <em>Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente</em>, sollen um Diagnosen vornehmlich gegenwärtiger Vertreter*innen der Black Studies wie u. a. Fred Moten, Saidiya Hartman und Brenna Bhandar ergänzt werden. Dadurch erhalten die Thesen Adornos und Horkheimers nicht nur eine dekoloniale Ausrichtung, sondern werden selbst auf ihr "kolonial Unbewusstes" geprüft. (S. 17) Davon ausgehend erarbeitet Kohpeiß Vorschläge, wie Philosophie über die Schnittstellen zwischen Kritischer Theorie und den Black Studies in etwas zu übertragen ist, das nicht die vorhandenen kolonialen Ordnungen reproduziert. (S. 28)</p> <p>Zunächst führt Kohpeiß uns in "Die Ägäis" (S. 29-84) in das bürgerliche Subjektmodell der Aufklärung ein. Argumentativ stützt sich die Autorin auf die in <em>Dialektik der Aufklärung </em>formulierte These, dass das bürgerliche Subjekt bereits in den Eigenschaften der griechischen Heldenfigur Odysseus aus Homers <em>Odyssee </em>skizziert ist. Die List Odysseus' wird von Adorno und Horkheimer als Selbstermächtigung eines proto-bürgerlichen, kapitalistischen Subjekts übersetzt. (S. 80) Darüber hinaus verweist Kohpeiß auf die Parallele zwischen den narrativen Elementen der <em>Odyssee</em> und der kolonialen Erzählung von Christoph Kolumbus "Entdeckung" der karibischen Inseln im Jahr 1492. (S. 50ff) Kohpeiß' enge Lesart von Homers <em>Odyssee </em>in der Verlängerung Adornos und Horkheimers handelt meines Erachtens das ein oder andere Argument zu schnell ab, wodurch beim Lesen einige Fragen aufkommen: Wie verhält es sich zum Beispiel mit Odysseus' List als Merkmal aufklärerischer Überwindung und Beherrschung der Natur im Kontrast zu göttlicher List? Immerhin agiert in den antiken Mythen nicht nur Odysseus mit Schläue und Vermummung, sondern auch die Götter selbst. Und kann Athene, die als Odysseus' Beschützerin auftritt, in dieser Quelle bürgerlichen Selbstbestimmtheit einfach unterschlagen werden? Adorno und Horkheimer ziehen zwar eine platonische (vgl. Adorno/Horkheimer 2019, S. 12) Trennlinie entlang der Rivalität zwischen Poseidon und dem Olymp (vgl. Adorno/Horkheimer 2019, S. 57), diese geht allerdings bei Kohpeiß etwas unter. Dafür richtet die Autorin gekonnt die Aufmerksamkeit auf das, was die individualistische Heldenerzählung mit erzählt und was dabei unerzählt bleibt: Das selbstbestimmte Subjekt rastet auf der Dämonisierung Anderer, wie im Falle der Kikonen (S. 40), auf der unbesungenen Arbeit Unterworfener, wie der Mannschaft Odysseus (S. 83), auf vergeschlechtlichter Reproduktionsarbeit, wie der von Penelope, und auf Beherrschung weiblicher* Sexualität bei der Ermordung der Mägde im Zuge der Rückeroberung des bürgerlichen Heims (S. 81f).</p> <p>Im nächsten Abschnitt wird der Blick auf das ägäische Meer ausgeweitet auf "Das Mittelmeer" (S. 85-242). Hier wird die spezifische Affektkonstellation der europäischen Gegenwart anhand der Migrations- und Flüchtlingspolitik Europas und ihrer tödlichen Konsequenzen auf den Mittelmeer-Routen beleuchtet. Kohpeiß verweist u. a. auf Diskurse rundum die Kapitänin Carola Rackete und der Crew der Sea Watch 3, die 2019 53 Menschen rettete und von der Zentrale der italienischen Seenotrettung am Anlegen gehindert wurde. (S. 109-113) Sie argumentiert, dass moralische Empörung und sinnliche Ignoranz nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern beides Seiten der bürgerlichen Kälte darstellt: Die Bewunderung für Racketes moralisch lesbares Handeln wird nicht in das Ende der gewalttätig trennenden Subjektivierungslogik von europäischen Bürger*innen und ihren Anderen überführt. (S. 88) Stattdessen beobachtet die Autorin, wie Diskurse der Selbstkritik das bürgerliche Subjekt von der Härte der europäischen Ausschließungsmechanismen und des Leids der Geflüchteten entlasten: "Bürgerlichkeit wird, wenn sie auf die progressive Kraft der von ihr proklamierten Ideale den Zugriff verliert, zu bürgerlicher Kälte" (S. 185), die, als affektive Sozialtechnik (S. 187), die "hegemoniale Position [des Bürgertums] und den Fortbestand des Status quo [sichert]" (S. 242).</p> <p>Im dritten Teil, "Der Atlantik" (S. 243-348), werden mit Hilfe der Black Studies die kolonialen Dichotomien von Besitzenden und Besitz im postkolonialen US-amerikanischen Kontext offengelegt. Ein Schauplatz ist Motens Kritik an Hannah Arendts Kommentar zu den rassistischen Aufständen gegen Maßnahmen der Desegregation, die es 1957 neun afroamerikanischen Schüler*innen erlaubte, die Little Rock Central High School zu besuchen. (S. 298f) Ein Foto, das eine der Teenager*innen, Elizabeth Eckford, umringt von <em>weißen </em>Wutbürger*innen zeigt, bildet den medialen Raum, in dem Arendt und Moten die Un-/Möglichkeit der Teilhabe an Sozialität und Politik verhandeln. Mit Moten konstatiert Kohpeiß in der harten Trennung Arendts zwischen dem Privaten und Politischen eine politische Kälte (S. 306f), die einen vernuftsbegründeten Aufschub der Emanzipation im Dienste einer bürgerlichen Anteilnahme an der politischen Sphäre vertritt. (S. 314) Eine Einordnung von Arendts Konflikten mit der Frankfurter Schule und Fred Motens eigene Situierung in der Kritischen Theorie hätten noch ausführlicher diskutiert werden können. Des Weiteren fiel auf, dass zwischen der Diskussion Arendts, Motens, Kohpeiß' und der Mitschülerin Melba P. Beals, Eckford selbst (trotz zur Verfügung stehenden Interviewmaterials) nicht zu Wort gekommen ist. Die ansonsten sehr ergiebige Besprechung der <em>nonperformance </em>Eckfords (S. 310) kontextualisiert Kohpeiß in Bezug zu anderen Schauplätzen "verunmöglichter Autonomie" (S. 250) und schließt daraus mit Hartman, dass durch die lange intime Geschichte zwischen Freiheit und Knechtschaft das Denken über bürgerliche Freiheit ohne Unterwerfung nicht möglich ist. (S. 341) Es brauche also eine Subjekttheorie, die Freiheit und Unterdrückung zusammendenkt – nicht um Herrschende und Unterdrückte essentialistisch voneinander zu trennen, sondern um das Konzept bürgerlicher Freiheit zu denaturalisieren. (S. 347f) Dies ist das Projekt, das Kohpeiß in Adornos und Horkheimers Arbeit begonnen und in den Black Studies um das Offenlegen der kolonialen Dimension des humanistischen Subjekts ergänzt sieht. (S. 348)</p> <p>In einem abschließenden Kapitel mit dem Titel "Die Ozeanische Philosophie" (S. 349-378) entwirft Kohpeiß eine Aussicht: Wenn sich die ontologischen Gewissheiten des westlichen Denkens als koloniale Instrumente entpuppen, dann braucht es der Autorin zufolge eine philosophische Zerstörung dieser gewaltvollen Gewissheiten. (S. 371) An ihre Stelle könnte eine "Ethik der Unlesbarkeit" treten, die die "eigene Einschreibung in die symbolische und affektive koloniale Ordnung an[nimmt], und gleichzeitig [weiß], dass wir uns nie restlos darin erkennen können." (S. 377f) </p> <p>Kohpeiß Unterfangen, der affektiven Struktur Bürgerlicher Kälte als (proto)koloniale Technik des bürgerlichen Selbsterhalts nachzugehen, öffnet neben einer philosophischen Befragung des humanistisch entworfenen Selbst auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit produktiven Schnittstellen zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und den hier vornehmlich US-amerikanischen Black Studies. Was dabei allerdings ein wenig untergeht, ist das historische Verhältnis der jeweiligen Vertreter*innen zueinander: Es bleibt im Großen und Ganzen bei der Besprechung Adornos und Horkheimers durch die Brille der Black Studies und geht weniger auf aktuelle Beiträge der Kritischen Theorie ein. Auch hat der wirkungsvolle konzeptionelle Aufbau des Werks mit Bezug zu verschiedenen geografischen Bezugspunkten des Meeres die Erwartungshaltung geweckt, eine noch intensivere Auseinandersetzung mit Sharpes einschlägigem Werk zu Anti-Schwarzen Affektkonstellationen, <em>In the Wake. On Blackness and Being</em> (2016), zu erfahren. Darüber hinaus steht der erste Teil ein wenig abseits der zwei folgenden Kapitel und wird auch nicht mehr richtig aufgegriffen, sobald er abgehandelt ist. Dafür stechen der zweite und dritte Teil durch eine dichte Theoriearbeit hervor. Insbesondere die Beleuchtung von Europas Flüchtlingspolitik und die komplexen affektiven Strategien, die als Bürgerliche Kälte zutage treten, bieten einen wichtigen Beitrag zum Begreifen der Wirkweisen eines rassifizierten humanistischen Subjektbegriffs. Kohpeiß Aufruf zu einer Ethik der Unlesbarkeit lohnt es zu folgen – nicht nur in der Philosophie.</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: <em>Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente </em>[Orig.: 1947]. Frankfurt a. M.: Fischer 2019 [24. Aufl.].</p> <p>Sharpe, Christina: <em>In the Wake. On Blackness and Being.</em> Durham: Duke U. P. 2016.</p> Olivia Poppe Copyright (c) 2024 Olivia Poppe http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8284 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000 Sophie-Charlotte Opitz: Bilderregungen. Die Produktionsmechanismen zeitgenössischer Kriegsfotografie. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8666 <p>Der auf den ersten Blick etwas holprige Titel dieses Buches leitet sich von der doppelten Bedeutung ab, die er nahelegt. Die Leseweise Bilder-Regungen zielt auf den Wirkungszusammenhang fotografischer Aufnahmen aus dem Bereich der Kriegs- und Konfliktfotografie ab. Was bewirken derartige Bilder? Wie wirken sie auf Positionen und Meinungen? Die Veröffentlichung der Aufnahmen aus Abu Ghraib und ihr nachhaltiger Einfluss auf die Wahrnehmung des Irak-Kriegs wären hierfür ein Beispiel. Die Variante "Bild-Erregungen" verschiebt den Fokus auf den Entstehungszusammenhang der Fotografien. Die Frage, wodurch ein Bild geformt wird, löst jene nach seiner Wirkung ab. Diesen beiden Leseweisen liegt die Annahme zugrunde, dass Fotografien nicht nur formen, sondern immer auch geformt werden. Beide Phänomene bedingen einander.<br /> <br />Die Autorin Sophie-Charlotte Opitz hat ihr Buch in drei zentrale Abschnitte unterteilt. Neben einer umfassenden Einleitung, die einen Blick auf die wesentlichen Publikationen und den aktuellen Forschungsstand wirft, sind dies die Abschnitte "Intra-" beziehungsweise "Intermappings". Im ersten Fall handelt es sich um ein Kapitel über die ästhetischen Konzeptionen von Kriegs- und Konfliktfotografie, das von einem starken Praxisbezug bestimmt wird. Im Fokus stehen hier die Projekte von zwei Fotografinnen und drei Fotografen mit ganz unterschiedlicher Herkunft und Arbeitsweise. Ihre fotografisch höchst unterschiedlichen Projekte bilden gewissermaßen den Werkkorpus der Analyse. Das Kapitel "Intermappings" widmet sich dann den Bezügen zwischen den Fotograf*innen beziehungsweise den behandelten Werken. Die Autorin schickt voraus, dass es ihr dabei nicht darum gehe, allgemeingültige Aussage über ihr Thema zu treffen. Vielmehr sei sie an den Räumen interessiert, die sich zwischen den verschiedenen Positionen eröffnen. Anders ausgedrückt: Man hat es hier nicht mit einem Werk zu tun, das paradigmatisch darstellen möchte, was man unter Kriegs- und Konfliktfotografie zu verstehen habe, sondern mit dem Versuch, sich den vielfältigen Zusammenhängen und Mechanismen in Hinblick auf Entstehung und Wirkung derartiger Bilder zu nähern.<br /> <br />Die für dieses Vorhaben gewählte Methode ist eine transdisziplinäre, die stark an Überlegungen aus dem Bereich der Visuellen Kultur anknüpft und Aspekte wie Visualität, (un-)Sichtbarkeit, Repräsentation, Medialität und Identität ins Zentrum der Analyse rückt. Als weiterer methodischer Aspekt gerät die Gedächtnisforschung in den Blick, die den kulturellen und sozialen Rahmen untersucht, in den visueller Phänomene notwendigerweise immer eingebettet sind. Die Einführung umfasst deshalb eine knappe Darstellung der hierfür wesentlichen Modelle von Maurice Halbwachs bis zu Aleida und Jan Assmann. Opitz argumentiert, dass die veränderte Rolle, die Fotografien vor dem Hintergrund von Digitalisierung und den damit zusammenhängenden neuen Produktions- und Vermittlungsstrukturen zukommt, sich auch auf dem Gebiet der Erinnerungskultur widerspiegle. Das Archiv erfahre dadurch eine neue Dynamik, bei der nichtmehr allein der Gedanke des Speicherns im Zentrum stehe. Fotografien seien demnach nicht länger als abgeschlossene Werke zu verstehen, "sondern dienen als materieller Beweggrund zur Speicherung und/oder Transformation und/oder Erzeugung von Erinnerungen." (S. 24)<br /> <br />Als repräsentativ für den Abschnitt der "Intramappings" sei hier auf zwei der fünf behandelten Fotograf*innen verwiesen. Zum einen ist – nicht zuletzt aufgrund der Aktualität des Nahostkonflikts – der israelische Fotograf Shai Kremer zu nennen. Aufgewachsen in einem Kibbutz, studierte Shai Kremer zuerst an der Camera Obscura School of Arts in Tel Aviv, um 2002 in die USA zu gehen, wo er in New York ein Studium für Photography and Related Media anschloss. Kremer hat in unterschiedlichen Bereichen der Fotografie gearbeitet und widmet sich seit einigen Jahren ausschließlich künstlerischen Arbeiten, die einen starken politischen Kontext aufweisen. In diesem Sinne versteht er sich nicht als Kriegsfotograf, arbeitet aber in einem inhaltlichen Naheverhältnis, das vor allem auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina fokussiert. Allen seiner Arbeiten ist gemein, dass sie landschaftliche oder urbane Veränderungen durch Konflikte bzw. kulturelle Einflüsse thematisieren. Die im Buch behandelten Projekte widmen sich dem Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft sowie den ihm eingeschriebenen Machtverhältnissen. Ein Beispiel: Insgesamt neun Jahre (1999-2008) hat Kremer an dem Projekt <em>Infected landscapes</em> gearbeitet. Dem Projekt, das Spuren untersucht, die das Militär in der israelischen Landschaft hinterlassen hat, ist eine politische Kritik eingeschrieben. Der Zustand, in dem Politik und Militär auf die israelische Bevölkerung wirken, sei laut Kremer schlichtweg inakzeptabel. Indem er in seinen Aufnahmen die Menschen ausspart, die die Landschaften prägen, folgt er einer Ästhetik der Absenz, die ihre Produktivität dem Widerspruch zwischen einem militärischen Konflikt und der scheinbaren Friedlichkeit der abgelichteten Landschaften verdankt. Auf einem der Bilder sieht man einen von unzähligen Fußabdrücken gezeichneten Pfad durch ein Naturresort. Die Soldaten selbst, die die Spuren hervorgebracht haben, sind nicht zu sehen. Ein unheimliches Bild, das das Verhältnis zwischen künstlerischer Fotografie und Konfliktfotografie befragt; gleichzeitig eine deutliche Referenz auf Roger Fentons berühmtes <em>Valley oft he Shadow of Dead</em> aus dem Krimkrieg von 1855 – und damit aus der absoluten Frühzeit der Kriegsfotografie.<br /> <br />Nicht weniger eindrucksvoll sind die Fotografien Paula Luttringers, die seit Mitte der Neunzigerjahre mit ihren Arbeiten die Geschichte ihres Geburtslandes Argentinien befragt. Die 1955 geborene Luttringer geriet 1977 als Schwangere in Gefangenschaft der Militärjunta, konnte aber bald darauf mit ihrem Neugeborenen das Land verlassen. Als sie Jahre später nach Argentinien zurückkehrte, sah sie eine Ausstellung über inhaftierte Mütter und entdeckte so die Fotografie als Medium für ihre künstlerische Arbeit. Ihre konzeptuell wie intuitiv angelegten Werke sind durchwegs subjektiv und von einer starken politischen Haltung gekennzeichnet. In ihrem Projekt <em>Lamento de los muros</em> (dt. "Das Wehklagen der Mauern") etwa verbindet sie verschriftlichte Erinnerungen von einst inhaftierten Frauen mit architektonischen Nahaufnahmen ebenjener Gefängnisse, in denen die sogenannten <em>Desaparecidas</em> (die "Verschwundenen" der argentinischen Militärjunta) einst ihrem ungewissen Schicksal harrten. Visuell eindrucksvolle Aufnahmen in anklagendem Schwarz-Weiß, die die Seherfahrung der Betrachter*innen mit der furchtbaren Ungewissheit der Inhaftierten gleichsetzen. So, wie die <em>Desaparecidas</em> nicht wussten, wo man sie eingekerkert hatte, sind auch diese Aufnahmen nicht zuordenbar.<br />Derartige Projekte, die ausführlich analysiert und beschrieben werden, verdeutlichen, woran es der Autorin mit ihrem Buch gelegen ist. Es geht hier nicht nur um eine Aufarbeitung des Genres der Kriegs- und Konfliktfotografie, sondern gleichsam um eine Erweiterung seiner Grenzen, um ein Verständnis dafür, welche Arten von Fotografie konfliktgeladenen Kontexten entspringen können und was sie zu leisten vermögen.<br /> <br />Der Abschnitt "Intramappings" gliedert sich seinerseits in weitere Unterpunkte, wobei es um unterschiedliche Präsentationskontexte (Kapitel "Ästhetische Dispositive"), Fragen nach der Ontologie des Bildes selbst ("Das Bild als (welches) Ereignis?") und schließlich um die gestalterischen Mittel geht, die konkrete Erscheinungsformen der Fotos bestimmen. In all diesen Beobachtungen baut die Autorin auf die im Teil "Intramappings" vorgestellten Arbeiten auf und verortet ihre Fragestellungen in einem wissenschaftlichen Kontext, der essayistische Bemerkungen Susan Sontags genauso berücksichtigt wie die bildtheoretischen Ausführungen William J. T. Mitchels oder Umberto Ecos Überlegungen zum Offenen Kunstwerk, das hier zu einer Offenen Fotografie wird.<br /><br />"Produktionsmechanismen zeitgenössischen Kriegsfotografie" lautet der Untertitel dieses Buches. Das ist nachgerade eine Verharmlosung, denn zweifellos liegt hier ein Werk vor, das weit über diese Aspekte hinausreicht und seinen Gegenstand in einer Vielschichtigkeit befragt, die schon einmal schwindlig machen kann. Wenn es auch nicht das erste Werk ist, das stark nach dem Verhältnis zwischen Konfliktfotografie und künstlerischer Fotografie fragt (das Referenzwerk dazu wäre Agnes Matthias' <em>Die Kunst, den Krieg zu Fotografieren</em>), ist der Abschnitt der "Intramappings", der neben bekannten Namen auch Arbeiten weitgehend unbekannter Vertreter*innen vorstellt, als besonders lohnende Lektüre hervorzuheben. "Wer eine Hölle als das bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholen und das Höllenfeuer eindämmern kann", lautet ein ernüchternder Kommentar Susan Sontags über die beschränkte Wirkungsweise von Kriegsfotografien. In einigen der hier vorgestellten Projekte steckt so viel Energie, dass man es ihnen zutrauen würde, dieses Höllenfeuer, wenn schon nicht zu zähmen, dann doch zumindest ein wenig besser zu verstehen.<br /> <br /><strong>Literatur</strong>:<br />Matthias, Agnes: <em>Die Kunst, den Krieg zu Fotografieren. Krieg in der künstlerischen Fotografie der Gegenwart</em>. Marburg: Jonas 2005.<br />Sontag, Susan: <em>Das Leiden anderer betrachten</em>. Frankfurt a. M.: Fischer 2005.</p> David Krems Copyright (c) 2024 David Krems http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/8666 Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0000