[rezens.tfm] https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm <p>e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien</p> de-DE <p>Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de" target="_blank" rel="noopener">Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0</a>. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.</p> rezens.tfm@univie.ac.at (Redaktion [rezens.tfm]) florian.schwarz@univie.ac.at (Florian Schwarz) Thu, 11 May 2023 00:00:00 +0200 OJS 3.2.1.3 http://blogs.law.harvard.edu/tech/rss 60 Guido Kirsten: Découpage. Historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7911 <p>Warum hat der Begriff der Découpage im Unterschied zu Montage und Mise-en-Scène keinen Eingang in die deutsch- oder englischsprachige filmwissenschaftliche Terminologie gefunden? Warum wurde er bei Übersetzungen aus dem Französischen häufig als "Schnitt" oder "<em>cutting</em>" und "<em>editing</em>" wiedergegeben? Diesen und anderen Fragen geht Guido Kirsten in seiner, sowohl was ihre Methodik als auch die Genauigkeit und Bandbreite der Analyse angeht, geradezu vorbildlichen begriffsgeschichtlichen Untersuchung nach.</p> <p>Im Deutschen ließe sich Découpage am ehesten mit "szenische Auflösung" wiedergeben, im Englischen mit "<em>scene dissection</em>". Dabei sind, wie Kirsten betont, zwei Perspektiven möglich: einerseits die des Produktionsprozesses, in dem eine Handlung und der dazugehörige Handlungsraum vor und während des Drehs in einzelne Einstellungen untergliedert wird, und andererseits die der Analyse, in der die filmische Darstellungsweise und ihre ästhetische Wirkung betrachtet werden.</p> <p>Hieraus ergibt sich die zentrale Schwierigkeit bei einem solchen Projekt, das versucht die "historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs", wie es im Untertitel des Buchs heißt, zu rekonstruieren. Das Wort "Découpage" bezeichnet in der französischsprachigen Filmliteratur unterschiedliche Dinge und Sachverhalte, wie Kirsten in seiner Studie präzise herausarbeitet. Methodisch bezieht er sich dabei auf die begriffsgeschichtlichen Überlegungen Reinhart Kosellecks, die von einer bei Michel Foucault sowie der Cambridge School, insbesondere Quentin Skinner und John G. A. Pollock, anknüpfenden diskursanalytischen Perspektive flankiert wird. Dieses theoretische Instrumentarium erlaubt es ihm, auf Grundlage einer breit angelegten Untersuchung der französischsprachigen Filmliteratur seit den 1910er Jahren sowie unter Bezugnahme auf einige neuere, vor allem aus Frankreich und Kanada stammende Untersuchungen zum Begriff der Découpage, dessen Bedeutungsvarianten zu inventarisieren und in die jeweiligen filmtheoriegeschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen.</p> <p>In der zweiten Hälfte der 1910er Jahre erscheint "Découpage" im Sinn von "szenische Auflösung" in der französischen Filmfachpresse, um den amerikanischen Filmstil von der in Europa noch vielfach vorherrschenden Tableau-Ästhetik zu unterscheiden, welche die Handlung auf mehrere Bildebenen in der Tiefe verteilt. Um 1918-19 veröffentlicht der französische Autor und Filmemacher Henri Diamant-Berger mehrere Artikel in der Zeitschrift <em>Le Film</em>, in denen er die französischen Filmschaffenden dazu aufruft, sich die amerikanische Produktionsweise zum Vorbild zu nehmen. Découpage kann dabei dreierlei bedeuten: die Planung des Drehs und der Einstellungswechsel, deren praktische Umsetzung sowie das schriftliche Dokument, in dem die Einstellungsfolge festgelegt wird. In letzterer Bedeutung bezeichnet Découpage die <em>continuity</em> oder das <em>shooting script</em>. In der hochgradig arbeitsteiligen Filmproduktion Hollywoods wird darin der Ablauf der Drehs weitgehend vorherbestimmt, was den Studios wiederum die größtmögliche Kontrolle erlaubt. Im französischen Diskurs der 1920er wird diese "amerikanische Découpage", die vor allem für die narrative Ökonomie der Filme wichtig ist, unterschieden von der Praxis von Filmschaffenden wie Germaine Dulac oder Henri Chomette, die mit der Veröffentlichung der Découpage ihrer Filme in der Form von Drehbuchauszügen mit Angaben zu Kadrierung und Länge der Einstellungen gerade ihre Autor*innenschaft unterstreichen, vor allem, was die rhythmische und visuelle Gestaltung betrifft. Der Begriff der Découpage in französischen Fachzeitschriften der 1920er Jahre kann somit auf verschiedene Praktiken und Funktionen innerhalb der Filmproduktion verweisen, wie Kirsten anhand zahlreicher Quellen detailliert nachweist. Überhaupt ist es ein großes Verdienst des Buches, zeitgenössische Texte in ausführlichen Originalzitaten zu präsentieren, mit Übersetzungen in den Fußnoten, sodass sich ein nuancenreiches Bild der jeweiligen Diskussionen ergibt.</p> <p>Die Frage der Autorschaft im Zusammenhang mit der Découpage verschärft sich dann mit dem Tonfilm, in dem die Dialoge eine zentrale Rolle für die szenische Gestaltung spielen. In den 1930er Jahren wird zunehmend unterschieden zwischen der <em>découpage artistique</em> oder <em>littéraire</em>, die schriftlich im Drehbuch festgelegt wird, und deren Umsetzung bei den Dreharbeiten in der <em>découpage technique.</em> Die Frage ist dann, ob die Regie einfach nur die Vorgaben des Drehbuchs umsetzt oder ob erst aus dieser Umsetzung der Film als kinematografisches Werk entstehen kann, das dann die Handschrift (<em>écriture</em>) der Regisseurin oder des Regisseurs trägt. Für die Filmkritik ist Letzteres entscheidend, sodass die Découpage in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre zu einem nun filmästhetisch gewendeten Schlüsselbegriff wird, insbesondere in den Schriften André Bazins.</p> <p>Wohl vor allem durch die Begegnung mit den Filmen von William Wyler und Orson Welles sowie dem italienischen Neorealismus kommt Bazin in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu dem Schluss, dass die Filmkunst in eine neue Phase eintritt, die den Film auf eine Stufe mit der Literatur stellt. Die hieraus resultierende Entwicklung der Filmsprache versteht er, wie auch seine Mitstreiter Alexandre Astruc, Roger Leenhardt, später auch Barthelémy Amengual, als eine Abkehr von einem Kino, in dem die Montage als das zentrale filmische Ausdrucksmittel gesehen wird. Für Bazin zeigt sich in den Filmen von Wyler, Welles, Rossellini, De Sica, aber auch bei Jean Renoir, eine Filmästhetik, die zudem auch die "klassische Découpage" hinter sich lässt und mit der Sequenz-Einstellung (<em>plan-séquence</em>) sowie der Inszenierung in der Raumtiefe in eine neue Dimension des filmischen Realismus vorstößt. Gleichzeitig manifestiert sich in der Découpage dieser von ihm immer wieder als Beispiele herangezogenen Regisseure deren unverwechselbare Handschrift.</p> <p>Gerade was die einschlägigen Texte Bazins zur Découpage betrifft, wird anhand von Kirstens sorgfältiger Rekonstruktion deutlich, welche Missverständnisse, ja Widersprüche sich aus der deutschen Übersetzung als "Schnitt" ergeben. Der eigentliche Gehalt dieser Schriften ist dadurch, wortwörtlich, <em>lost in translation</em>. Das wiederum lässt sich wohl nur zu einem geringen Teil denen anlasten, die Bazins Schriften ins Deutsche (oder Englische) übertragen haben. Zum einen aufgrund der Vieldeutigkeit des Terms, aber auch, weil er in sich einigermaßen widersprüchlich ist, denn er betont, wie Bazin einmal anmerkt, das Zerschneiden des Raums in der szenischen Auflösung, anstatt, wie <em>continuity</em> es im Englischen tut, zu unterstreichen, dass über die Anschlüsse ja gerade eine räumliche oder raum-zeitliche Kontinuität hergestellt wird. Andererseits verschwindet der Begriff der Découpage im Laufe der 1950er und 1960er Jahre zunehmend aus der französischen Filmkritik, und er wird in den ersten Ansätzen zu einer universitären Filmwissenschaft nicht wieder aufgenommen. Als dann die ersten Übersetzungen von Bazins Schriften entstehen, ist der filmästhetische Gehalt des Découpage-Konzepts auch in Frankreich offenbar weitgehend in Vergessenheit geraten.</p> <p>Die Generation der <em>Cahiers du cinéma</em>, die eine <em>politique des auteurs</em> betreibt, wie zunehmend auch Bazin selbst, subsumiert die Découpage unter die Mise en scène, der dann nahezu alle kreativen Entscheidungen bei der Herstellung eines Films zugeschrieben werden. Für die ab Mitte der 1960er Jahre im universitären Bereich dominierende Filmsemiotik wiederum ist der Begriff Découpage keine analytische Kategorie, das Wort wird allenfalls noch in der Bedeutung "Einstellungsprotokoll" verwendet. In der ideologiekritisch gewendeten Filmanalyse der 1970er Jahre wird Découpage schließlich wieder zum Synonym für die szenische Auflösung im amerikanischen Kino, die vor allem darauf abzielt, dem Publikum die Illusion zu vermitteln, einem bruchlos erzählten Geschehen beizuwohnen.</p> <p>So in etwa beschreibt Kirsten die Hauptlinie der Geschichte des Begriffs, doch darüber hinaus geht er immer wieder auch den Verästelungen seiner Verwendung nach, wie beispielsweise Jean Epsteins weitgehend unbeachtet gebliebener nicht-narrativer Interpretation des Konzepts oder Noël Burchs Auffassung der Découpage als Organisation des filmischen Materials in Analogie zur seriellen Musik. Kirsten präsentiert somit ein weites Bedeutungsspektrum des Begriffs der Découpage, den er immer wieder in die jeweiligen historischen Zusammenhänge einordnet. Dabei eröffnet er auch wichtige Einsichten sowohl in die sich verändernden Produktionspraktiken als auch in die filmästhetischen Positionen, innerhalb deren der Begriff eingesetzt wurde. Zudem zeigt sich, dass einige Texte André Bazins auf Deutsch anders gelesen werden sollten, weil dort an zahlreichen Stellen der Ausdruck "Schnitt" in der Übersetzung schlicht widersinnig ist.</p> <p>Am Ende seines Buchs konstatiert Kirsten, ein historisch informierter Begriff der Découpage könne die Filmwissenschaft nur bereichern. In der Tat würde er erlauben, das Zusammenspiel von raum-zeitlicher Gliederung und rhythmischer Organisation der Einstellungen zu fassen. Um den Begriff in der deutschsprachigen Filmwissenschaft produktiv zu machen, ist Guido Kirstens Buch eine breite Rezeption zu wünschen.</p> Frank Kessler Copyright (c) 2023 Frank Kessler http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7911 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Christian Richter: FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE. Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/5334 <p>In seiner Dissertation fragt Christian Richter geradeheraus nach dem "gemeinsam geteilten Kern" von klassischem, linearem Fernsehen und On-Demand-Angeboten, die sich als deren überlegener Ersatz präsentieren (S. 20). Damit reiht sich die Schrift in eine ganze Reihe an Studien der vergangenen Jahre ein, die das "alte" Fernsehen im digitalen und Online-Fernsehen aufzuspüren suchen oder von einer "Neuerfindung" des Fernsehens durch On-Demand- und Streamingdienste sprechen (u. a. Gripsrud 2010; Bennett/Strange 2011; Ahl 2014; Jenner 2018; Johnson 2019; Bruun 2020). Zugleich wendet sich die Studie von Beginn an sehr deutlich gegen die geläufige Abwertung linearer Fernsehangebote, die Idealisierung des Digitalen und das medienübergreifende Narrativ, dass neu immer gleich besser bedeute.</p> <p>In den einleitenden Kapiteln übt Richter sogleich Kritik an künstlichen Dichotomien wie analog vs. digital, passiver vs. aktiver Medienkonsum sowie Push- vs. Pull-Medien (S. 21ff). Zwar lassen sich diese Gegenüberstellungen hierbei nicht auflösen. Auch will die Studie, so Richter, bewusst nicht von der "verkürzten Wahrnehmung des Fernsehens" (S. 43) abrücken, sie im Gegenteil eher produktiv machen. Der im "Vorspann"-Kapitel demonstrierte diskurs- und theoriekritische Ansatz zeigt jedoch auf, dass sich bei allen Heilsversprechen des Digitalen eines an On-Demand-Angeboten nicht verleugnen lässt: ihre "Televisionizität", d. h. eine jenseits des Fernsehens fortbestehende "Fernsehhaftigkeit" (S. 24). Diese Fernsehhaftigkeit versteht der Autor als eine vornehmlich ästhetische und dramaturgisch-inszenatorische Kategorie. Die Studie fragt also nicht, welche On-Demand-Angebote aus technologischer, institutioneller oder kulturpraktischer Sicht wie Fernsehen <em>funktionieren, </em>sondern recht bescheiden danach, was wie Fernsehen <em>aussieht</em> – und in der Folge als solches verstanden werden könnte.</p> <p>Nach diesem "Vorspann" (S. 15-43) geht die Dissertationsschrift der Fernsehhaftigkeit von Netflix und YouTube mit umfassenden Beispielanalysen auf den Grund, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf den televisionären Darstellungs- und Inszenierungsformen auf YouTube liegt. Die gewählten Untersuchungsgegenstände stehen gewissermaßen im maximalen Kontrast zueinander: Netflix und YouTube vertreten als geschlossene, abonnementpflichtige Plattform, auf deren Inhalte die User*innen keinen Einfluss haben, bzw. offenes, weitgehend kostenfreies Videoportal (der kostenpflichtige Bereich des Videoportals, YouTube Premium, wurde in der Analyse nicht berücksichtigt), das von privaten wie professionellen Akteuren bespielt wird, zwei sehr verschiedene On-Demand-Modelle (S. 27f) und damit auch unterschiedliche Televisionizitäten. Abgesehen vom kompakten Kapitel 2 ("Vom Programm zur Programmierung"), das sich dann doch kurz und kompakt den Brüchen zwischen TV und VoD aus techno- und programmlogischer Sicht zuwendet, interessiert sich die Studie allerdings weniger für Divergenzen als für die großen gemeinsamen Nenner. Als theoretische Bezugskonzepte und zugleich Hauptkapitel fungieren deshalb vier fernsehwissenschaftliche Buzzwords: Flow (Kap. 3), Serialität (4), Liveness (5), Adressierung (6).</p> <p>Die tradierten Zuschreibungen arbeitet der Autor in kleinteiligen Unterkapiteln und mittels klassischer Fernsehtheorien (u. a. Stanley Cavell, Mary Ann Doane, John Ellis, Lorenz Engell, Knut Hickethier, Raymond Williams u. v. m.) auf. Dadurch eignet sich die Studie sehr gut als Einstiegslektüre zu einem fernsehwissenschaftlichen Studium. Notwendigerweise wird dabei aber auch vereinfacht und generalisiert, anstatt auf die Komplexitäten und Ambivalenzen von Fernsehhaftigkeit näher einzugehen. Die Argumentation, dass sich Prinzipien von Flow, Serialität und Liveness bei On-Demand-Angeboten fortschreiben, ist bei den YouTube-Analysen meist passgenauer als in Bezug auf Netflix. Hier wären differenziertere Betrachtungen notwendig, u. a. zu den mittlerweile doch verschobenen oder eliminierten Rezeptionszyklen im Zusammenhang mit individueller Sichtung und Binge-Watching (S. 170-179), sowie im Hinblick auf die staffelweise veröffentlichten "Netflix Originals" (anstatt der kanonischen "Qualitätsserien", die ursprünglich aus dem linearen Fernsehen stammen, S. 234-239, 266).</p> <p>Kapitel 3 arbeitet sich anhand auf YouTube veröffentlichter Clips aus dem ZDF-Format <em>Fernsehgarten</em> an dem fernsehwissenschaftlich unausweichlichen, aber auch strapazierten Begriff des Flows ab. Richter perspektiviert das Konzept sowohl auf die "Gegenwartsbezogenheit" als auch auf die Zukunftsorientierung des Fernsehens (Nowness vs. Nextness; S. 73-86) und berücksichtigt die segmentierenden, partikularisierenden Operationen des Flows ebenso wie seine Außenwahrnehmung und -wirkung als kontinuierlicher Fluss (S. 86-94). Eine wesentliche Erkenntnis aus der Analyse von YouTubes Interface und Clip-Ästhetik: Das Zusammenstellen von Programmeinheiten nach Ähnlichkeitsprinzipien ist keine völlig neue Erfindung von On-Demand-Plattformen und Algorithmen, sondern schon immer auch eine Prämisse der klassisch-redaktionellen Programmplanung im Fernsehen (S. 124). Angesichts des durch Interfaces dekonstruierten Programmflusses schlägt Richter vor, das Konzept des Flow von On-Demand-Fernsehangeboten in drei Richtungen weiterzudenken. Erstens im Hinblick auf die automatisierte Wiedergabe ("Auto-Flow", S. 111-116); zweitens in Bezug auf die kontinuierliche Empfehlung weiterer TV-Inhalte durch die untersuchten Plattformen ("Vorschlags-Flow", S. 123-127); und drittens hinsichtlich clip- und episodenübergreifender Erzählstrukturen (der "narrative Flow", S. 129-142). Letzteren spricht der Autor eine besonders langfristige Wirkmacht zu, zugleich leitet seine Analyse narrativer Verkettungen auf den YouTube-Kanälen <em>BibisBeautyPalace</em> und <em>Julienco</em> sinnigerweise in das nächste Kapitel zu Serialität über. Hinsichtlich der ersten beiden Begriffe ist anzumerken, dass diese doch stark an zwei bereits vorgenommene Aktualisierungen von Flow erinnern: "Entrance Flow" (Perks 2015, S. xxii; Jenner 2018, S. 134) und "Insulated Flow" (vgl. Perks 2015, S. xxiv). Diese Referenzen wurden zur Herleitung von Auto- und Vorschlags-Flow aber nicht herangezogen.</p> <p>Tatsächlich stellt sich an mancher Stelle in dieser Studie der Eindruck ein, dass zwar alle theoretischen Klassiker angeführt, einige neuere Arbeiten zu Online-Fernsehen, Netflix oder Binge-Watching aber ausgelassen wurden, die die vorliegenden Thesen von Flow und Serialität der On-Demand-Angebote gestützt hätten (z. B. McDonald/Smith-Rowsey 2016; Barker/Wiatrowski 2017; Lotz 2017, 2018; Jenner 2018). Trotz dieser gelegentlichen Lücken findet in Kapitel 4 eine umfassende Diskussion über die "Kultur des Seriellen" statt – aus narrato- wie aus produktions- und distributionslogischer Sicht. Den Grunddimensionen von Serialität, Wiederholung und Variation werden je gleich zwei Unterkapitel gewidmet, um sowohl ihre gesellschaftlich-kulturellen als auch ihre rezeptionslogischen Funktionen zu bestimmen. Lediglich der recht kurze Teil zu "Alternativen und Adaptionen" (S. 203-211), wäre um eine Auseinandersetzung mit den seriell angelegten Empfehlungen von On-Demand-Plattformen zu ergänzen.</p> <p>Kapitel 5 zu Liveness nimmt indes den Faden zur Gegenwartsfixierung des Fernsehens wieder auf. Obgleich Liveness im engeren Sinne, d. h. <em>Echtzeit</em>übertragung von Ereignissen, heutzutage schon im klassischen Fernsehen eher den Sonderfall oder gar eine Illusion darstellt (S. 215-221), ist das Konzept, gekoppelt an Eindrücke von <em>Echtheit</em> und Imperfektion, besonders für YouTuber*innen weiterhin von hoher Relevanz, wie der Autor anhand sogenannter Ungeschnitten-Videos deutlich herausstellt (S. 247-266). Im Fokus des Kapitels stehen aber nicht nur Echtzeit-Formate wie Let's-Play-Videos sowie ehemalige Live-Übertragungen auf YouTube als Beispiele "konservierter Liveness" an (S. 244f). Zusätzlich beschäftigt Richter sich damit, wie Liveness als Denkkategorie unsere Sehgewohnheiten bilateral prägt: Sowohl auf Beschleunigungs- als auch auf Entschleunigungstendenzen geht das Kapitel ein, wobei dem Phänomen des "Slow TV" besondere Aufmerksamkeit zuteilwird (S. 227-242). Ob die Langeweile kultivierenden, entspannenden Bergbahn- und Schifffahrt-Aufnahmen, die Richter hier als Beispiele heranzieht, aber nicht eher als eine Nische im Fernseh- und On-Demand-Angebot verbleiben, lässt sich dabei durchaus hinterfragen. Auch die zitierten Echtzeit-Passagen in Ausnahme-Serien wie <em>Breaking Bad</em> und <em>Mad Men</em> bilden noch keine konsequente Evolution unter Fernseh- und Webserien.</p> <p>Im sechsten Kapitel nähert sich der Autor dem Themenkomplex televisionärer Direktadressierungen über die Netflix-Serie <em>House of Cards</em> und ihre regelmäßig in die Kamera sprechende Hauptfigur. Zwar spielen Publikumsansprachen in fiktionalen Serien eine weniger zentrale Rolle als in anderen TV-Formaten (obgleich in den vergangenen zehn Jahren ein zunehmend genutztes Stilmittel in Serien wie auch Spielfilmen), dennoch ist das Beispiel hier treffsicher. Denn es zeigt die universelle Bedeutung von Zuschaueradressierungen für diverse Fernsehgenres auf. Durch ihre rahmende, inkludierende und Vertrauen schaffende Funktion, so Richters Argument, seien Publikumsansprachen ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Film und Fernsehen (S. 273-282). Deutlich wird dieser Punkt erneut bei der Analyse ausgewählter YouTube-Videos, bei denen das Sprechen in die Kamera spontaner, intimer und durch umgangssprachliche Formulierungen auch zugänglicher ist. Hier gehe es, konträr zu den monologisierenden Serienfiguren, die dem Publikum nur die Rolle des stummen Komplizen zuweisen können, um gegenseitige Verständigung und die Legitimierung der exhibitionistisch-voyeuristischen Beziehung zwischen YouTuber*innen und Zuschauer*innen. Das Mittel der Direktadressierung wirke hier interaktions- und dialogfördernd (S. 295-320).</p> <p>Nach den umfassenden Hauptkapiteln 3 bis 6 resümiert Richter, dass die "televisionizitäre Wirkung" von "internetbasierten On-Demand-Diensten" (S. 323) in ihrer Bezugnahme auf und Reproduktion von Fernsehästhetiken begründet liege: "Mit Fernsehhaftigkeit verbundenen Erwartungen liefern die äußeren Vorgaben, an denen sich die televisionizitären Angebote der On-Demand-Plattformen vielfach ausrichten. FERNSEHEN stellt somit das Gerüst dar, in das Inhalte eingebettet werden. Es zeigt sich als ein Rahmen, der durch bestimmte Regeln definiert ist" (S. 330). Netflix und YouTube übernehmen kontinuierlich Formatvorgaben, Rhetoriken, Gestaltungs- und Inszenierungselemente aus dem Fernsehen, weshalb sie selbst "eine weitere Variante von Fernsehen", dessen „neue Version“ seien (S. 334). In diesem Fazit schließt sich der Autor den o. g. bisherigen Studie an, die Fernsehen als Sammelbegriff und theoretisches Bezugssystem auffassen, unter dem auch Online-TV-Angebote und On-Demand-Plattformen zu subsumieren sind. Somit setzt auch diese Dissertationsschrift dem hartnäckigen Narrativ vom "Tod des Fernsehens" eine beispielreiche, informierte Studie entgegen.</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Ahl, Jennifer: <em>Web-TV. Entstehungsgeschichte, Begriffe, Ästhetik</em>. Glückstadt: Hülsbusch 2014.</p> <p>Barker, Cory/Wiatrowski, Myc (Hg.): <em>The Age of Netflix. Critical Essays on Streaming Media, Digital Delivery and Instant Access</em>. Jefferson: McFarland 2017.</p> <p>Bennett, James/Strange, Niki (Hg.): <em>Television as Digital Media</em>. Durham: Duke University Press 2011.</p> <p>Bruun, Hanne: <em>Re-Scheduling Television in the Digital Era</em>. London/New York: Routledge 2020.</p> <p>Gripsrud, Jostein (Hg.): <em>Relocating Television. Television in the Digital Context</em>. London: Routledge 2010.</p> <p>Jenner, Mareike: <em>Netflix and the Re-Invention of Television</em>. Cham: Palgrave Macmillan 2018.</p> <p>Johnson, Catherine: <em>Online Television</em>. London/New York: Routledge 2019.</p> <p>Lotz, Amanda D.: <em>Portals. A Treatise on Internet-Distributed Television</em>. Michigan: University of Michigan Library 2017.</p> <p>Lotz, Amanda D.: <em>We Now Disrupt This Broadcast. How Cable Transformed Television and the Internet Revolutionized It All</em>. Cambridge: MIT Press 2018.</p> <p>McDonald, Kevin/Smith-Rowsey, Daniel (Hg.): <em>The Netflix Effect. Technology and Entertainment in the 21st Century</em>. New York: Bloomsbury Academic 2016.</p> <p>Perks, Lisa Glebatis: <em>Media Marathoning. Immersions in Morality</em>. New York: Lexington Books 2015.<a href="https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/workflow/index/5334/5/applewebdata://98A35960-D8F7-400E-8650-468DD3FE6F7B#_ftnref1" name="_ftn1"></a> </p> Jana Zündel Copyright (c) 2023 Jana Zündel http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/5334 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Timo Rouget: Filmische Leseszenen. Ausdruck und Wahrnehmung ästhetischer Erfahrung. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7456 <p>Die filmische Inszenierung von Szenen des Lesens, einer Tätigkeit, die von außen betrachtet kaum Rückschlüsse über die inneren Vorgänge zulässt, scheint auf den ersten Blick nicht sehr vielversprechend zu sein. Nichtsdestotrotz, so das dem hier besprochenen Buch vorangestellte Motto, sind für Jean-Luc Godard das Außergewöhnlichste, was es zu filmen gibt, Menschen, die lesen (vgl. S. 1). Mit <em>Filmische Leseszenen: Ausdruck und Wahrnehmung ästhetischer Erfahrung</em> legt Timo Rouget nicht nur eine der ersten umfangreichen Arbeiten zum Lesen im Film vor, sondern darüber hinaus eine präzise und systematische Analyse der Darstellung von ästhetischer Erfahrung im Medium Film. Die These, dass durch die medial selbstreflexive Darstellung eines ästhetischen Rezeptionsprozesses bei den Zusehenden selbst eine ästhetische Erfahrung und in diesem konkreten Fall eine Reflexion des eigenen Leseverhaltens hervorgerufen wird, steht am Beginn dieser gut strukturierten Auseinandersetzung. Dabei sind drei Fragen, welche die Gliederung der Arbeit vorgeben, zentral: Wie ist literarisch-ästhetisches Lesen im Film darstellbar? Welche Funktionen erfüllen filmische Leseszenen? Und inwiefern kann eine literarisch-ästhetische Leseszene eine ästhetische Erfahrung bei den Zuschauenden evozieren?</p> <p>Da kaum systematische Untersuchungen zu Leseakten im Film vorliegen, ist es das selbsterklärte Ziel, basierend auf Erkenntnissen der Filmphänomenologie und der Körpertheorie von Vivian Sobchack Ordnungsprinzipien für diesen Forschungsgegenstand zu definieren. Indem die Arbeit medienwissenschaftliche und lesesoziologische Forschungsdiskurse miteinander in Beziehung setzt, wird nicht nur ein interdisziplinärer Ansatz konsequent verfolgt, sondern auch der Inszenierung des Lesens als multidimensionalem Phänomen Rechnung getragen. Auch wenn in der zu Beginn ausgeführten theoretischen Grundlage die zentralen Begriffsbestimmungen des literarisch-ästhetischen Lesens und der ästhetischen Erfahrung etwas kursorisch anmuten, stellt sich rasch heraus, dass der Forschungskontext für das verfolgte Ziel damit ausreichend umrissen und eine fundierte Basis für die systematische Bestimmung der Funktionsweisen von filmischen Leseszenen gelegt ist. Unter Bezug auf den Begriff der <em>cues</em>, womit im Sinne des Neoformalismus Hinweisreize im Film verstanden werden, entwickelt die Arbeit eine Terminologie für die Inszenierungsmöglichkeiten von Leseszenen, die auf unterschiedlichen filmischen Ebenen vorliegen können und anhand von vier Konstituenten analysiert werden. So besteht eine Leseszene aus einem Leseobjekt, einem Lesesubjekt, einer Lesesituation und einer Lesekommunikation: "Als Darstellung des literarisch-ästhetischen Lesens im Film gelten solche Szenen, in denen ein Buch (Leseobjekt) von einer Figur (Lesesubjekt) in einer filmisch sicht- und/oder hörbaren sowie zeitlich begrenzten Interaktion (Lesesituation) gelesen wird, wobei das – und/oder über das – Gelesene kommuniziert wird (Lesekommunikation)" (S. 83). Damit sind auch die Kriterien des Untersuchungskorpus festgelegt und Filmszenen, in denen zwar allgemein über das Lesen oder Literatur gesprochen wird, aber kein Leseobjekt zu sehen ist, ausgeschlossen.</p> <p>Das entwickelte vierteilige Modell von literarisch-ästhetischen Leseszenen trägt nicht nur zu einer Präzisierung und Kategorisierung des Forschungsgegenstandes bei, sondern erschließt auch die wechselseitigen Beziehungsverhältnisse der Konstituenten zueinander. So leistet beispielsweise die Analyse der kinematographischen Perspektivierung, d. h. der Einstellungsgröße, der Distanz zum Sichtobjekt, der Kameraperspektive oder des Betrachtungswinkels im Verhältnis zur Kameraposition, eine detaillierte Beschreibung des Erscheinungsbildes des Leseobjekts und werden Schlussfolgerungen möglich wie: "Je weiter die Distanz zwischen Sichtpunkt, Buch, und Kamera ist, desto weniger liegt der Fokus auf dem Text" (S. 111). Indem nicht das Leseobjekt, sondern das Lesesubjekt ins Zentrum der Inszenierung tritt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom Text auf die Figuren. Diese werden mit Attributen versehen, die mit der symbolischen Bedeutung des Buches zusammenhängen: "Eine häufige Funktion von Leseszenen liegt darin, die Figur durch das Lesen schlaglichtartig zu charakterisieren: Filmische LeserInnen können je nach Kontext durch eine einzige Einstellung, in der sie lesend abgebildet sind, als besonders intelligent, introvertiert, sinnlich, weltfremd usw. erscheinen" (S. 159). Dass Leseszenen im Film darüber hinaus noch eine Vielzahl an anderen Funktionen erfüllen, wird im Laufe der Arbeit an unzähligen Filmbeispielen gezeigt. Bemerkenswert sind dabei nicht nur die Verweise auf an die 100 unterschiedliche Filme, sondern auch die zahlreichen fotografischen Abbildungen der betreffenden Filmsequenzen. Der Menge an Leseszenen in Filmen ist es geschuldet, dass der getroffenen Auswahl der Beispiele eine gewisse Zufälligkeit attestiert werden kann. Jedoch sind die Prämissen für die Erstellung des Untersuchungskorpus klar formuliert und eine systematische und kategoriengeleitete Auswahl der Filme eindeutig erkennbar. Die Analysen der filmischen Leseszenen sind nach filmspezifischen Topoi strukturiert und so wird das Lesen als stille Lektüre (Kapitel 9), in Verbindung mit Liebe und Sex (Kapitel 10), als mediale Selbstreflexion (Kapitel 11) und als Enkulturation (Kapitel 12) untersucht. Darüber hinaus werden zwei Sonderformen des Lesens in Filmen in den Blick genommen und lesende Roboter in Science-Fiction-Filmen (Kapitel 13) sowie Lesedarstellungen im Horrorfilm (Kapitel 14) analysiert. Die letzte der drei zentralen Forschungsfragen, wie die filmische Darstellung von Leseszenen eine ästhetische Erfahrung bei den Zusehenden auszulösen vermag, wird in einem abschließenden Kapitel anhand der Filme <em>Nocturnal Animals </em>(2016), <em>Prospero's Books</em> (1991) und <em>Die andere Heimat</em> (2013) exemplarisch beantwortet.</p> <p>Indem die Arbeit von Rouget weniger auf die narrative Einbettung einer Leseszene beziehungsweise ihren kausallogischen Stellenwert im Film fokussiert als auf die durch das filmische Medium ausgelöste Mehrfachcodierung und die synästhetische Wahrnehmung auf der rezipierenden Seite, gelingt es, die folgende Formel anhand unzähliger Beispiele zu bestätigen: "Je filmästhetisch <em>dichter</em> eine Leseszene inszeniert ist – Changieren von Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven, die Kombination mit Musik und/oder die Benutzung tradierter Motive in filmsprachlicher Spezifik –, desto eher können die Zuschauenden die Leseerfahrung der Figuren <em>spüren</em>" (S. 429). Das Besondere an der Inszenierung von Leseszenen, die, wie anfangs erwähnt, nicht sehr vielversprechend erscheint und in der die Textrealität für die Zusehenden eigentlich nicht sicht- oder hörbar ist, besteht genau darin, dass sie das Lesen <em>erfahrbar</em> machen. Denn im Vergleich zur filmischen Inszenierung anderer Kunstformen, wie der Darstellung von bildender Kunst oder Tanz, steht nicht das Kunstobjekt im Vordergrund, sondern die ästhetische Erfahrung der Filmfigur. Somit, so das Fazit von Rouget, liegt die Schönheit von Leseszenen "im filmisch bedeutungsoffen inszenierten Akt der Lektüre, der den ZuschauerInnen Freiraum zur Imagination lässt" (S. 433).</p> <p>Timo Rougets Dissertation gelingt es auf bemerkenswerte Weise, sowohl die Forschungslücke hinsichtlich der Analyse von Leseszenen in Filmen systematisch und mit einer interdisziplinären Perspektive zu schließen als auch eine inspirierende und fokussierte Lektüre eines besonderen Aspekts der Filmgeschichte vorzulegen. Mit einem umfangreichen Anhang, bestehend aus einem Sach-, Personen- und Filmregister sowie einer – vor allem für ein lese- und literaturwissenschaftlich interessiertes Publikum besonders nützlichen – Liste der in Filmen gelesenen Texte, wird diese Arbeit darüber hinaus zu einem Referenzwerk in Sachen ästhetisches Lesen und Bücher im Film.</p> Lukas Kosch Copyright (c) 2023 Lukas Kosch http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7456 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Simon Rothöhler: Medien der Forensik. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/6693 <p>Die vielfältige Beschäftigung mit Verfahren, Bildern, Praktiken und Medien der Forensik erfährt eine anhaltende Konjunktur – in den letzten Jahren im Kontext zentraler Publikationen wie <em>Forensic Media</em> (Greg Siegel 2014), <em>Material Witness: Media, Forensics, Evidence</em> (Susan Schuppli 2020) oder <em>Investigative Aesthetics: Conflicts and Commons in the Politics of Truth</em> (Eyal Weizman/Matthew Fuller 2021, anschließend an <em>Forensic Arcitecture: Violence at the Threshold of Detectability</em>, 2017). Dabei vereint der <em>forensic turn</em> eine Reihe von Phänomenen, die bereits ab den 1990er Jahren beginnen und die, auch über die Rubrik des Digitalen hinaus, die Entwicklung neuer Technologien und Methoden der Strafverfolgung betreffen. Die Geschichte der forensischen Verfahren ist dabei auch immer eine der Expert*innen und ihrer Ausdifferenzierung: Forensische Archäologie, Anthropologie, Pathologie, DNA-Spezialist*innen, Statistik, Ballistik, Tatortphotographie u. a. sind inzwischen Teil eines orchestrierten Ermittlungsfeldes. Im Kern des forensischen Ansatzes der Strafverfolgung steht "der Experte", der die Dinge sprechen lässt; "Material Evidence" ersetzt zunehmend Dokumentation und Zeugenbefragung. Diese Hinwendung zu Materialitäten in Polizeiarbeit, Militär, Human Rights Bewegungen, aber auch Populärkultur hat immer wieder zu Ideologiekritik und einem mitunter falsch verstandenen Positivismus der Materialitätsdebatte geführt. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts finden sich im Rahmen des <em>forensic turns</em> zahlreiche kultur- und medienwissenschaftliche Überlegungen etwa zu Unmittelbarkeit/Transparenz (u. a. Harrasser/Lethen/Timm 2009) sowie eine geisteswissenschaftliche Renaissance des Spurenbegriffs (Krämer 2007). Die Auseinandersetzung im zweiten Jahrzehnt widmet sich zunehmend gesellschaftspolitischen und medientechnologischen Fragen, ohne jedoch medienphilosophische und -ästhetische Fragen aus dem Blick zu verlieren.</p> <p>Im letztgenannten Kontext ist auch Simon Rothöhlers Band <em>Medien der Forensik</em> (2021) zu verorten. Auch für ihn sind spezifische Ausgangspunkte der zweiten forensischen Konjunktur zentral: zum einen Krise und Abwendung von institutioneller Forensik (welche vornehmlich auf technologische Bilder und die Orte ihrer Hervorbringung fokussiert) und zum anderen das Verständnis eines breiteren Forensikbegriffs mit expliziter Hinwendung zur Ausweiterung auf Perspektiven und Wendungen in digitalen Praktiken. Das Interesse an forensischen Verfahren richtet sich auf unterschiedliche Kontexte: Alltags- und Populärkultur, journalistische und aktivistische Zusammenhänge. Rothöhler unternimmt mit <em>Medien der Forensik</em> eine Kartographie des Feldes ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die den Paradigmenwechsel als wechselseitiges Spannungsverhältnis zwischen Medien und Forensik in der digitalen Medienkultur nachvollzieht, um so "Forensik über mediale Bezüge zu denken und Medien forensisch" (S. 8). Dies bringt ihn am Ende gar zu Spekulationen über das "Forensisch-Werden" der Medienforschung (S. 8).</p> <p>Das erste Kapitel "Forensische Spurenmedienkunde" beginnt mit einer begriffsgeschichtlichen Herleitung über die Trias: Spurenlesen am Tatort, mediale Lesbarmachung bzw. Spurenbild und Sichtbarmachung und Aufbereitung zum Zwecke der Gerichtsbarkeit. Das prozedurale Prinzip Tatort – Labor – Gericht, als Trias in früheren Debatten häufig vernachlässigt, sei, so Rothöhler, entlang medienforensischer Begrifflichkeiten zu denken. Das zentrale Moment der Spurensicherung als "Dinge zum Sprechen bringen" ist bereits Kern der im 19. Jahrhundert entstehenden Forensik; ebenso wie das Antreten technischer Beweise gegen die Unzuverlässigkeit menschlicher Wahrnehmung und Zeugenaussagen. An dieser Stelle kommt auch bereits ein zentraler Gedanke von Rothöhler zur Sprache: Mit Referenz auf Ginzburgs Indizienparadigma gehe es bei der Materialanalyse gerade eben nicht um eine "Technisierung des Sachbeweises", sondern um ein ständiges Im-Blick-Behalten epistemischer Praktiken und eine Berücksichtigung des Individuellen. Technisierte Kunst und Spurensicherung erfordere damit medienhistoriographische und medienästhetische Kompetenzen – ein Gedanke der einer geläufigen Vorstellung von Quantifizierung, Big Data und dem Wunsch nach Präskription im Umgang mit dem Digitalen erst einmal entgegengesetzt scheint.</p> <p>Ein weiterer Aspekt eines breiteren Forensikbegriffs ist das inzwischen ausdifferenzierte Feld wissenschaftlicher Teilgebiete, und hier setzen auch die weiteren Überlegungen für den Kern des Bandes an: Rothöhler stellt Fragen nach der Rolle der Medienforschung in ihrer interdisziplinären Pluralität, die nicht alleine verstanden werden soll als reflexive Medialität der Forensik und damit auch Forensik mit Medien, sondern als Forensik <em>der</em> Medien. Die drei inhaltlichen Kapitel widmen sich folglich der Forensik als "Tatbeteiligung" von Medientechnik und medientechnischen Aktanten, als Untersuchung von Artefakten medientechnischen Handelns sowie der Frage, wie Medien sowohl zur Aufklärung krimineller Handlungen beitragen als auch als "Tatwerkzeuge" fungieren bzw. wie in diesem Zusammenhang von Medientatorten gesprochen werden kann.</p> <p>Ausgangspunkt bildet nach Rothöhler eine zunehmende forensische Inanspruchnahme von Medien im Digitalen. Die Einzelkapitel kartieren die verschiedenen Felder und Kontexte und sollen nachvollziehen, wie Medien forensisch genutzt, operationalisiert, verstanden und theoretisiert werden. Einbezogen werden zentrale Begrifflichkeiten sowie Denkfiguren wie etwa die der Spur, Inskription und Evidenz, Indizien- und Sichtbarkeitsparadigma, ohne dass hier Anspruch auf historische oder terminologische Vollständigkeit erhoben wird.</p> <p>Das erste und größere der beiden inhaltlichen Hauptkapitel widmet sich der "Forensik digitaler Medien". Es ist gleichzeitig das Herzstück einer historischen Betrachtung, die die Implikationen der digitalen Wende skizzenhaft nachvollzieht und in Teilen stark an Texten der vor allem deutschsprachigen Kriminaltechnik orientiert ist. Zum einen gelte es, so Rothöhler, in Anbetracht zunehmender Digitalisierung Ermittlungswege in der realen und digitalen Welt zusammenzubringen. Zum anderen seien "tracking" und "tracing" im lebensweltlichen Bereich inzwischen allgegenwärtig und führten zu einer Reihe nichtintentionaler Spuren, was nicht nur zu einem erhöhten Spurenaufkommen führe, sondern auch neue Formen des forensischen Rückwärtslesens mit sich bringe. "Der Tatort der Zukunft ist global" (S. 33) durchzieht als Maxime den Band, was zusätzlich die Frage nach Infrastruktur und Zugänglichkeiten digitaler Spuren aufwerfe.</p> <p>Die ersten Teilkapitel dieses Abschnitts sind historischen Aspekten und Fragestellungen im Wandel von analogen zu digitalen forensischen Praktiken und dem auszughaften Nachvollzug konkreter Anwendungen und Praktiken gewidmet, von einer Unterscheidung digitalisierter und nativer digitaler Spuren (im Abschnitt "Computerisierte Verfahren und Kybernetik") bis hin zur Entwicklung "Von der Tatortphotographie zur virtuellen Tatortumgebung". Auf dieser Basis stellt das fünfte Teilkapitel "Forensisch-Werden der Digitalmedienforschung" Bezüge zu Denkfiguren und theoretischen Vorüberlegungen her und vereint interessante Aspekte und zukünftige Anknüpfungspunkte für die weitere Beschäftigung mit forensischer Medienforschung. Rothöhlers leitende Überlegungen: Letztere sind gerade nicht auf Big Data und Korrelationen ausgerichtet sei, sondern auf kleine Informationseinheiten und Kausalitäten, "close reading distinkter medialer Operationen und Verfasstheiten ersetzt die Konstatierung einer undurchdringlichen Ubiquität der Medien" und Forensik setzt nicht auf Prognostik, sondern "auf die Nachträglichkeit […] rekonstruktiven Rückwärtslesens: auf das, was medial der Fall war und nun Spur ist" (S. 83) – kurzum, auf ein qualitatives Vorgehen. Zentrale Bezugnahmen bilden zum einen Carlo Ginzburgs spurentheoretische Topoi, um für eine Medienforensik als "individualisierende Wissenschaftseinrichtung" zu argumentieren, die am Individuellen, an Situationen und Dokumenten und gerade nicht an hochgerechneter Mustererkennung interessiert ist. Den zweiten Bezugsrahmen bildet Matthew Kirschenbaums zentraler Text ("Mechanisms: New Media and the Forensic Imagination", 2008) zur elektronischen Datenverarbeitung, der die Betonung digitaler Spuren und die Unterscheidung digitaler Materialitäten in den Blick nimmt. An diese eher theoretischen Überlegungen schließt Rothöhler wie in den vorangegangenen Kapiteln mit konkreten aktuellen forensischen Praktiken der Computerforensik an.</p> <p>Der anschließende größere Teilbereich in Rothöhlers Ausführungen umfasst den Phänomenbereich der "Populären Forensik". Lässt sich zunächst an prominente gewordene Beispiele wie das langlaufende Procedural Drama <em>CSI – Crime Scene Investigation</em> denken, welches die öffentliche Vorstellung über das Funktionieren forensischer Wissenschaften maßgeblich geprägt und eine Reihe von medialen Effekten hervorgebracht hat, gehen Rothöhlers Beschreibungen über die Beobachtung popkultureller Phänomene hinaus. Popularisierung als "Set kultureller Praktiken" (S. 108) bezieht verschiedene Akteur*innen und Effekte ebenso mit ein wie eine „medientechnische Expansion der Spurenlage“, die damit neue und vor allem nicht-institutionelle Zugänge zu Personen und Ereignisorten eröffnet. Diese angenommene "Diffusion der Forensik" (S. 111) wird in zwei Teilkapiteln entfaltet.</p> <p>Das erste Teilkapitel widmet sich dem dokumentarästhetischen Genre des "True Crime", in dem weniger forensische Arbeitsprozesse, sondern vielmehr verfahrensrelevante Befunde, wie etwa das Aufspüren von Justizirrtümern, eine Rolle spielen. Folglich ergeben sich vor allem für das Digitale verschiedene Spielarten, die Zuschauer*innen als "truth seekers" auftreten lassen und zwischen "forensic fandom" und "forensic effort" zu Strategien der Nachrecherche anregen. Gerade solche Tendenzen wie die einer Normalisierung und "digital literacy", das "Gewöhnlichwerden einer paraforensischen Suche" (S. 115) im Digitalen liefern für Rothöhler die Argumente für ein "Forensisch-Werden" der Medien. Hier geht es weniger um das semiotische Prinzip der Indizienverfolgung, sondern vielmehr um das Element der Betrachtung, das Erleben von Affekten ohne notwendig epistemischen Mehrwert, um die "forensic attitude" als spezifisches Grundverhältnis zu Medienprodukten und Prozessen. Dass diese Haltung auch kritisch oder skeptisch ausfallen kann, belegen Rothöhlers Anschlussüberlegungen zum zweiten Teilkapitel, das "Real Crime &amp; Counter Forensics" gewidmet ist. Den zentralen Bezugspunkt bildet die inzwischen vieldiskutierte Arbeit der britischen Rechercheagentur "Forensic Architecture" um Eyal Weizman, die mit der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und staatlicher Gewalt und inzwischen auch von Umweltkatastrophen befasst ist. "Counter Forensics" ist als gegenstaatliche Praxis angelegt und produziert eine Ästhetik, die auf einer Aktualisierung der Begriffsgeschichte fußt: <em>forensis</em> als das Forum, der Ort der Versammlung und des Gerichtsverfahrens in der Antike und als Ort der Vergegenwärtigung verschiedener Materialien und des Vor-Augen-Stellens. Dabei hat die Ästhetik zwei Momente: den der sensorischen Registratur und des Sichtbarmachens sowie den der Ausstellung des Verfahrens selbst. Popularisierung zielt hier auf den performativen Akt, der notwendig für Justiziabilität ist und durch den der Prozess des Sichtbarmachens zugleich epistemisch ist.</p> <p>Unter dem Label "Diffusion der Forensik" werden im vorliegenden Kapitel zwei interessante Phänomenbereiche und disparate Kontexte für die Popularisierung von Forensik zusammengebracht. Etwas unglücklich fällt die Titelbezeichnung "Populäre Forensik" aus, da das Populäre neben Breitenwirkung und Aufklärungsaspekten vornehmlich das Ziel der Unterhaltung hat. Das lässt sich für "True Crime"-Formate sicher festhalten, für "Forensic Architecture" und die Counter-Forensik-Praxis jedoch weniger plausibel begründen.</p> <p>Auf letztere wird noch einmal im vierten und letzten Kapitel verwiesen. Unter dem Label "Environmental Forensics" bietet dieses Kapitel Ausblick und Erweiterung der Perspektive, bei digitaler Forensik nicht nur an die digitaltechnische Vernetzung bei der Spurensuche zu denken. Angesprochen werden etwa Umweltforensik als Subdisziplin und ihr metaphorisches Vokabular des Spurenlesens sowie Unfallforensik und "reverse engineering". Aus medienwissenschaftlicher Perspektive werden medienökologische Fragen gestellt, ebenso wie praxeologische Fragen nach "forensic skills" und Analysefähigkeit der Digitalmedienforschung. Dass solche Ansätze nicht allein medienhistoriographisch bleiben, zeigt die mitunter problematische Praxis von "Forensic Architecture", die so gewonnene Erkenntnisse als prognostisches Werkzeug einsetzt.</p> <p>Der vorliegende Band kann als Vorstoß ins Feld, als Kartographie ohne Anspruch auf vollständige Behandlung von Einzelaspekten und Teilbereichen verstanden werden. Er leistet einerseits einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des anhaltenden <em>forensic turn</em>, indem er Schlaglichter auf historische Entwicklungen und Zusammenhänge wirft und zentrale und auch bisher weniger beachtete Beiträge referiert. Exemplarisch genannt sei an dieser Stelle etwa der Gründungstext zur elektronischen Datenverarbeitung von Matthew Kirschenbaum (2008), der sich in den Nullerjahren mit dem Diskurs der Flüchtigkeit von Digitalem auseinandersetzte, oder der Aufsatz von Peter Hirsch zu Internetkriminalität im Standardwerk <em>Der rote Faden</em> zur Kriminalpraxis von Clages/Ackermann (4. Auflage 2019). Auch wenn der historische Nachvollzug der Forensik digitaler Medien in der Arbeit das größte Gewicht einnimmt, bleiben beispielreiche Perspektiven mit Überschneidungen zur Theoriedebatte wie "Forensic Architecture" und "Forensic Attitude" nicht aus. Besonders positiv fällt in diesem Zusammenhang die bereits in der Einleitung vorgetragene differenzierte Auffächerung eines sich etablierenden aktualisierten Forensikbegriffs auf, die breite Anknüpfungspunkte auch über den Band hinaus liefert. Einer der zentralen Beiträge der Arbeit besteht darin, digitale Forensik anders als bisher nicht mehr gemeinhin als Problem von Big Data und Quantifizierungen zu denken, sondern die Aufmerksamkeit auf das Individuelle und Besondere, gerade auch unter dem Vorzeichen steigender Komplexität, zu richten. Zentraler Bezugspunkt für eine qualitative Beurteilung im Digitalen wird Ginzburgs historisch gewordener Text zum Indizienparadigma. Und wenn, wie Rothöhler in seinen Eingangsüberlegungen des Bandes thesenartig ausführt, gar von einem "Forensisch-Werden" der Medienforschung gesprochen werden kann, dann ließe sich das vielleicht gerade vor dem Hintergrund des vielzitierten Textes noch weiter fassen: Spurenlesen als anthropologische Grundkonstante und Mischung aus Neugier und Hoffnung des Menschen, angesichts der Komplexität von Welt weiterhin Teilbereiche menschlichen Handelns über Spuren und Indizien zu erschließen. Dazu leistet der Band einen anregenden Beitrag!</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Clages, Horst/Ackermann, Rolf: <em>Der rote Faden. Grundsätze der Kriminalpraxis</em>. Heidelberg: Kriminalistik Verlag 2019.</p> <p>Harrasser, Karin/Helmut Lethen/Elisabeth Timm (Hg.): <em>Sehnsucht nach Evidenz</em>. Themenheft: <em>Zeitschrift für Kulturwissenschaften</em> 1, 2009.</p> <p>Krämer, Sybille/Grube, Gernot/Kogge, Werner (Hg.): <em>Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. </em>Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018.</p> <p>Schuppli, Susan: <em>Material Witness: Media, Forensics, Evidence</em>. Cambridge, MA: The MIT Press 2020.</p> <p>Siegel, Greg: <em>Forensic Media. Reconstructing Accidents in Accelerated Modernity</em>. Durham, NC: Duke University Press 2014.</p> <p>Weizman, Eyal/Fuller, Matthew: <em>Investigative Aesthetics: Conflicts and Commons in the Politics of Truth</em>. New York/London: Verso 2021.</p> Annegret Scheibe Copyright (c) 2023 Annegret Scheibe http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/6693 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Robin Becker/David Hagen/Livia von Samson (Hg.): Ästhetik nach Adorno. Positionen zur Gegenwartskunst. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7912 <p>Zur (neuen) Theorieproduktion auf bekanntes Wissen zurückzugreifen, macht bekanntermaßen eine entsprechende Einordnung im Hinblick auf die Entstehungsbedingungen der referenzierten Literatur notwendig. Bezieht man sich positiv, gilt es die vorhandenen Erkenntnisse zu aktualisieren. Nicht vom Zeitkern, sondern von der Zeithülle müsste man so die Theorie befreien, um sie mit einem Sprung in die Gegenwart übertragen zu können. Bleibt dann aber noch mehr vom Denken übrig als der Name, der damit identifiziert beziehungsweise etikettiert wird?</p> <p>Mit dieser Problematik beschäftigt sich der 2022 beim Verbrecher-Verlag erschienene Sammelband <em>Ästhetik nach Adorno. Positionen zur Gegenwartskunst</em> herausgegeben von Robin Becker, David Hagen und Livia von Samson. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um eine Auswahl von verschriftlichten Vorträgen der gleichnamigen Konferenz 2019 in Berlin. Der schillernde Titel bringt schon die Ambivalenz dieses Vorhabens ans Licht. Einerseits ließe sich das ästhetische Denken Adornos in ein historisierendes, kritisch-komparatives Verhältnis zur (ästhetischen) Theorieproduktion im Allgemeinen stellen, anderseits könnte der Versuch unternommen werden, das unvollendet gebliebene Werk Adornos für sich zu beanspruchen und weiterzudenken.<br />Dass sowohl das eine als auch das andere nicht zum Verständnis gegenwärtiger Kunstproduktion beiträgt, sondern zum Scheitern verurteilt sein muss, legt die programmatische Einleitung zu Grunde: "Ginge man in der Analyse und Kritik der Gegenwartskunst heute von [Adornos] Kategorien aus, wäre es leicht wie leichtfertig, die zeitgenössische Kunst bloß als Verfallsform der modernen abzutun" (S. 17f). Stattdessen müsse "das Verhältnis der Gegenwartskunst zur modernen Kunst weniger als dichotomes denn als dialektisches" (S. 19) begriffen werden, was heißt, dass sich die Begriffe und Kategorien eher als Reflexionsinstrumente mit Blick auf bestehende gesellschaftliche Bedingungen eignen. Damit soll nicht weniger als "das gesellschaftskritische Motiv der Ästhetik Adornos" (S. 23) wieder eingeholt werden (sofern man es als verloren betrachtet), mit dem sich der Band als Gegenentwurf zu akademischen Grenzziehungen versteht – sei es zwischen vereinzelten Disziplinen oder zwischen inner- und außeruniversitären Kontexten.</p> <p>Ausgehend von einer Diskussion des Autonomiebegriffes zwischen Juliane Rebentisch und Kerstin Stakemeier hielt die Konferenz 2019 noch an der Struktur der einzelnen Kunstdisziplinen (bildende Kunst, Literatur, Musik und Aufführung) fest; im vorliegenden Band hat jedoch diese Trennung einem dreiteiligen Aufbau von Theorie, Analyse und Kritik Platz gemacht. Die Trennung der im Sinne der Kritischen Theorie zusammengehörigen Begriffe mag verwundern. Gleichzeitig bilden sich dadurch innerhalb der drei Kapitel neue begriffliche Konstellationen. Den Kapitelnamen muss insofern kaum Bedeutung geschenkt werden. Am ehesten sind sie Hüllen und richten sich nach der Form und dem zentrale Argument der jeweiligen Texte. Daraus geht eine thematische Mannigfaltigkeit hervor, die neue Verknüpfungen ermöglicht und auf den Zusammenhang zielt, anstatt nur spezifische, gegenstandsbezogene Kleinststudien aneinanderzureihen.</p> <p>Das Theorie-Kapitel versteht sich vor allem als begriffsgeschichtliche Rekonstruktion von Adornos Kategorien. Christian Grünys Beitrag "Material und Ort" fällt dabei besonders auf, da sich mit dem vorgestellten Materialbegriff trotz seiner Eigensinnigkeit etwas über die gegenwärtige künstlerische Praxis begreifen lässt. "[K]ein Material [liegt] einfach vor, sondern es ist immer das Resultat einer eigenen vorbereitenden Arbeit" (S. 52). Das bedeutet für Adorno, dessen Auseinandersetzung dahingehend vor allem im Briefwechsel mit dem Komponisten Ernst Křenek bestand, dass im Material eine geschichtliche Bewegung enthalten sei. Man könne so zunächst von "einem bestimmten Stand des Materials sprechen" (S. 52), der darüber hinaus Bewegungsrichtungen, -gesetzen, -tendenzen und -zwängen unterworfen sei. Die künstlerische Praxis und das Material blieben so dialektisch aufeinander bezogen. Grüny erklärt vor allem im Hinblick auf die oft missverstandene Kritik am sogenannten "Verfransungsprozess" der Künste, wie die Ausbildung und Tradition künstlerischer Disziplinen keinen außenstehenden Trends unterlägen, sondern historisch bedingt seien.</p> <p>"Wogegen Adorno sich wendet, ist ein bloßes Ausscheren aus dem historischen Entwicklungszusammenhang, das sich nicht um das Gewesene bekümmert und sich frei an diesem und jenem bedient. Kritisiert wird nicht Unreinheit, sondern Inkonsequenz, und mit ihr die Gefahr des Dilettantismus und des fröhlich unreflektierten Herumbastelns" (S. 59).<br />Darin drückt sich vor allem eine Absage an kulturpessimistische Relativierungen gegenwärtiger Kunstproduktion aus, die eine ernstzunehmende Kritik in den Blick nehmen müsse. Grüny schlägt dazu den Begriff des Ortes vor, mit dem sich die Situierung des Materials untersuchen lässt. Im Konkreten meint er damit die "institutionelle Verortung und geopolitische Position" (S. 62), worin eine "gesellschaftliche Dimension […] als Referenz" (ebd.) erkennbar wird. Der anschließende Beitrag von Kaja Kröger "Gefühl zu Bild" führt diesen Ansatz weiter, indem sie unter Rückgriff auf Silvia Bovenschen die formlose Formbestimmtheit einer möglichen feministische Ästhetik bei Maria Lassnig und Ewa Plonowska Ziarek reflektiert (vgl. S. 74).<br />Neben dem Material wird so über viele Beiträge des Bandes hinweg immer wieder ein vergessen geglaubter Begriff – die Formproblematik – aktiviert und hintergründig mitverhandelt. Lars Hartmann konzediert im Text "Vom Wahrheitsgehalt und der 'Verfransung der Künste'" dahingehend eindimensional erscheinender Biennalen-Kunst gerade da Vielschichtigkeit, wo "sowohl autonom[e] wie engagiert[e], souveränitätsästhetisch[e] wie formalästhetisch[e] Momente" (S. 102) zusammenspielen. Im zeitgenössischen Kunstwerk ließen diese Ebenen, um mit Peter Bürgers "Theorie der Avantgarde" entgegen Adorno zu sprechen, eine "Kopplung von Autonomie und Engagement" (S. 103) zu. Vor allem die musiktheoretischen Beiträge, etwa Kim Fesers "vielleicht das Schimpfwort Robotermusik positiv aufgreifen", weisen dabei immer wieder auch in die Richtung medientheoretischer beziehungsweise -archäologischer Fragestellungen. Adornos Kritik sei insofern "durchzogen von der Diskussion des Automatisch-Mechanischen und dessen Verhältnis zum Lebendig-Subjektiven" (S. 137), was sich jedoch nicht apodiktisch äußert, sondern sich vielmehr gegen "tradierte Verfahren und Regeln, die im Kompositionsprozess nicht angepasst und umgearbeitet" (ebd.) werden, richtet.</p> <p>Im Gegensatz zu ästhetischen Theorien, die auf ein Regelsystem hinauslaufen, zeigt sich bei Adorno vielleicht am deutlichsten, dass für eine gelingende Form Kritik als reflektierende Selbstüberschreitung immanent sein muss, wie Lucas Amoriello am Beispiel der Lyrik von Thomas Kling nachzeichnet (vgl. S. 144). Das gilt einerseits für das Kunstwerk, und andererseits für die Kritik. "So vollzieht Klings Lyrik die Arbeit an der Sprache durch eine kritische Intensivierung [der] poetische[n] Form" (S. 160). Es käme folglich nicht auf eine Aktualisierung der Begriffe Adornos für eine zeitgenössische Kunstkritik an, sondern vielmehr auf eine Intensivierung am Gegenstand, wodurch erst eine "überschüssige Dynamik der Sprache selbst hervorschieß[e]" (ebd.). Nur so ließe sich eine Aussage über die Verfasstheit der Gesellschaft anhand der Kunstproduktion machen.</p> <p>Performative Künste wie Theater, Tanz oder Film, die für Adorno mit dem Vorrang der Musik eher von sekundärem Interesse waren, geraten im vorliegenden Band gegen Ende, vor allem im Kapitel "Kritik" in den Blick. Auf derselben Grundlage, auf der der Surrealismus in der Kritischen Theorie als Verfallsform der Kunst zur Lebensform angegriffen wurde, diskutieren die Beiträge von Irene Lehmann und Jakob Hayner Erika Fischer-Lichtes breit rezipierte "Ästhetik des Performativen" hinsichtlich einer Ästhetik, die ihr gesellschaftlich Äußeres durch gemeinschaftliche Selbstsetzung verzaubert. Das gelingt sowohl konstruktiv als auch polemisch. Hayner pointiert: "Das Verworrene ist, dass die in der Kunst immer enthaltene Kritik an der Vorherrschaft des Geistigen und Rationalen umkippt in eine offene Ablehnung desselben, die sich zudem bestens verträgt mit den irrationalistischen Tendenzen in der Gesellschaft als solcher. Der Mensch verlässt die von ihm geschaffene Welt, er schafft sich selbst ab – und es hilft die Kunst" (S. 220).<br />In dieser Passage wird mit scharfer Kritik weniger eine solipsistische Erkenntnis über das Werk Adornos erhellt, als dass sich ein feuilletonistischer Impuls von außen im Sinne der "bestimmten Negation" gegen eine selbstreferenzielle Theoriebildung Ausdruck verschafft. Gerade weil Adorno sich ebenso an diesem Gestus bediente, sind in diesem Zusammenhang bemühte Adorno-Exegesen ohne Frage mitgemeint. Es bietet sich insofern mit diesem Band vor allem an, über die eigene Forschungspraxis zu reflektieren. Eine Praxis, die nicht notwendigerweise etwas von Adorno wissen muss (das nicht ohnehin schon bekannt wäre), sondern sich zu ihm in ein Verhältnis setzen kann. Das abschließende Gespräch von Radek Krolczyk und Hannah Wolf über Kunstproduktion unter Pandemie-Bedingungen liefert dazu vor dem Hintergrund zunehmender Individualisierung, die durch eine falsche Kollektivität überblendet werden soll, wichtige Stichworte.</p> Ronny Günl Copyright (c) 2023 Ronny Günl http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7912 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Benjamin Beil/Gundolf S. Freyermuth/Hanns Christian Schmidt/Raven Rusch (Hg.): Playful Materialities. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7933 <p>Der Sammelband <em>Playful Materialities</em> entstand aus dem gleichnamigen "Game Studies Gipfel" (Köln TH) anlässlich der 11. "Clash of Realities. International conference on the Art, Technology and Theory of Digital Games" (2021). Aufgeteilt auf vier Kapitel, "Places", "Exhibits", "Modifications" und "Pieces", finden sich 12 Aufsätze, die Verschränkungen von <em>game culture</em> und <em>material culture </em>untersuchen. Die Texte bieten diverse theoretische und methodische Zugänge aus der Medienkulturwissenschaft, der Film- und Theaterwissenschaft sowie den Science-Technology-Studies.</p> <p>Eröffnet wird der Sammelband durch "Vegas, Disney and the Metaverse" von Gundolf S. Freyermuth mit einer umfangreichen 80-seitigen Untersuchung der Interrelationen virtueller und materieller Realitäten. Nachdem eine Genealogie virtueller Realitätserfahrungen erarbeitet wurde, theoretisiert Freyermuth basierend auf Walter Benjamin und Neal Stephenson die technisch-ästhetische Antizipation (digitaler) Medialität am Beispiel der Entwicklung von Las Vegas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 18ff). In der Untersuchung zeigt er, wie im Falle von Las Vegas ab 1950 mediale Modifikationen in der Stadtplanung, der Architektur der Gebäude, deren Ausstattung und dem Unterhaltungsangebot eingesetzt wurden, um virtuelle Erfahrungen zu erzeugen. Diese Virtualität wurde ab den 1980ern transmedial re-materialisiert, wodurch es zu einer tiefgehenden Ergründung digitaler Medialität kam, die unter anderem um Momente der Immersion und Partizipation erweitert wurde (S. 60).<br />Der zweite Text "Augmenting Materialitites" von Isabel Grünberg, Raven Rusch und David Wildemann knüpft an den vorangegangenen Beitrag an und untersucht Augmented Reality anhand der Rauminstallation <em>Maschinenklangwerk</em> (Gründberg/Rusch/Wildemann 2022). Die theoretische Aufarbeitung der Installation, deren Räume über Partizipation durch digitale, auditive Elemente erweitert werden können, ergründet die Materialität und Medialität von Augmented Reality. Dabei begreifen die Autor*innen <em>Maschinenklangwerk</em> als "Ludification", und beschreiben damit eine Alternative zu dem Begriff Gamification, die Partizipation, Immersion und Agency als Einladung statt als Zwang versteht (S. 103). Daran anschließend wird kritisiert, dass in gängigen Diskursen und Anwendungen, digitale Erweiterung meist auf Bildschirme reduziert wird (S. 107). Durch alternative Angebote gelingt die kritische Hinterfragung und Ausweitung des gängigen Verständnisses von Augmented Reality. Dabei will der Text eine diversere wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung sowie eine breitere technische Umsetzungen anregen.</p> <p>Der erste Aufsatz des Abschnitts "Exhibits", "Let's Play the Exhibition" von Isabelle Hamm, zeigt anhand der virtuellen auditiven Ausstellung "Kid A Mnesia Exhibition" (Radiohead 2021) exemplarisch wie Ausstellungspraktiken digitaler Inhalte aussehen können. Dabei bleibt der Text meist deskriptiv: Beschrieben wird die Ausstellung aus einer Besuchendenperspektive, knüpft jedoch mit der Untersuchung des Verhältnisses von Ausstellungspraktiken und Ludification an den Text "Augmenting Materialitites" an. Der Beitrag "To Craft a Game Arts Curators Kit" von Rene G. Cepeda und Chaz Evans ist eine Prozessdokumentation der Entwicklung eines "Curators Kit", einem Leitfaden für die Kuration digitaler Inhalte. Durch den Fokus auf Verfahren der Entwicklung, beschränkt sich die Leistung des Textes auf eine Hilfestellung bei der Produktion eines solchen Kits und die Kuration digitaler Inhalte. Der Text "On Chainsaws and Display Cases" von Benjamin Beil schließt daran mit einer gründlichen theoretischen Abhandlung der Medialität des Museums und dessen Verhältnis zu Videospielen an. Dabei werden gängige Formen der Ausstellung digitaler Spiele aufgearbeitet und in museumstheoretischen Diskursen eingeordnet.</p> <p>Mit ähnlichem theoretischem Tiefgang wird der Abschnitt "Modifications" durch den Text "Unpacking the Blackbox of Normal Gaming" von Markus Spöhrer eröffnet. Während schon der vorherige Artikel u. a. einen Chainsaw Controller untersucht hat, nähert sich der Text in einem soziomateriellen Ansatz Videospiel-Controllern mit Fragen der Zugänglichkeit und bedient sich den Science-Technology-Studies, Dis-/Ability-Studies, Akteur-Netzwerk-Theorie sowie der <em>affordance theory</em>. Dabei wird der Controller, neben dem menschlichen Körper sowie der Hard- und Software, als Akteur in Konfigurationen von Gaming verstanden. Je nach Konfiguration entstehen dabei <em>affordances</em>, die normale und abnorme/<em>abled</em> und <em>disabled</em> Körper produzieren. Der Text "Being a Child Again Through Gameplays" von Cordula Heithausen analysiert Perspektiven und Identifikation von Kindern in Videospielen, um diese praktisch in Form eines Game-Prototypen umzusetzen. Einen Fokus setzt Heithausen auf Fragen des Game Designs und bleibt dadurch jedoch theoretisch unterkomplex und teilweise spekulativ. Der Anschluss an Materialität wird im Wesentlichen durch das Vorkommen von Spielzeug im Prototyp argumentiert, dabei bleibt eine tiefergehende theoretische Auseinandersetzung aus und der thematische Anschluss an Materialität schwach. <br />Anders argumentiert der letzte Text des Abschnitts, "Lego Level Up" von Hanns Christian Schmidt, der <em>game literacy</em> als mediale Lesekompetenz denkt. Auf eine gründliche theoretische Ausarbeitung folgt hier ein materieller Hands-on-Approach in Form eines <em>game literacy-</em>Workshops für Kinder, der wiederum in die Theoriebildung miteinfließt.</p> <p>Der letzte Abschnitt, "Pieces" beginnt mit dem Text "Beyond Pawns and Meeples" von Peter Podrez, der an die theoretische Grundlage des Textes "Unpacking the Blackbox of 'Normal Gaming'" anknüpft. Dabei werden ANT und <em>affordance zheory</em> herangezogen, um analoge Spielfiguren als Akteure mit ludo-materieller <em>agency</em> in einem ludischen Netzwerk zu verstehen (S. 283f). In Folge werden unterschiedliche Dimensionen von Materialität an Spielfiguren und Formen von <em>agency </em>und <em>affordances </em>beleuchtet, die in Interaktion mit Spielenden entstehen.<br />Der Aufsatz "Have We Left the Paperverse Yet?" von Michael A. Conrad bedient sich ebenfalls ANT sowie Materialitätstheorie, um die verstrickte Geschichte von Spielen und Papier zu untersuchen. Dabei postuliert Conrad, in Opposition zu Marshall McLuhan, Papier als materielle Grundlage modernen Lebens zu verstehen (S. 316f). (Digitales) Gaming wird in dem Aufsatz als materielle Praxis verstanden und unteranderem auch auf materiell-ökologische Dimensionen hin untersucht.</p> <p>Nach dieser Reihe an theoretischen Beiträgen lässt sich "Keep the Innovation Rolling" von Michael Sousa wieder im Bereich von Game Design verorten. Darin soll die Leerstelle fehlender systematischer Analysenzugänge auf den Einsatz von Würfeln in analogen Spielen gefüllt werden (S. 373). Zwar wird ebenfalls auf Begriffe wie Antizipation Bezug genommen, die theoretische Auseinandersetzung bleibt jedoch oberflächlich und die Argumentation Stellenweise schwach (S. 355f).</p> <p>Der letzte Text "Immateriality and Immortality" von Emma Reay greift noch einmal die Themen Kindheit, Spielzeug und Nostalgie auf und überzeugt dort wo "Being a child through gameplay" scheitert. Anhand eines Close-Readings des Spiels <em>Unraveled</em> (Coldwood Interactive 2016) werden haptisch-panoptische Qualitäten von digitalen Spielzeugen untersucht. Dabei bilden Roland Barthes sowie Lynda Barrys Theorien zu Spielzeug, <em>picture book theory</em> und <em>affordance theories</em> die theoretische Grundlage. Durch Zoe Jaques Konzept der Spektralität, wird Spielzeug in Verbindung zu Erinnerungen und Nostalgie theoretisiert und über Katriina Heljakka werden theoretische Bezüge zwischen Spielzeugen und Avataren hergestellt. Spielbare digitale Toys stellen sich dabei als ideale Brücke zwischen materiellen und immateriellen Welten heraus. Neben den erwähnten Theorien nimmt der Text ebenfalls Bezug auf bereits zuvor untersuchte Gegenstände wie Papier und Controller. Letztlich hinterfragt der Text auch eine, in Game Diskursen gängige, koloniale Reduktion des Begriffs des Avatars auf den Aspekt der Verkörperung, während Konnotationen der Immanenz und Reinkarnation, die in spirituellen Konzepten des Avatars zentral sind, vernachlässigt werden. So schlägt Reay vor, das Spielen eines Avatars als eine spektrale Erfahrung zu verstehen, die Spielende als Geister anstatt Götter in eine virtuelle Materialität beschwört (S. 395f). So wird der thematische Kreis des Sammelbands, der mit der Materialisierung medialer Antizipationen begann, durch die Entmaterialisierung der Spielenden, geschlossen.</p> <p>Die größte Leistung des Sammelbands liegt in dem beachtlichen Angebot an unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und methodischen Zugängen sowie der Vielzahl an Anknüpfungspunkten an Games, die durch eine breite Auslegung des Feldes möglich wird. Die meisten Artikel weisen eine tiefgehende theoretische Ausarbeitung mit überzeugender Argumentation auf. Diejenigen Beiträge, die im Bereich Game Design und praktischen Auseinandersetzungen mit Games zu verorten sind, bieten ergänzend dazu interessante Aspekte am Rande wissenschaftlicher Diskurse. Mit steigender theoretischer Komplexität werden die Texte anspruchsvoller. Trotz der Diversität erscheinen die Aufsätze durch übergreifende und gemeinsame theoretische Konzepte, Gegenstände und Bezüge als kohärentes Gesamtwerk. Dadurch ergibt sich eine breite, interdisziplinäre Abhandlung von Games und deren materieller Dimension. Der Sammelband ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie holistische Spieleforschung, die gängige Diskurse überdenkt und ausweitet, aussehen kann.</p> Jakob Andriamaro Copyright (c) 2023 Jakob Andriamaro http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7933 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Lauren Berlant: On the Inconvenience of Other People. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7433 <p><span style="font-weight: 400;">Lauren Berlant, the late cultural theorist,</span><span style="font-weight: 400;"> is known</span><span style="font-weight: 400;"> for their deep cutting analysis of the intertwinings of sociality, ideology and culture, informed by critical theory as well as queerfeminist theory. Especially </span><em><span style="font-weight: 400;">The Female Complaint: The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture</span></em><span style="font-weight: 400;"> (2008) and </span><em><span style="font-weight: 400;">Cruel Optimism</span></em><span style="font-weight: 400;"> (2011) are widely recognized. </span><span style="font-weight: 400;">Their passing away in June 2021 has therefore left the community of critical cultural thought mourning for an exceptional scholar. Because they died shortly after finishing their latest book, </span><em><span style="font-weight: 400;">On the Inconvenience of Other People </span></em><span style="font-weight: 400;">(2022), the preciousness of this publication surpasses the mere contribution to critical queerfeminist discourse.</span></p> <p><span style="font-weight: 400;">The word 'inconvenience' highlights the uneasiness of attachment as a threat to one's own concept of self. A threat both desired and feared, pointing to the ambivalence of social relations and politics. In their book, Berlant tries to answer the question whether we can ''[...] think differently about the encounter with the inconvenience of other people: that we might desire not only them or any objects but also the inconvenience?'' (p. 170)<br /></span><span style="font-weight: 400;">Inconvenience stands for ''a feeling state that registers one's implication in the pressures of coexistence. [...] inconvenience disturbs the vision of yourself you carry around that supports your sovereign fantasy, your fantasy of being in control'' (p. 3). This fantasy is not reduced to individual conditions but serves as a foundation for concepts such as the liberal colonial state and the citizenship subjectivity that derives from it (p. 3). </span><span style="font-weight: 400;">In the scheme of supremacist subordination, Berlant argues, suppressed groups are both inconvenient and necessary for the supremacist fantasy (p. 4). This is experienced both in the private everyday contacts and on levels of national and international political discourse. </span><span style="font-weight: 400;">To link the private and the public experiences of inconvenience, Berlant draws upon concepts of infrastructuralism. Here, infrastructure is understood as mediation; as a material process of binding, which subsequently is both material and symbolized (p. 20ff). It is a phase of constant world-making. </span><span style="font-weight: 400;">In this sense, infrastructures of inconvenience tell us something about what connects people and their practices in their social fields (p. 20). Recognizing our surroundings as being implemented in infrastructures opens up the possibility of transformational action. Therefore, critical social forms, Berlant argues, should not only concentrate on criticizing the status quo or imagining alternative futures, but especially focus on the possibilities to intervene in these transitional, infrastructural motions (p. 25f). Infrastructures and their inconveniences therefore encompass both the pressure and fluidity of sociality. <br /></span><span style="font-weight: 400;">To analyze inconvenience as ''the affective sense of the familiar friction of being in relation'' (p. 2), Berlant once again turns to films, art installations and literature. By discussing these cultural texts, they develop a theory which encloses both the question of what it means to be a coexisting human being </span><em><span style="font-weight: 400;">and</span></em><span style="font-weight: 400;"> the questions directed at systemic violence derived from a fantasy of defensible sovereignty. </span></p> <p><em><span style="font-weight: 400;">On the Inconvenience of Other People </span></em><span style="font-weight: 400;">contains three chapters and an additional coda. In each of the book's chapters Berlant takes on an infrastructural interruption (p. 170), arising from scenes of misogynist and racist violations in the day to day. The first chapter, which is called ''SEX Sex in the Event of Happiness'', investigates how anarchic relational infrastructures are carved out from sexual revolutionary practices (p. 32) by discussing the films </span><em><span style="font-weight: 400;">Last Tango in Paris </span></em><span style="font-weight: 400;">(Bertolucci, 1972) and </span><em><span style="font-weight: 400;">Happiness</span></em><span style="font-weight: 400;"> (Solondz, 1998). ''DEMOCRACY The Commons: Infrastructures for Troubling Times'' traces the infrastructural ambivalence between the status of the commons as a concept and its ''theory-cosmopolitan context'' (p. 77) along the works of Thomas Hawk, Stephanie Brooks, Robert Lowell and R. W. Emerson among others. </span><span style="font-weight: 400;">In ''LIFE On Being in Life without Wanting the World: No World Poetics, or, Elliptical Life'', Berlant conceptualizes a poetics of dissociation as rendered by an ''openness both to self and to world reorganization'' (p. 145). The film </span><em><span style="font-weight: 400;">A Single Man </span></em><span style="font-weight: 400;">(2009) directed by Tom Ford and </span><em><span style="font-weight: 400;">Don't Let Me Be Lonely</span></em><span style="font-weight: 400;">, a collection of essays by Claudia Rankine, serve as material to reinforce their thesis. In the book's coda called ''My Dark Places'', Berlant not only recapitulates the preceding chapters, but also turns to James Ellroy's </span><em><span style="font-weight: 400;">My Dark Places </span></em><span style="font-weight: 400;">(1996) and Bhanu Kapil's </span><em><span style="font-weight: 400;">Ban en Banlieue</span></em><span style="font-weight: 400;"> (2015), both working through topics of sexual violence and murder, to distinguish between the inconvenient and the unbearable (p. 151).</span></p> <p><span style="font-weight: 400;">While the search for transformational potential in inconvenient infrastructures is worth pursuing, it seems necessary to comment on the traps along the way: The chapter ''</span><span style="font-weight: 400;">SEX Sex in the Event of Happiness'', feels like such a case, where the infrastructure has not been completely recognized; where shortcuts have been made and therefore some intends have backfired. </span><span style="font-weight: 400;">One of the main arguments Berlant puts forth in this chapter, is that inconvenience is not only something that happens to a person - it can also be sought out as a means of self- and life-disturbance. A revolutionary act of unlearning traditional reproduction of being in the world (p. 32). They recognize sex as a scene where the ambivalence between violence and world-making potential is of utmost intensity (p. 32). After briefly discussing queer theories on sex and sociality, as well as noting the absence of sex in recent social theory (p. 41f), the author points to sex as the ''desire for the inconvenience of other people'' (p. 42) as a key aspect of social relations, which, in the ambivalence between closeness and alienation also encompasses the possibility for social transformation. </span><span style="font-weight: 400;">As a ''museum of [the '60 revolutionary] qualities and gestures'' (p. 59), </span><em><span style="font-weight: 400;">Last Tango in Paris</span></em><span style="font-weight: 400;"> occupies the chapter's largest part. While the already much discussed film of Bertolucci may still bear some uncharted aspects for Berlants arguments, </span><em><span style="font-weight: 400;">Tango </span></em><span style="font-weight: 400;">nevertheless seems a somewhat odd choice for a queerfeminist discussion of ambivalence. The film's scenes of sexual and revolutionary curiosity barely overcome the narratives and aesthetics of male dominant fantasies. And while Berlant discusses the film's infamous rape scene at length, they barely spend a footnote on the actual assault of the 19-year old actress Maria Schneider on set that led to the scene they use to illustrate their theory of inconvenience in sexual intimacy. In fact, they even downplay the incident (see footnote 53, p. 188). The near absence of a feminist analysis of gender related hierarchies in both the film's diegesis and its production suggests the authors own uneasiness with encountering the chapter’s inherent inconvenience.</span></p> <p><span style="font-weight: 400;">Apart from this section, in which certain complications seem to be overlooked in order to make a clear point on ambivalence, the book develops a productive way of thinking about the ethics of reference and queering in social relations and infrastructures. It tries to understand subjectivity as something that derives from the pressure of the world; a subjectivity as brokenness and therefore brokenness as a constitution of being rather than a disruption of it (p. 171). Simultaneously, objects, scenes and infrastructures can be broken in order to be transformed. The challenge is to stay with the uneasiness and ambivalence of the transformational progress (p. 150). Using cultural texts, Berlant points out these possibilities of rupture that either lie in the material itself or in the way of their reading whilst weaving in queerfeminist and decolonial theory.</span></p> <p><span style="font-weight: 400;">The breaks in the book are palpable. They can leave you with unease, at times even irritated. They also open up hardened positions, feelings of hopelessness and impasses of thought concerning social change. </span><em><span style="font-weight: 400;">On the Inconvenience of Other People</span></em><span style="font-weight: 400;"> invites the reader to sit with the desire for and inconvenience of sociality and its transformations both in the private and the political. It is very worthwhile to accept this invitation. </span></p> Olivia Poppe Copyright (c) 2023 Olivia Poppe http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7433 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Lauren Fournier: Autotheory as Feminist Practice in Art, Writing, and Criticism. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7934 <p>Die Kunsthistorikerin, Künstlerin und Kuratorin Lauren Fournier liefert in ihrer Monografie <em>Autotheory as Feminist Practice in Art, Wirting and Criticism</em> eine umfassende Analyse autobiografischer und/oder autofiktionaler Medienpraktiken. Im Zentrum von Fourniers Auseinandersetzung steht die Frage wie diese Praktiken mit Theorie und Erkenntnisproduktion verschaltet sind. Zur Klärung gräbt sich die Autorin durch die Theorie- und Kunstgeschichte und untermauert das feministische Argument, dass die descartesche Trennung von Körper und Geist, Verstand und Gefühl immer schon ein Trugschluss war. Fournier betont, dass sowohl die <em>big patriarchs</em> der modernen Theoriegeschichte – Marx, Nietzsche, Freud – als auch ihre Vorgänger* wie Rousseau oder Kant eigene Erfahrungen in ihre Werke verstrickten (S. 36-37). Es waren jedoch vor allem Frauen* und BIPoC-Personen, die diese Praxis sichtbar machten, benannten und strategisch einsetzten. Ihnen wurde die Möglichkeit, eine vermeintlich objektive und ent-körperlichte Perspektive einzunehmen, aufgrund sexistischer, rassistischer und klassistischer Zuschreibungen abgesprochen. Ziel feministischer kultureller Praxis war und ist es daher, die Zuschreibung als ver-körperlicht – das heißt sinnlich-sexuell – strategisch einzusetzen und umzudeuten. Hier argumentiert Fournier im Sinne der Autorin Chris Kraus, deren Buch <em>I Love Dick</em> für sie eine Hauptreferenz darstellt. Kraus interpretierte das Teilen von Persönlichem in "weiblicher" Kunst als eine ästhetisch-kreative Strategie um: "If women have failed to make 'universal' art because we’re trapped within the 'personal' why not universalize the 'personal' and make it the subject of our art?" (Kraus 2015, S. 195). Feministische Kunst und Theorie will somit immer auch den "göttlichen Trick" offenlegen, der die bürgerlich-männliche, weiße und heterosexuelle Subjektposition als transzendentale Position inszeniert (vgl. Haraway 1995). Feministische kulturelle Praktiken sind für Fournier daher immer schon Autotheorien.</p> <p>Zeitlich liegt der Fokus der Monografie auf Kunst und Literatur seit den 1970er Jahren, obwohl Fournier auch auf Arbeiten von Aktivistinnen* und Schriftstellerinnen* wie Mary Wollstonecraft oder Sojourner Truth oder Künstlerinnen* wie Zora Nele Hurston oder Claude Cahun eingeht. Es waren jedoch vor allem die postmodernen Theorien als auch die Performance- und Videokunst, denen die Autotheorie ihren heutigen Stellenwert verdankt: "In the 1970s, the feminist art movement in America foregrounded women’s bodies as active and conceptual, while feminist poets and philosophers working in France sought ways to express the female body and subjectivity through writing" (S. 11).</p> <p>In den an die Einleitung anschließenden Analysekapiteln werden daher ausführlich Arbeiten von Künstlerinnen* und Aktivistinnen* behandelt. Sehr überzeugend werden beispielsweise die autotheoretischen Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin Adrienne Piper beschrieben. Piper setzte sich in Werken wie <em>Food for the Spirit</em> (1971) mit der Kant’schen Ästhetik und ihrer Rezeption durch den zu ihrer Zeit renommierten Kunsthistoriker Adam Greenberg auseinander. Während der Formalist Greenberg die "Interessenslosigkeit" der Kunst als Qualitätsmerkmal hochhielt, legt Piper in ihren autodokumentarischen Körperperformances, die Widersprüche der Kant’schen Philosophie offen: "[Piper] reveals to be one of Kant’s best readers: she understands the paradox of Kant’s philosophical system – predicated on sensorial perspective, and thus on the body, while at the same time failing to consider the body in its gendered, racialized and abled aspects" (S. 97). Pipers autodokumentarisch-theoretische Arbeiten nehmen so Einfluss auf die Theorierezeption ihrer Zeit. </p> <p>Autotheoretische Arbeiten zeichnen sich jedoch nicht nur durch eine kritische Rezeption von bestehenden Theorien aus. Sie sind auch maßgeblich an der Entwicklung von "neuem" situiertem Wissen beteiligt. Fournier verweist auf die lange Tradition dieser Praxis: Bereits in den Arbeiten von bell hooks und Audre Lorde werden Alltagserfahrungen für theoretische Überlegungen produktiv. Intersektionale Theorien basieren somit immer auch auf einer Theoretisierung von Erfahrung. Am Beispiel der Latinx Künstlerin @gotshakira bespricht Fournier dieses Phänomen im Kontext der zeitgenössischen Internetkultur. @gotshakira produziert "confessional femme memes", die feministische Theoriediskurse um Sexismus und Rassismus aus dem akademischen Raum lösen und in Memes verwandeln. Die virale Wirkung und der institutionskritische Charakter entstehen vor allem auch über die Zurückweisung korrekter englischer Grammatik, welche die Künstlerin von der Meme-Kultur übernimmt (S. 129).</p> <p>In ihren Analysen liefert Fournier so eine ausführliche Genealogie der Autotheorie und ihrer Einflüsse auf akademische, künstlerische und literarische Diskurse. Zudem arbeitet die Autorin auch die Möglichkeit heraus, Theorie durch autotheroetische Zugänge zu de-kolonialisieren: "While this might seem a utopic promise, one that might at first appear overly optimistic, I think the range of works emerging over the past half-century that engage autotheory in subversive and liberatory ways points to the possible radical, and ethical, capacities for autotheory as an inclusive mode with deep feminist roots. […] Autotheory can serve as a way of critiquing and transforming existing colonial discourse of philosophy and theory through such practices as autothereotical citation, […] through forms of community building and radically empathic, cross-experimental collaborations that considerately and curiously engage the personal alongside the critical" (S. 270). So wurde der intersektionale Feminismus über autotheoretische Zugänge entwickelt. Zugleich verweist Fournier auch auf einige "Risiken" der Autotheorie: "With the term autotheory, though, comes the risk of a potentially excessive methodological individualism that places primacy on the autos or self in a way that could bring the questionable logics of late postmodernism full circle (My truth is truth and your truth is your truth) or the logics of those most militant forms of intersectional thinking (I am the most marginalized by the center-margin logic of the given context and so I will be the only one to speak)" (S. 272). Erst eine kritisch selbst-reflexive Praktik, die kollektiv agiert, verhindert Solipismus. Fournier verweist hier auf die Tatsache, dass autotheoretische Arbeiten nicht unmittelbar transgressiv wirken und hält fest, dass Autotheorie, entgegen der Meinung einiger Kritiker*innen, keine "simple" und "oberflächliche" Praxis ist, die aus Narzissmus und mangelnder Selbstdistanz hervorgeht. Im Gegenteil, Fourniers Arbeit unterstützt die medienkulturwissenschaftliche These, dass erst durch distanzierende literarische und/oder künstlerische mediale Praktiken eine Selbstdistanz möglich wird, die in kritisch transgressiven Haltungen und Theorien münden kann – aber nicht muss.</p> <p>Während Fournier eine umfassende und überzeugende Analyse künstlerischer und literarischen Praktiken liefert, fällt ihr die Einordnung populärkultureller bzw. massenkultureller Phänomen allerdings teilweise schwer. In einem letzten Kapitel versucht sie die #metoo-Bewegung in ihre Analysen miteinzubeziehen und verstellt sich, meiner Meinung nach, die Sicht durch eine subtil zwischen den Zeilen aufscheinende Unterscheidung von Kunst und Massenkultur. Denn es sind für die Autorin vor allem Soziale Medien die "dekontextualisieren" und "verkürzen" (S. 171). Obwohl Fournier gleichzeitig die Bedeutung der #metoo-Bewegung betont, ist es auffällig, dass sie der Autotheorie gerade dann mit Skepsis begegnet, wenn sie aus einem Massenphänomen hervorgeht. Interessanter wäre es an dieser Stelle vielleicht auf die Unterschiede zwischen Autotheorie als eine postmoderne Theorieform beziehungsweise Praxis und der #metoo-Bewegung, die versucht den Diskursen einer positivistischen Rechtsprechung gerecht zu werden, hinzuweisen. Dieser kulturkritische Ton im letzten Kapitel schmälert allerdings nicht den akademischen Wert von Fourniers Monografie. Sie lieferte eine detaillierte und längst überfällige Genealogie und Analyse von Autotheorien, die noch dazu durch einen persönlichen und selbstkritischen Ton besticht. Mit <em>Autotheory as Feminist Practice in Art, Wirting and Criticism </em>ist es der Autorin gelungen, die rezente Hinwendung zum Privaten theoretisch zu fundieren und das kritisch feministische und dekoloniale Potential von autobiografischen Texten, Performances und/oder Videos herauszuarbeiten.</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Haraway, Donna: "Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive". In: <em>Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen</em>. Hg. v. dies., Frankfurt am Main: Campus 1995, S. 73-97.</p> <p>Kraus, Chris: <em>I Love Dick</em>. London: Tuskar Rock, 2015.</p> Leonie Kapfer Copyright (c) 2023 Leonie Kapfer http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7934 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Andrea Gnam: Vom Reiz der Peripherie. Architektur und Fotografie. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7960 <p>Es gibt Bücher über Fotografie, die kommen in aufwändiger Aufmachung daher. Dick und umfangreich illustriert, nicht selten auch getrieben von der Hoffnung, etwas der Bedeutung der abgebildeten Arbeiten möge sich auf das eigene Werk übertragen. Die vorliegende Publikation <em>Vom Reiz der Peripherie</em> der Medienwissenschaftlerin und Betreiberin eines wichtigen Blogs zur Fotografie (<a href="https://fotobuch.gnam.info/">fotobuch.gnam</a>), Andrea Gnam, geht einen anderen Weg. Schlicht, ja beinahe schon zurückhaltend, nimmt sich das Bändchen aus, das als Titelbild eine Aufnahme von Joachim Schumacher zeigt, die man tatsächlich ansehen muss, will man darauf etwas verstehen. Es wird also schnell klar, dass hier ein Buch vorliegt, das einen eigenen Weg geht.</p> <p><br />Die Koordinaten sind vorgegeben, das Thema ist grundsätzlich bekannt. Ist die Verbindung der Fotografie zur Architektur doch so alt wie das Medium selbst. Wer sich mit Fotografiegeschichte beschäftigt, kommt daran nicht vorbei. Es gibt einen Kanon historischer und moderner Klassiker, unterschiedliche Strömungen und Schulen. Und dann gibt es noch Vieles, das sich nicht so einfach kategorisieren lässt. Fotograf*innen, deren Arbeiten in Fachkreisen durchaus Anerkennung genießen, deren Bekanntheit aber selten über Expertenkreise hinausgeht. Sammler und Jägerinnen, die ihren Blick auf Dinge richten, die sonst gerne übersehen werden, und die - vielleicht genau deshalb – auch selbst häufig übersehen werden. Vor allem ihnen gilt dieses Büchlein, das Andrea Gnam rund um das Thema der Architekturfotografie geschrieben, man möchte eher sagen: komponiert hat.<br />Auf den ersten Blick scheint der vorliegende Text nämlich - durchaus auf produktive Art - ein wenig an jenem Durcheinander geschult, das auch einige der darin besprochenen Fotografien eint. Es ist ein flottes Hin und Her durch ein nicht immer leicht zu überblickendes Feld. Die Liste an Namen, die Gnam in mitunter schwindelerregender Schnelligkeit abarbeitet, ist von beeindruckender Länge und Diversität. Manchmal widmet sie den behandelten Arbeiten wenig mehr als einen Nebensatz, selten mehr als ein paar Zeilen. Viele Namen werden auch nur kurz aufgegriffen, um an späterer Stelle aus einer anderen Perspektive erneut in den Blick genommen zu werden. Versucht man die Form der Lektüre zu beschreiben, kann man gar nicht anders als das Bild der Flaneurin zu bemühen, die sich genussvoll durch ein Feld treiben lässt, das sie in- und auswendig kennt und mit großem Vergnügen kommentiert. Der Streifzug führt von den architektonischen Relikten einer untergegangenen Schwerindustrie (Ruhrgebiet) über sogenannte “Weiße Zonen“ und “Zwischenlandschaften“ mit ihren oft kuriosen Wildwüchsen einer Self-Made-Architektur bis hin zur fotografischen Aufarbeitung der Ostmoderne (Chruschtschow-Ära und DDR).</p> <p>Die ersten fünf Kapitel sind durchlässig, ergänzen einander inhaltlich und dürfen gerne quergelesen werden. Ihnen ist gemein, dass sie Architekturfotografie gegen den Strich deuten. Wer hier nach den großen bekannten Namen des Genres sucht, geht fehl. Die nur sparsam genannten Granden dienen lediglich der Orientierung und Einordnung. Was hier im Mittelpunkt steht, ist eine Spielform der Architekturfotografie, die sich nur bedingt für Ansichtskarten und Coffee Table Books eignet. Im Zentrum des Blicks steht die Abweichung, das Widerständige und schwer Einordenbare. Die Fotografien erzählen von einer Welt abseits historischer Stadtkerne und städteplanerischer Vorzeigeprojekte. Es geht um den kleinen Wildwuchs, die außer Kontrolle geratene architektonische Erweiterung in Eigenregie. Es werden hier Dinge sichtbar, die man sonst in der Regel übersieht, weil unser Blick nicht darauf trainiert ist. Ein Training, das die Autorin ihren Leser*innen auf fast schon paradoxe Weise beibringt. Tatsächlich gibt es in diesem Buch nämlich recht wenig zu sehen, ist doch jedem Kapitel lediglich eine einzige Fotografie vorangestellt. Den Rest muss man sich erlesen. Gelingen kann das nur, weil Gnam über die Fähigkeit verfügt, Fotografien in eine Sprache überzuführen, die mit wenigen Worten die Substanz eines visuellen Erlebnisses erfasst. All die Hinweise, Referenzen und Analysen, die hier leichtfüßig und beinahe nebenbei gegeben werden, fügen sich so zu dem übergeordneten Bild eines faszinierenden fotografischen Sub-Genres, das man gerne noch viel weiter erkunden möchte. Und hier liegt wahrscheinlich einer der stärksten Punkte des Buches: Es macht neugierig! Neugierig auf die Arbeiten von Fotograf*innen wie Inge Rambow, Gerhard Vormwald, Daniel Stemmrich, Beate Gütschow und Philipp Meuser, um hier nur einige der Vertreter*innen aufzugreifen, mit denen sich Gnam in der ersten Hälfte ihres Buches beschäftigt.</p> <p>Ab Kapitel sechs nimmt die Autorin eine Perspektivverschiebung vor. Mit ihren Überlegungen zur Bedeutung von Mustern und Ornamenten auf Teppichen, Vorhängen oder Tapeten in den Arbeiten von Fotografinnen ost- oder südosteuropäischer Herkunft, richtet sie den Blick ins Innere der Gebäude. Der hochprivate Wohnraum steht nun im Zentrum der Analyse. Auch hier sucht Gnam wieder nach jenen Elementen, die sich für eine offizielle Repräsentation kaum eignen würden. Dinge, die oftmals als kitschig oder gar geschmacklos bezeichnet werden. So etwa in den Arbeiten der in Wien lebenden Fotografin Eugenia Maximova oder ihrer aus Rumänien stammenden Kollegin Beatrice Minda, die sich beide intensiv mit den privaten Lebenssituationen osteuropäischer Migrant*innen beschäftigen. Gnam: “Wie in einer Gesteinsformation können sich in tradierten Ornamenten Emotionen, Wissen und Geschichte sedimentieren. Muster und Dekor einer Zeit oder eines Landstrichs, oder Ornamente, die in einer Gemeinschaft von Generation zu Generation weitergereicht werden, begründen ein grundlegendes, stabilisierendes Identitätsgefühl“ (S. 78).</p> <p>Erwähnt sein muss noch ein Kapitel, das mit dem Titel “Dimensionen des Imaginären“ überschrieben ist. Hier ist die Autorin schließlich bei ganz grundsätzlichen Überlegungen zur Fotografie angekommen. Ähnlich wie zuvor in den Kommentaren zur Architektur vermag sie es auch hier, ihre Leser*innen auf behände Art an Fragestellungen heranzuführen, die für die – auch theoretische – Beschäftigung mit Fotografie grundlegend sind. Keine der Fragen ist neu, doch erscheinen sie alle in einem neuen Licht, denn Gnam versteht es, die Überlegungen an Zitate, Aussagen und Einschätzungen bekannter Fotograf*innen (hier gibt es sie nun, die großen Namen von Stieglitz bis Parr) rückzubinden und ihnen, wenn schon keine Erklärung, so doch wertvolle Einschätzungen anbeizustellen. Wer kennt nicht jenes Gefühl, das hier als “Das Unbehagen des Fotografen“ beschrieben wird? Das Wissen, beim Fotografieren – und sei es nur das Ablichten öffentlicher Räume – etwas zu tun, das doch auch immer als Übergriff gewertet werden kann. Gnam zitiert in diesem Zusammenhang Wim Wenders, eine Reihe von Magnum-Fotografen, den Fototheoretiker Michel Frizot und den Philosophen Jean Baudrillard. Alles mit der ihr eigenen Leichtigkeit, die einem elitären und bemüht akademischen Duktus, der derartigen Ausführungen sonst oft anhaftet, denkbar fern steht.</p> <p><em>Vom Reiz der Peripherie</em> nimmt sich das unbestimmte Zwischenland, das in den ersten Kapiteln behandelt wird, als Ausgangspunkt für eine Wanderung, die weit über das im Untertitel angekündigte Verhältnis von Architektur und Fotografie hinausführt, um schließlich in einem Nachdenken über das Sehen schlechthin zu enden: Das Postskriptum ist dem Thema Fotografie und Blindheit gewidmet. Und so wie ganz am Anfang des Buches eine sehr persönliche Episode zu lesen ist, findet sich hier gegen Ende durchaus passend ein Verweis auf Roland Barthes, der in <em>Die helle Kammer</em> anhand einer berühmten Aufnahme von André Kertész die besondere Wahrnehmung eines Erblindeten erkundet hat. Auch hier dient der Bezug auf die Giganten Barthes und Kertész der Autorin nur als eine erste Verortung, auf die sie sogleich aktuelle Beispiele folgen lässt, bei denen stets das Anliegen der Inklusion spürbar ist. “Auf Fotografien von blinden Künstlern geht es nicht um Repräsentation und ihre Bildformeln, sondern um Imagination und um eine Verbindung zwischen der Welt der Blinden und derjenigen der Sehenden“ (S. 132). </p> <p>So wie einige der Arbeiten, die Andrea Gnam behandelt, steht auch ihr Text ein wenig zwischen den Genres, ist weder Lehrbuch noch enzyklopädische Aufarbeitung, ist keine Fototheorie und auch keine Fotogeschichte. Aber natürlich ist er von alledem etwas. Vor allem aber ist er eines: Der Beweis dafür, dass auch ein denkbar schlicht gehaltenes Büchlein große Neugier wecken kann.</p> David Krems Copyright (c) 2023 David Krems http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7960 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Sonia Gollance: It Could Lead to Dancing. Mixed-Sex Dancing and Jewish Modernity. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7609 <p>Die Arbeit von Sonia Gollance beginnt mit einem Witz, der zugleich titelgebend ist: er handelt von einem Mann, der kurz vor der Hochzeit seinen Rabbiner zur Sexualberatung aufsucht. Gemeinsam gehen die beiden zahlreiche sexuelle Vorlieben durch, die der Rabbi alle begeistert abnickt. Ob die Mitzwa des Geschlechtsverkehrs auch im Stehen vollzogen werden könne, fragt der Mann schließlich couragiert. "Absolutely not!", ist der Rabbi entsetzt: "It could lead to mixed dancing." (S. 1)</p> <p>Sonia Gollance nimmt diesen Witz, der in verschiedensten Variationen erzählt wird, als Ausgangspunkt für ihre Studie zum transgressiven Potential von Tanz für die jüdische Bevölkerung der Moderne. In ihrem Buch <em>It Could Lead to Dancing. Mixed-sex Dancing and Jewish Modernity </em>entfaltet Gollance die Zusammenhänge von Gesellschaftstanz, sozialer Zugehörigkeit und jüdischer Akkulturation. Sie zeigt dabei auf gelungene Weise, wie Akkulturation tänzerisch vollzogen wurde, wobei gerade die körperlichen Praktiken des Tanzens von jüdischen Autoritäten wie von den Umgebungsgesellschaften in der Diaspora argwöhnisch beäugt waren.</p> <p>Der zitierte Witz zeugt davon. Dass ihn Gollance ihrer Studie vorwegstellt, ist dabei nicht nur inhaltlich sinnig, sondern auch methodisch folgerichtig: wertet Gollance doch in einem Zeitraum von rund 160 Jahren (1780–1940) insbesondere tradierte Geschichten, Anekdoten, vor allem aber populäre Literatur – kurzum: Erzählungen – aus, in denen Wissen um den Gesellschaftstanz als Motiv und Movens sozialer Prozesse kondensiert ist. Im Witz um die Sexualberatung des Rabbiners, aber auch in Romanen, in Ratgebern, Verbotsschriften und Egodokumenten spürt Gollance den Motiven, Funktionen und Bedeutungen des Tanzens für die jüdische Bevölkerung des 19. und 20. Jahrhunderts nach. Die Studie fokussiert damit auf eine Zeit, in der Juden und Jüdinnen nicht mehr sichtbar "Fremde" waren, sondern Teil einer modernen, bürgerlichen Gesellschaft wurden, von der sie für kurze Zeit annahmen, sie könnten gleichberechtigt an ihr teilnehmen. Der Tanz als Erzählmotiv – so Gollances Argument – berichtet von dieser sich wandelnden Gesellschaftsstruktur, von den Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung auf Teilhabe, aber auch von innerjüdischen Diskursen, von Klassenunterschieden und Geschlechtervorstellungen. Mittels Tanz wurden Ideen sozialer Zugehörigkeit, Rechte um Staatsbürgerlichkeit und Regeln des Miteinanders verhandelt, die in der Moderne heterogen und oft auch widerstreitend aufeinander trafen.</p> <p>All das entfaltet Gollance in ihrem Buch in zwei Teilen und sechs Kapiteln. Teil 1 skizziert zunächst <em>en gros</em> das Argument der Konnexe von Tanz und jüdischer Akkulturation bzw. gesellschaftlicher Modernität. Überzeugend positioniert sie dabei die Tanzfläche als "microcosm of Jewish integration into broader society". (S. 21) Juden und Jüdinnen zeigten, so Gollance, mit ihrer Teilnahme am Gesellschaftstanz (heterosozial zwischen Mann und Frau getanzt in sogenannter "Christian fashion", S. 30) ihr Engagement für die europäische Moderne.</p> <p>Während sich rabbinische Autoritäten weiter für ein Verbot des Tanzens zwischen den Geschlechtern aussprachen und der Tanz als Gefahr für tradierte Sozialordnungen auch Eingang in populäre Literatur fand. Tanz, so führt Teil 1 aus, wird zum Leitmotiv gesellschaftlicher Transformation, er markiert utopisch das (bürgerliche) Zusammenleben aller, zeigt aber auch die Grenzen dieser Utopie für die jüdische Bevölkerung auf; etwa, wenn die <em>Breslauer Morgenzeitung</em> 1876 berichtet, wie christliche und jüdische Kaufleute miteinander „diniert, soupiert und spousiert“, aber dennoch nie gemeinsam getanzt hätten. (S. 28) Tanz markiert damit die letzte Schwelle hin zur Akzeptanz, den greifbaren Aufstieg in eine neue soziale Schicht; zugleich werden mit ihm geschlechtliche Erwartungen und Ideen vom jüdischen Körper eingeschrieben und transportiert. Tanz ist also zentrales Motiv der jüdischen Erfahrung in der Moderne und zugleich "embodied acculturation" (S. 40), die sich auch als Choreographie lesen lässt.</p> <p>Vor dem Hintergrund dieser Setzungen skizziert Gollance, wie die jüdische Bevölkerung in der europäischen Moderne "das Tanzen lernte". In ihren Quellen stößt sie dabei auf allerhand Erzählungen – etwa Vicki Baums <em>Der Knabe und die Tänzerin</em> (1924) – in denen ein geschlechtlich kodierter und als mangelhaft markierter "jüdischer Körper" an der <em>embodied acculturation</em> des Tanzes scheitert; und diesen folglich erst erlernen muss. Private Wohnzimmer-Zusammenkünfte, Hochzeitsfeiern, aber auch Tanzschulen machten es möglich, das Tanzen zu lernen; wobei dieser Lernprozess meist nicht ohne soziale Hindernisse, Zurückweisungen oder gar Anfeindungen von statten ging. Juden und Jüdinnen drückten im Tanz ihre Sehnsucht danach aus, der traditionellen Gemeinschaft zu entkommen (vgl. Shimen Bekerman, <em>Der tants klas</em>, 1914). Sie verliebten sich dabei oder fanden Ehepartner*innen; stießen aber auch auf Kritik und Zurückweisung, die sich gegen Tanz als "nutzlose Tätigkeit" oder antisemitisch gegen die Tanzenden selbst und ihre vermeintlich "jüdische Erscheinung" richtete (vgl. Karl Emil Franzos, <em>Judith Trachtenberg</em>, 1891; Ludwig Jacobowski<em>, Werther der Jude</em>, 1892).</p> <p>Im zweiten Teil des Buchs konzentriert sich Gollance dann auf vier "Bühnen" des Tanzens: Die Taverne, der Ballsaal, die Hochzeit und die Tanzhalle. Sie fragt, wie die jeweiligen Orte und Gelegenheiten des Tanzens auch soziale Begegnungen verschieden geprägt haben, und sie arbeitet deren Spezifika heraus. Die Taverne skizziert Gollance als einen ruralen, "liminal space" (S. 66), an dem sich Gruppen verschiedener sozialer Herkunft trafen, miteinander tranken und tanzten; wobei die Zusammensetzung der Gäste und der gemeinsame Alkoholkonsum als moralisch fragwürdig galten und so insbesondere jüdische Besitzer und Besucher*innen von Tavernen in Verruf geraten konnten. Zugleich berichten die ausgewerteten Erzählungen von transgressiven Fantasien des Aus- und Aufbruchs, die gerade dem liminalen Ort der Taverne entsprangen.</p> <p>Der Ballsaal – als zweite "Bühne" des Tanzens – kontrastiert die Taverne in mehrerlei Hinsicht. Er verlangte nach Zugangsbeschränkungen und sozialer Etikette und war dadurch nicht allen, sondern nur einigen wenigen, elitären Kreisen vorbehalten, die ihre Bälle zudem nach Konfessionen getrennt ausrichteten. Gerade, da der Ballsaal Klassen, Hierarchien und andere soziale Herkünfte strikt formalisierte, wurden hier die Grenzen jüdischer Akkulturation besonders offenbar. Sieht Gollance zahlreiche tragische Liebesgeschichten im Ballsaal verortet, skizziert sie für den dritten Ort – die Hochzeit – insbesondere familiäre Zwänge und zeremonielle Regeln, die in den Erzählungen rund um Hochzeitstänze zu Tage treten. Tanz fand hier unter den Augen der Gemeindeautoritäten und im Kreis der Familie statt. Er wird zum Motiv arrangierter Ehen und sozialer Kontrolle und steht so im Gegensatz zum karnevalesken Purim- oder alkoholinduzierten Tavernentanz.</p> <p>Während auf Hochzeiten eine traditionelle Ordnung soziale Struktur vorgibt, erscheinen diese Strukturen in der Tanzhalle in-existent. Die Tanzhalle – als vierte "Bühne" – steht insofern für die urbane Moderne, in der sich eine kommerzielle Freizeit- und Massenkultur ausgebildet hat, die nicht nur als reizvoll, sondern auch als überwältigend und fragmentierend erlebt wird. Mit ihren Untersuchungen zur Tanzhalle landet Gollance schließlich im 20. Jahrhundert und in der jüdischen Diaspora in den USA, wo mittels Tanz etwa europäisch-amerikanische Migration, kapitalistische Logiken und ein Wertewandel auf körperlicher Ebene ausgetragen werden.</p> <p>Die Folgerungen, die Gollance in ihrer Studie zieht, speisen sich dabei durchwegs aus reichhaltigen, wie plastisch vorgetragenen Quellenstudien. Die Arbeit <em>It Could Lead to Dancing </em>ist so in mehrerlei Hinsicht Lektüregewinn und -genuss: sie berichtet von zahlreichen, populären Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts und sie tut dies selbst auf ansprechend erzählerische Weise. Dicht an den Szenen, Situationen und Episoden populärer Literatur schält Gollance ihr Argument heraus, demnach Tanz – insbesondere <em>mixed-sex</em> Gesellschaftstanz – soziale Umwälzungen und deren Grenzen markiert und artikuliert. Tanz erscheint so als Seismograph und Methode, um Normen und Friktionen von Geschlecht und Klasse zu beforschen. Dass diese methodischen Grundlagen, die Gollance in ihrer Studie für die Moderne auf Basis von Textanalysen vollzieht, auch für vielfältige Materialien des 21. Jahrhunderts weiter produktiv sein können, zeigt schließlich der Epilog. Er skizziert ausblickhaft Materialien auch jenseits von Literatur – etwa den Filmklassiker <em>Dirty Dancing</em> (1987), der anhand der Liebesgeschichte von Baby und Johnny den Topos <em>mixed-sex dancing</em> weiterführt und dabei ebenso Transgressionen zwischen jüdischer und christlicher, bürgerlicher und <em>working-class</em> Herkunft im Tanzsaal ausagiert.</p> <p>Gerade dieser Ausblick verdeutlicht, wie interdisziplinär anschlussfähig die Arbeit ist. Als Literaturwissenschaftlerin wählt Gollance die Textanalyse, gelangt damit aber zu Erkenntnissen, die über den Text hinaus und in Alltags-, Körper- und Ideengeschichte der Moderne hinein verweisen. Das ist anregend weiter über die Konnexe von Literaturwissenschaft, Jüdischer Geschichte und Tanz- wie Theatergeschichte nachzudenken. Tanz – auch das zeigt die Arbeit – eröffnet Möglichkeiten, persönliche Beziehungen in den Fokus zu rücken, alltägliche Praktiken als politisch und sozial bedeutsam zu beforschen oder auch die Geschichte von Emotion und Attraktion in der Moderne zu perspektivieren. Denn, Tanzen – so schickt Gollance ihrer Studie voraus – "increases the dramatic stakes" (S. 10); es bringt Emotionen und Relationen hervor, die insbesondere in historischen Materialien nicht ohne weiteres sichtbar werden. Dem aus jüdischer Perspektive zu neuer Sichtbarkeit zu verhelfen, ist ein großes Verdienst der Studie.</p> Theresa Eisele Copyright (c) 2023 Theresa Eisele http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7609 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Lee Teodora Gušić: Theater im Krieg – Friedenstheater? https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7606 <p>Sowohl im Theater als auch in der Literatur mangelt es an Auseinandersetzungen mit weiblichen Erfahrungen der Jugoslawienkriege, kritisiert die Germanistin, Aktivistin und Künstlerin Lee Teodora Gušićs. Ferner konstatiert sie, dass in der literaturwissenschaftlichen Forschung die Darstellung sowie die Verhandlung von Krieg und Gewalt in Theatertexten meist nur mit starken Bezügen zur Prosa untersucht wird. Analysen von Stücken über weibliche Erfahrungen im Kontext der Jugoslawienkriege, die zudem von Frauen geschrieben wurden, sind laut Gušić kaum in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft vorzufinden. Deshalb widmet sie sich in ihrer Dissertation <em>Theater im Krieg – Friedenstheater?</em> <em>Theaterstücke zu den Jugoslawienkriegen 1991–1999 </em>der Triade <em>Theater – Frauen – (Jugoslawien)kriege</em> sowie deren wechselseitigem Verhältnis. Dabei beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, wie die ausgewählten Werke, die zwischen 1995 und 2011 entstanden sind, mit den Jugoslawienkriegen von 1991 bis 1999 umgehen.</p> <p>Den Fokus ihrer Untersuchung setzt Gušić auf die Bereiche Komik und Gewalt sowie auf die Konzeption der Frauenfiguren und deren Sprache. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die fünf Stücke <em>Blasted/Zerbombt</em> (1995) von Sarah Kane, <em>Belgrader Trilogie</em> von Biljana Srbljanović (1999), <em>DIE PAVILLONS oder Wohin gehe ich, woher komme ich und was gibt’s zum Abendessen </em>von Milena Marković (2001), <em>Žena bomba/Bombenfrau</em> von Ivana Sajko (2003) sowie <em>sophia or while i almost ask for more or a parable of the ruler and the wisdom </em>(2011) von Simona Semenić. Ergänzend zieht Gušić weitere Dramentexte der genannten Autorinnen heran. Aufführungen und Performances anderer Künstler*innen, die laut Gušić die Fragestellungen erhellen, werden ebenfalls besprochen, woraus sie einen umfangreichen Untersuchungskorpus sowie zahlreiche intertextuelle und interkulturelle Bezüge erschließt.</p> <p>Die Auswahl der fünf Theatertexte begründet Gušić damit, dass alle Autorinnen innerhalb eines europäischen geographischen Raums zu verorten sind, alle international einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben, über sexualisierte Gewalt schreiben sowie alle der gleichen Generation angehören (sie sind zwischen 1970 und 1975 geboren) und somit alle von Krieg – wenn auch auf unterschiedliche Weise – beeinflusst wurden. Die Jugoslawienkriege verortet Gušić ebenfalls innerhalb eines europäischen Kontextes und bezeichnet diese als die "ersten europäischen Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg" (S. 16). Sie verweist kritisch darauf, dass das Gebiet der Nachfolgestaaten Jugoslawiens häufig unter dem Codewort "Balkan" als vermeintlich "wild und chaotisch" zusammengefasst wird. Der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien und seine emanzipatorischen Errungenschaften (hohe Alphabetisierungsrate, Reisefreiheit oder starke Säkularisierung) würden somit in den Hintergrund geraten und die jugoslawische Frauenbewegung auf "Vergewaltigungen auf dem Balkan" zurückgeworfen.</p> <p>Die Studie ist in zehn Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel stellt Gušić ihr Forschungsinteresse, den Gesamtkorpus, ihre Hypothesen sowie den daraus resultierenden umfangreichen Fragekatalog vor, den sie in vier Bereiche unterteilt ("Fragebereiche A bis D", S. 16). Neben der Rolle von Erinnern, Gedenken und Verarbeiten untersucht Gušić auch, inwiefern sich die Jugoslawienkriege und deren Folgen auf andere Konflikte und Kriege übertragen lassen. Daneben soll die Lesart der Stücke, die Geschlechterkonstruktionen, die Darstellung von Gewalt und schließlich "Humor, Witz und Groteske sowie ihr Verhältnis zu Krieg und Theater" diskutiert werden (S. 47). Schilderungen positiver Erfahrungen von Krieg möchte Gušić in den ausgewählten Werken ebenfalls herausarbeiten, was vor dem Hintergrund der darin äußerst brutal geschilderten Gewalt und Zerstörung besonders interessant erscheint. Denn dadurch tun sich nicht nur Widersprüche und Brüche in der Rezeption auf, sondern auch Momente der Hoffnung. Folglich soll aufgezeigt werden, inwiefern die Beispiele "kommunikativ-versöhnliche, heilsame Elemente enthalten" (S. 18). Somit rückt auch die Bedeutung von Sprache und Kommunikation im Kontext von Krieg in den Blick der Untersuchung sowie die Frage, inwiefern Kommunikation als Mittel der Konfliktlösung und -bewältigung in den ausgewählten Theatertexten enthalten ist.</p> <p>Mit diesem Vorhaben spannt die Autorin einen Bogen zum titelgebenden "Friedenstheater" in ihrer Arbeit, welches sie erst im letzten Teil des zweiten Kapitels genauer definiert (vgl. S. 57f). Vorab hält sie hierzu fest, dass Theater vor allem in Serbien während des Milošević-Regimes alternative Sichtweisen zu den kontrollierten Staatsmedien bot. Unerwähnt bleiben jedoch Theaterinszenierungen, die der politischen Agenda des Milošević-Regimes sowie der xenophoben Propaganda der 1990er Jahre zuspielten, indem sie Themen aufgriffen, die auf das serbische Opfernarrativ zu jener Zeit zugeschnitten waren. Bezogen auf die Theatertexte von Kane, Sajko, Srbljanović, Marković und Semenić hält die Autorin fest, dass tabuisierte Themen, wie etwa sexualisierte Gewalt, dargestellt und dadurch zur Sprache gebracht werden, was zu einer gesamtgesellschaftlichen Kommunikation darüber beitragen kann. Unter "Friedenstheater" versteht die Autorin schließlich ein Theater mit Held*innen, "die zu gewaltfreien Aktionen finden" (S. 66), beziehungsweise ein Theater, das zu Lernprozessen durch Beobachtung, Einfühlung und Nachahmung friedlicher Konzepte einlädt.</p> <p>Im zweiten Kapitel arbeitet sich Gušić zunächst in knapper Ausführung an dem aktuellen Forschungsstand zum Themenkomplex "Frauen und Krieg" ab. Anschließend diskutiert sie Begriffe wie Konflikt, Aggression, sexualisierte Gewalt und Krieg. Sie differenziert dabei zwischen Konflikt und kriegerischer Gewalt, zwischen physischer und verbaler Gewalt und erläutert nachfolgend geschlechterspezifische Kriegsgewalt.</p> <p>Im anschließenden Unterkapitel zum historischen Kontext der Jugoslawienkriege trägt Gušić hauptsächlich Zahlen zu Vertriebenen und zu Todesopfern der Kriege zusammen und erläutert die Brisanz der (ethnischen) Zugehörigkeitsfrage während der Jugoslawienkriege anhand des starken Nationalismus sowie einer neuen Religiosität zu Beginn der 1990er Jahre. Für die Analyse der Theaterbeispiele erscheint diese Frage jedoch weniger relevant, da die Konflikte in den Stücken nicht auf die ethnische Zugehörigkeit der Figuren zurückzuführen sind, sondernd auf toxische Geschlechterbeziehungen. Im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels widmet sich die Autorin der Sprache als Kriegsschauplatz sowie dem Verhältnis von Humor und Krieg. Fragen nach einer kriegsspezifischen Komik sowie einer spezifischen Form von Humor im Kontext von Gender führen sie schließlich zur Schlussfolgerung, dass sich der Humor in den ausgewählten Theaterstücken insbesondere durch Ironie und als friedliches Mittel der Verständigung auszeichnet. </p> <p>Im dritten Kapitel entwirft Gušić einen Forschungsbericht zum Themenkomplex "Theater und Jugoslawienkriege" und diskutiert einzelne Bereiche der zentralen Fragestellungen. Hierzu bespricht sie Theaterstücke und Performances, die nach ihrem Ermessen für das Verständnis der Werke von Kane, Sajko, Srbljanović, Marković und Semenić relevant sind, wie etwa die Performance <em>balkan baroque</em> von Marina Abramović sowie der Einakter <em>Krieg im dritten Stock</em> von Pavel Kohout. In zwei darauffolgenden Unterkapiteln bespricht Gušić weitere Werke zu den Jugoslawienkriegen, um die Besonderheiten der zentralen Analysebeispiele herauszuarbeiten. Stücke von Autoren wie Peter Handke, Slobodan Šnajder und Dejan Dukovski werden mit Inszenierungen von Oliver Frljić verglichen, ohne dabei zwischen Inszenierungen und Theaterstücken zu differenzieren, was beim Lesen stellenweise für Verwirrung sorgt. </p> <p>In den Kapiteln vier bis acht untersucht Gušić chronologisch und beginnend mit Sarah Kanes <em>Blasted</em> die zentralen Analysebeispiele. Dabei sind alle Kapitel ähnlich strukturiert: Nach Angaben zu Biographie der jeweiligen Autorinnen und zur Rezeption ihrer Werke erläutert Gušić die Struktur des Stücks, Handlungsorte, Figurenkonstellationen, die Darstellung von Gewalt sowie Humor und Komik. Gušić arbeitet heraus, dass in allen Stücken Mutterschaft aufgegriffen und thematisiert wird, allerdings wird diese weder idealisiert noch romantisiert. Hinsichtlich des Krieges als gesellschaftlichem Ist-Zustand sowie der gewalttätigen und stets alkoholisierten Vaterfiguren distanzieren sich die weiblichen Figuren von ihrer Schwangerschaft und ihrer bevorstehenden Rolle als Mutter. Trotz der Gewalt, die sie in den Stücken erfahren, die vor allem in Kanes <em>Blasted</em> extreme Ausmaße annimmt, wendet keine der Protagonistinnen Gewalt gegen andere an. Gewalt, die von ihnen ausgeht, richtet sich stets gegen sie selbst. Nichtsdestotrotz beinhalten alle Stücke, laut Gušić, starke Frauenfiguren, die Selbstmord und Schweigen einem Verlust von Selbstkontrolle vorziehen. Auch in der Sprache der weiblichen Figuren spiegelt sich die Ablehnung von Gewalt, da sich – abgesehen von einer Figur in Markovićs Stück – keine der weiblichen Figuren einer gewaltvollen und vulgären Sprache bedient, wohingegen die männlichen Figuren in allen Textbeispielen auf verschiedene Weise gewaltvolle Handlungen vollziehen.</p> <p>Zudem arbeitet Gušić heraus, dass in keinem der Texte die Jugoslawienkriege explizit erwähnt werden, jedoch als Rahmen der jeweiligen Handlungen sowie als Ursache für die psychische Verfasstheit einzelner Figuren greifbar werden. Die geschilderte Kriegsgewalt wird stets als strukturelle Gewalt dargestellt, die auf individueller oder familiärer Ebene und vor allem in den romantischen Beziehungen zwischen den Frauen- und Männerfiguren manifest wird. Zur Frage, inwiefern die Stücke kommunikativ-versöhnliche und heilsame Elemente enthalten, kommt Gušić zu dem Ergebnis, dass sie keine Beispiele für eine gelingende Kommunikation liefern, da die Handlungen in der Darstellung von Kriegsgewalt und häuslicher Gewalt bleiben. Entwürfe für friedliche Lösungsansätze werden – wenn überhaupt – nur angedeutet. Zudem kommt Gušić zu dem Ergebnis, dass die Stücke im Kontext der Jugoslawienkriege zwar spezifisch, aber dennoch auf andere Regionen und Kriege übertragbar sind. Krieg und die daraus resultierende Zerstörung von Menschen und deren Beziehungen, die in allen Textbeispielen eindringlich zur Darstellung kommen, werden somit von geographischen und kulturellen Zusammenhängen losgelöst, wodurch die Ursachen der Konflikte und Kriege von der Herkunft oder Religionszugehörigkeit der Figuren entkoppelt werden.</p> <p>Abgesehen vom verbesserungsbedürftigen Lektorat sowie einigen inhaltlichen Ungenauigkeiten – hinsichtlich der Angaben zu Oliver Frljić etwa oder bei der fehlenden Differenzierung zwischen Theaterstücken als einer literarischen Gattung und Theaterinszenierungen – gelingt es Lee Teodora Gušić mit ihrer Studie zur Triade <em>Theater – Frauen – Jugoslawienkriege</em>, die in den Stücken angelegte, spezifisch weibliche Sicht auf den Krieg präzise herauszuarbeiten. Innovativ und erfreulich zugleich ist zudem ihr Ansatz, Geschlecht als konstitutives Element für eine neue Theaterhistoriographie heranzuziehen und somit eine dezidiert feministische Geschichtsschreibung im Kontext von Theater und Literatur zu verfolgen.</p> Darija Davidovic Copyright (c) 2023 Darija Davidovic http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7606 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Ric Knowles: International Theatre Festivals and 21st-Century Interculturalism. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7958 <p>Ric Knowles starts and ends his examination of international theater festivals in the twenty-first century with the slightly regretful remark that his publication seems to have become a "history book" about the first two decades, (p. ix and p. 230) given the fact that the global COVID-19 pandemic brought a hiatus in the performing arts sector. I would argue that the enforced pause in 2020 incited theater practitioners and festival organizers to rethink cultural and economic modes of operation at present-day festivals, who can thus profit significantly from Knowles' in-depth investigation of a pre-COVID status quo. Besides, issues and strategies discussed in <em>International Theatre Festivals </em>seem to be just as relevant today, in light of recent festival editions of 2022 not having shown as much change as we might have expected.</p> <p>By outlining a "loose classification" (p. 20) of five different festival types, Knowles places a particular focus on the role of international live arts festivals as key sites for intercultural communication, representation and negotiation. Thereby, the publication explicitly seeks to "displace the destination festival as the gold standard, and the fringe as the only alternative," (p. 26) still dedicates two chapters to these types, but then proposes new festival genealogies and epistemologies.</p> <p>While Western world researchers oftentimes view the origins of theater and festivals within the "competitive framework of ancient Greece," Chapter 1 suggests to understand festivals as having begun in the "relational frameworks of Indigenous communities globally." (p. 30) Throughout the book, Knowles is particularly sympathetic towards Indigenous-run theater and performance festivals, highlighting their way to promote "performative negotiation and constitution of identities," (p. 64) to create "deeper aesthetic, technical, political, and cultural exchange" among artists through intensive workshops, (p. 69) and to constitute festival visitors as "guests, participants and witnesses." (p. 70) Although I would not romanticize Indigenous culture either, this renewed perspective reminds us to prioritize mutual celebration and transnational exchange over culture consumption and detour profitability. </p> <p>Destination festivals, like the Edinburgh International Festival and the Festival d'Avignon, both founded in 1947 to rebuild a European cultural identity after the Second World War, moved away – as Knowles argues in Chapter 2 – from their mission to "shore up European (high) culture [and] civilization" (p. 73) to "serving primarily as international marketplaces for the exhibition and exchange of cultural capital." (p. 74) By presenting large-scale productions, destination festivals attract visitors to host cities and, thus, contribute to tourism and city branding, which in return legitimates their funding through public subsidies. Knowles justly criticizes that high ticket prices limit the festivals' accessibility and foster an upper and upper-middle class audience "for whom the experience of festivalization is as much about being seen as seeing, and more about cultural consumption than intercultural communication." (p. 74)</p> <p>Chapter 3 examines curated live-arts festivals having emerged in the turn of the millennium as interdisciplinary, socially activist, artist-run festivals. The emergence of curated live-arts festivals goes hand in hand with a conceptual shift away from festival programming to festival curation. While the programmer "travels to festivals around the world to choose 'the best' of what is on offer", the artist-curator "travels to make connections" and foregrounds "opportunities for communication across difference." (p. 113f) Keren Zaiontz speaks of "second-wave festivals" to mark their renunciation of neoliberal policies at destination or fringe festivals, and stresses their close relationship with local host cities as a defining feature (Zaiontz 2020). By staging site-specific work, targeting local audiences, involving theatrical and non-theatrical spaces, and fostering dialogues between visiting and local artists, festivals like LiFt in London or PuSh in Vancouver have an impact that extends beyond festival time.</p> <p>As contrasting examples, open-access fringe festivals were mounted in protest on the periphery of "élite" destination festivals as anarchic, counterculture alternatives, until they "had succumbed to the pressures of the neoliberal marketplace, its rebellious artists were transformed into artrepreneurs, and their defiance into precarity." (p. 158) Researchers like Jen Harvie and Sarah Thomasson have problematized the collateral social damages due to neoliberal policies and practices on these competitive theater markets (Harvie 2020; Thomasson 2019). Chapter 4 ends by discussing counterfestivals, microfestivals and manifestivals that form an opposition to the increasingly commercial fringes, like FESTA in Bogotá, the Free Fringe and now suspended Forest Fringe in Edinburgh, Montréal's Edgy Women Festival, Toronto's Hysteria and others. Interestingly, Knowles underlines that the "most interculturally generative" festivals that he encountered were "in no real sense open-access," (p. 234) which confirms that neoliberal policies at open-format fringes entail a dominance of market trends and, in further consequence, a standardization of artistic forms.</p> <p>Under the heading "The Intracultural Transnational," Chapter 5 explores festivals from one cultural, regional or language community transcending national borders. Festivals like BeSeTo, RUTAS and the Kampala International Theatre Festival seek to negotiate "new and emerging relations across what have historically been virtually impenetrable borders." (p. 215) Knowles therein views an emerging new festival paradigm that attempts to "forge and negotiate solidarities and cultural identities within transnational communities," (p. 228) to overcome fractures by historical imperialism and neocolonial economic policies. In order to counteract the risk of language-based festivals in francophone and lusophone countries of being dominated by "the interests of the European colonizing nations," (p. 206) in particular when the work of artists from former colonies is assimilated or decontextualized, Knowles suggests placing festival curation in the hands of those having been "subjected to colonization." (p. 212) All in all, Chapter 5 gives a positive outlook on intracultural transnational festivals functioning "less as global theatrical marketplaces than as sites of intra<em>cultural</em> negotiation, exchange, solidarity, and identity formation across inter<em>national </em>differences." (p. 194)</p> <p>As a complementary read to these five festival types, I would suggest the<em> Cambridge Companion to International Theatre Festivals</em>, edited and published by Ric Knowles in 2020. Structured by host country or continent instead of festival type, the <em>Cambridge Companion</em> includes chapters on destination festivals by Erika Fischer-Lichte, fringe festivals by Jen Harvie, indigenous festivals by Ric Knowles, second-wave festivals (equivalent to curated live-arts festivals) by Keren Zaiontz and selected examples of intracultural transnational festivals like the BeSeTo Festival by Hayana Kim and others.</p> <p>In the conclusion of <em>International Theatre Festivals</em>, Knowles argues that COVID-19 might serve as "an opportunity to pause in what had been an exponential increase in the pace of festivalization." (p. 230) Obviously, it is too soon to discuss long-term effects of the pandemic on the performing arts sector. What we can notice so far is that the enforced digitalization due to the closure of cultural institutions and the cancellation of large events has made theater practitioners and festival stakeholders rethink their work practices and audience relations. While the turn to set up exclusively digital festivals apparently remained a temporary measure during the pandemic, Knowles views the recreation of live arts festivals in the post-COVID era as a chance to erect "spaces of intercultural negotiation and exchange." (p. 231) The optimistic outlook on the future of festivals invites readers to continue observing the ongoing development with curiosity.</p> <p>Knowles' reflections on "wise practices" provide useful input for festival organizers: Itinerant festivals like BeSeTo, CARIFESTA and Theater der Welt prove that regular changes of the host city allow "more flexibility in programming difference and engaging with local cultures" (p. 235) instead of primarily serving tourism and city branding. A change in leadership and/or the involvement of guest curators, as it is the case at Progress in Toronto or the Ruhrtriennale in Germany, help to avoid "the endless reproduction of limited, quixotic, or coercive worldviews over time." (p. 234) A temporally condensed program not only creates a festive atmosphere, but also allows visitors to stay for the entire duration and creates "ideal conditions for debate and exchange." (p. 237) This experience is amplified by the curator not just compiling an excellent festival program, but also staging dialogue between artists and their audiences by means of conferences, panels, post-performance discussions and workshops. Knowles further emphasizes the importance of a well-conceived contextualization of artworks, the just remuneration of all artists as well as economic, physical and linguistic accessibility to the festival.</p> <p>All in all, <em>International Theatre Festivals and 21st-Century Interculturalism </em>not only provides a methodological toolbox for festival researchers by outlining a loose classification, but also incites fruitful discussions on how to reconceptualize present-day festivals as "intercultural mediators." (p. 232) Frequent references across chapters create a more interwoven argumentation and also blur the boundaries of the five festival types, which Knowles himself calls a "loose categorization." (p. 20) Apart from that, numerous performance analyses and experience reports of specific festivals all over the globe guarantee a compelling and lively reading experience.</p> <p><strong>Literature:</strong></p> <p>Harvie, Jen: "International Theatre Festivals in the UK: The Edinburgh Festival Fringe as a Model Neo-liberal Market." In: <em>The Cambridge Companion to International Theatre Festivals</em>. Ed. by Ric Knowles, Cambridge University Press 2020, pp. 101-117.</p> <p>Thomasson, Sarah: "'Too Big for Its Boots'?: Precarity on the Adelaide Fringe." In: <em>Contemporary Theatre Review</em> 29(1), 2019, pp. 39-55.</p> <p>Zaiontz, Keren: "From Post-War to 'Second-Wave.' International Performing Arts Festivals." In: <em>The Cambridge Companion to International Theatre Festivals</em>. Ed. by Ric Knowles, Cambridge University Press 2020, pp. 15-35.</p> Hanna Huber Copyright (c) 2023 Hanna Huber http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7958 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Sarah Ralfs: Theatralität der Existenz. Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7964 <p>Christoph Schlingensief nahm die Kunst so ernst wie das Leben. Und so machte er sich für beides haftbar – wie er auch den Zuschauer für beides in Haftung nahm. Erkannte er die einfachste künstlerische Aktion in Bretons Schuss in die Menge, so sah er zugleich, dass auch die Theaterzuschauer "wirklich Pfeile auf einen abschießen, bis man anfängt zu bluten" (Dietz/Dürr 1997, S. 12). Mag seine Kunst immer auch verspielt und experimentell dahergekommen sein, sie meinte es ernst. Wie ernst, das zeigt Sarah Ralfs in ihrer zugleich als Dissertation an der FU Berlin eingereichten Monografie <em>Theatralität der Existenz</em>. Ralfs arbeitet die ethische Dimension einer solchen Ästhetik der Existenz heraus, indem sie aufzeigt, wie Schlingensief künstlerisch die Spezifika von Theater, Film, Oper und Installation auslotet und gegeneinander führt, um einen ästhetischen Erfahrungsraum der dialektischen Verwobenheit und Reziprozität von Leben, Sterben und Tod herzustellen. Dabei mögen existentielle Fragen in Schlingensiefs Schaffen mit seiner Krebsdiagnose unübersehbar und explizit hervortreten. In ihren fünf Kapiteln zeigt Ralfs aber auf, dass diese Deutlichkeit keinen Bruch im Schaffen markiert, sondern eher als Ausreifung einer lebenslang erprobten existentiellen Kunstpraxis zu verstehen ist.</p> <p>Als substanziell für Schlingensiefs existentiellen Kunstbegriff "negativer Gattungsästhetik" (S. 24) versteht Ralfs die (Neo-)Avantgarden, die Schlingensief in einem "spielwütige[n] Eklektizismus" (S. 17) nach ihren Kunst- und Lebensfunktionen befragt habe. Im Unterschied zu den Avantgarden gehe es ihm aber nicht um ein Kunstwerden des Lebens (und vice versa), sondern um die Genese von Freiheit und Autonomie im abklopfenden Spiel mit der Differenz zwischen Kunst und Leben. Im ersten Kapitel gelingt es Ralfs mit ihrer Detailanalyse des Theaterstücks <em>Atta Atta. Die Kunst ist ausgebrochen</em> (2003), Schlingensiefs Techniken der Bezugnahme nachzuzeichnen. Mittels medialer Verschiebungen, dilettantischen Kopierens, übertriebener Affirmation, ironischem Bekenntnis und ausgestellt fehlerhaften Zitierens (neo-)avantgardistischer Vorgänger*innen, schreibt Schlingensief die historischen Vorläufer*innen und ihre transgressiven Bewegungen nicht einfach fort, er potenziert sie. Statt den gängigen Geniekult der Avantgarde zu reproduzieren, habe Schlingensief ästhetische Strategien entwickelt, Kunst zu einem freiverfügbaren weltimmanenten Verweisnetzwerk umzugestalten, innerhalb dessen Künstler*innen zu Schaltstellen prozessualer Arbeitsstrukturen werden. Die Avantgarde wird zum Ready-made, dem sich Schlingensief zur Reflektion des historischen Stands des ästhetischen Materials bedient. Dabei wird dieser Bestand durch die dilettantische Verfehlung aus kunsthistorischen Wertbeständen befreit und der immer schon in Traditionen stehende Schaffensprozess emanzipiert. Ralfs findet dafür den Neologismus "Avantgardeentzug" (S. 68). Dieser öffne die verweisende und verwiesene Kunst, um neue Funktionen zur Aushandlung von Leben, Sterben und dem Tod zu übernehmen.</p> <p>Die folgenden Kapitel widmen sich den ästhetischen und medientheoretischen Spezifika der Genre Theater, Film, Oper und Installation, wobei es gerade die Bezogenheit auf ein Publikum ist, die – wenn auch qualitativ und graduell unterschiedlich – bei allen Arbeiten Schlingensiefs immer gegeben ist und aus der Ralfs vor allem die ethische Dimension gewinnt. Wie genau der "theatrale Zug der Kunst als ästhetisches Szenario der ethischen Verwobenheit zwischen Akteur, Bühne und Publikum" (S. 78) zu verstehen ist, legt Ralfs überzeugend im zweiten Kapitel dar. Die Klarheit von Ralfs Analyse in diesem Kapitel ergibt sich nicht nur durch den Rückgriff auf die inzwischen einschlägigen Performativitätsstudien Erika Fischer-Lichtes, sondern auch durch Ralfs eigene kreative Verschiebungen dieser Begrifflichkeiten. Dadurch eröffnen sich neue epistemische Wege, die zum Beispiel hin zu einem nomadischen Theater führen. Das nomadische Theater, das Ralfs bei Schlingensief herausschält, sei künstlerisch und intermedial derart differenziert, dass es kaum mehr unter dem Begriff "Theater" zu fassen sei; zugleich gehe es aber einzig aus der theatralen Aufführungssituation von "Medialität, Performativität, Semiotizität und Ästhetizität" (S. 320) hervor. Nomadisch verorte sich ein solches Theater in unterschiedlichen künstlerischen Feldern und Institutionen als ein immer wieder anderes.</p> <p>Schlingensiefs Theater sei prozesshaft ausgerichtet und mittels des Zusammenwirkens intermedialer Praktiken von einer dialektischen Dynamik getrieben. Erst aus der darin sich konstituierenden performativen Widersprüchlichkeit bildet sich für Ralfs der Kunstbegriff von Schlingensief heraus, der als "ästhetische[s] Analogon der Existenz" zu verstehen sei (S. 135). In dieser intermedialen Ausweitung der prozesshaften Aufführungssituation öffne Schlingensief einen ästhetischen Erfahrungsraum, um Leben, Sterben und Tod gemeinsam mit dem Publikum zu befragen; ein existenziell ethischer Grundzug ergebe sich also nur qua dieses theaterästhetischen Prinzips. Nur die Theatersituation der Aufführung erlaube es, Krankheit und Sterben in einer vieldeutigen und vielschichtigen ästhetischen Gestalt zu zeigen, wodurch Erfahrungen und Subjektivität der Künstler*innen in intersubjektive gemeinschaftliche Erfahrungsräume der Existenz transzendiert würden.</p> <p>Ebenso theoretisch versiert ist Ralfs Analyse im dritten Kapitel, in dem die Autorin das Verhältnis von Film und Existenz medientheoretisch perspektiviert. Schlingensiefs filmische Praxis interpretiert Ralfs als Suche danach, "was die Filmtechnik mit dem Leben zu tun haben könnte". (Schlingensief 2012, S. 217, zit. S. 197). Dabei untersucht sie, wie Schlingensief die Spezifika des Films – darunter Indexikalität, Technizität, der technische Apparat, bewegte Bilder und Maschine, Illusion sowie Komposition – diesseits und jenseits von Aufführungen nutzt, um "ein vielschichtiges, ästhetisches und filmspezifisches Gewebe des Lebens, des Sterbens und des Todes sowie einen ästhetischen Erfahrungsraum ihrer Verwobenheit und ihres wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins zu schaffen" (S. 202).</p> <p>Im vierten Kapitel zur Oper betont Ralfs vor allem, wie Schlingensief die unterschiedlichen Künste (Musik, Text, Film, Bühne) als ein Nebeneinander organisiert – und zwar bewusst als Opposition zu Richard Wagners Organisationsprinzip des Übereinander, aus dem sich ein organisches Zusammenwirken zum Gesamtkunstwerk ergebe. Schlingensiefs Nebeneinander aber wirke als ein Gegeneinander, so dass von vorneherein alle organische Überwältigungseinheit unterbunden und stattdessen eine ästhetische Erfahrung des Widersprüchlichen und Unvereinbaren evoziert werde, die – so Ralfs – auch dem Leben eigen sei.</p> <p>Diese ästhetische Erfahrung von Existenz mündet für Ralfs in der Installation, mit der sie sich im fünften Kapitel ihrer Monografie auseinandersetzt. Die Installation führe ästhetische Spezifika, die sich Schlingensief in Theater, Film und Oper spielerisch erschlossen habe, zusammen und einen Schritt weiter. Die Installationen des <em>Animatographen </em>erlaubten einen Prozess, an dem potenziell alle und alles teilnehmen könne, womit die Idee der nomadischen Ästhetik wieder auftaucht. Die Installation – und das hätten die Ausstellungen der <em>Animatographen </em>auch nach dem Tod Schlingensiefs gezeigt – erlaube es sogar, ganz ohne Künstler*innen auszukommen. Ralfs deutet den <em>Animatographen</em> daher auch als Schlingensiefs Versuch, mittels primär räumlicher und installativer Ordnungsprinzipien "eine strukturelle Hinausrechnung seiner Person" zu finden (S. 277f). Durch Abwesenheit lägen Autorschaft und Erfahrungssteuerung fast ausschließlich beim Publikum. Hier scheint die ethische Dimension der Kunst von Schlingensief erneut auf: eine ethische Dimension, die nicht erst in seiner Beschäftigung mit dem Sterben hervortritt, sondern der Kunstpraxis Schlingensiefs grundsätzlich inhärent ist, ob sie "im Horizont der Existenz" (S. 320) stattfindet oder nicht.</p> <p>Ralfs Monographie rekonstruiert einen zutiefst sinnhaft stimmigen Kunstbegriff Schlingensiefs, und kommt ganz ohne jeden Verweis auf Schlingensief als Provokateur aus. Stattdessen nutzt sie die 344 Seiten, um sich theatertheoretisch informiert mit Schlingensief zu befassen, der sich und seine Kunst auch stets vehement ernst genommen hat.</p> <p>Schließen möchte ich in diesem Sinne mit einem glücklich ernsthaften Christoph Schlingensief, der bei der Abschlussveranstaltung seiner <em>Chance 2000</em> Partei zur Bundestagswahl 1998 in der Volksbühne Berlin in der ihm typischen Verbindung von Ironie und Emanzipation mit Relevanz und Dringlichkeit halb fordert, halb singt: "Und wenn Euch morgen einer fragt, warum habt ihr so viel Spaß gehabt, dann sagt ihm, das liegt daran, dass ihr es ernst meint und weil der Ernst ab sofort hart ist und lebensfroh und weil wir es immer ehrlich gemeint haben. Und ich bin oft gefragt worden: Christoph, wo nimmst du nur all diese Kraft her? Und ich habe immer gesagt: Weil ich an die Sache glaube! Weil ich an die Sache glaube, und die Sache bin ich selber! [...] Und du und du und du, und alle sind es selber. Und alle nehmen es ernst: das Leben, das Leben, das Leben." (Böhler 2020, ab 01:08:36)</p> <p><strong>Quellen:</strong></p> <p>Böhler, Bettina: <em>Christoph Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien</em>. Filmgalerie 451 2020.</p> <p>Diez, Georg/Dürr, Anke: "'Tötet Christoph Schlingensief!' Interview mit dem Aktionskünstler über kostenlosen Kaffee, fliegende Autos, Blindheit und Zerstörung". In: <em>KulturSPIEGEL</em> 11/1997, S. 12-15.</p> <p>Schlingensief, Christoph: <em>Ich weiß, ich war's</em>. Hg. v. Aino Laberenz, Köln: Kiepenheuer &amp; Witsch 2012.</p> Sarah Pogoda Copyright (c) 2023 Sarah Pogoda http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7964 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Hermann Schlösser: Welttheater auf engem Raum. Die Entdeckung der internationalen Moderne auf den Wiener Kellerbühnen der Nachkriegszeit. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7954 <p>Die Theaterlandschaft, insbesondere die Kellerbühnen der Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien, stehen im Fokus von Hermann Schlössers <em>Welttheater auf engem Raum</em>, erschienen in der Programmschiene Essay des renommierten Literaturverlag Klever. Der Germanist, Anglist und Feuilleton-Redakteur Hermann Schlösser nähert sich den randständigen, aber doch für diese Jahre und darüber hinaus sehr prägenden Theaterinitiativen in drei Kapiteln.</p> <p>In "I. Kunstgenüsse in Trümmern oder die Last der Geschichte" stellt er den Kontext dar, in dem die verschiedenen Schauspielinitiativen in kleinen Räumlichkeiten bzw. Kellern tätig waren. Erste Abschnitte sind den historischen Gegebenheiten, einem Rückblick auf die NS-Zeit sowie der "Aufklärung von oben: Kulturstadtrat Matjeka" gewidmet. Die "Neuen moralischen Forderungen an die Kunst" werden am Beispiel Gerhart Hauptmanns und dessen Nähe zum NS-Regime abgehandelt, die Stadtrat Viktor Matejka verurteilte. Insgesamt wollte der kommunistische Kulturstadtrat an die Jahre vor 1938 anknüpfen, der Neuanfang wurde als Ergänzung des Wiederaufbaus gesehen. Damit stand Matjeka nicht allein, sondern, wie Schlösser im "Fazit Nr. 1: Keine 'Stunde Null', aber ein Neubeginn" schreibt: "In fast allen 'Lagern' standen die Jahre nach 1945 im Zeichen einer Rückbesinnung auf Gedanken und Konzepte der Zeit vor 1938" (S. 52). Um dann zu ergänzen, dass sich vor allem in den Wiener Kleintheatern Einiges tat, das von Schauspieler*innen sowie Theaterbesucher*innen als neu empfunden wurde, und dass er sich im Rückblick "auf die Suche nach neuen theatralischen Vorstellungen (in des Wortes doppelter Bedeutung) begeben" (S. 53) habe. </p> <p>Im zweiten Kapitel, "Theaterleben in Kellern und anderswo oder die kleinen Freiheiten der Schauspielkunst", wird das Studio der Hochschulen zum Thema, dem der Kulturreferatsleiter Friedrich Langer vorstand und welches seinerseits ein Organ der Österreichischen Demokratischen Studentenschaft war. Das Studio der Hochschulen war bis 1950 höchst aktiv, wenn auch bei hoher Fluktuation der Beteiligten. In diesen Jahren der knappen Essensrationen und ausgebombten Wohnungen bot es einen sozialen Raum und vor allem: Man konnte hier spielen. Schlösser beruft sich auf die Dissertation von Heide Jandl, die die Spielfreude dieser Generation auch damit begründete, dass diese während der Kriegsjahre kaum Gelegenheit für Spiel und Freude gehabt hätte. Als erste Produktion wurde im Studio Hofmannsthals <em>Der Tor und der Tod</em> gebracht, kombiniert mit seinem Einakter <em>Die Frau am Fenster</em>. Danach begann das Ensemble vor allem neue und unterhaltsame Theaterstücke aufzuführen, wenig Platz blieb dabei für Theorien und Konzepte. Als prägend für die ersten Jahre des Studios sind die Schauspielerin und Regisseurin Hilde Weinberger, der Regisseur Michael Kehlmann und der Dramaturg Kurt Hirschfeld zu nennen. Hirschfeld war es auch, der die Studierenden mit den Theateransätzen Bertolt Brechts vertraut machte und sie an neue und moderne Autor*innen heranführte. Ende der 1940er Jahre begann sich der Anspruch des Studios zu ändern, statt wahlloser Spielplanzusammenstellung suchte das Ensemble die Diskussion und aktive Stellungnahme seitens des Publikums.</p> <p>Schlösser beschreibt die "Theaterinflation", die sich von 1946 bis 1950 abzeichnete, und führt eine Liste von 32 Spielstätten an – vom Burgtheater bis zum Theater in Dornbach –, die zeigt, dass auch in den äußeren Bezirken Schauspielinitiativen tätig waren. Natürlich hatten in diesen Jahren auch die Besatzungsmächte Einfluss auf die Theater und auf eine "ästhetische(n) Neuausrichtung des Wiener Publikums" (S. 71). In diesem Zusammenhang wird auf das Neue Theater in der Scala (in der Favoritenstraße) eingegangen, als von der KPÖ und der Sowjetunion gefördert; und auf das Kosmos-Theater (in der Siebensterngasse), das von der amerikanischen Besatzungsmacht konzipiert und betrieben wurde.</p> <p>Die Programmatik des Scala Theaters als einzigem Theater in Wien, das sich mit der NS-Vergangenheit, Widerstand und Kaltem Krieg auseinandersetzte, ist bekannt. 1956, nach Abzug der sowjetischen Truppen, musste das große Haus (1200 Sitzplätze) schließen; die Mitglieder des Ensembles wurden jahrelang aufgrund ihrer angeblich kommunistischen Orientierung diskriminiert. Das für den US-amerikanischen Way of Life werbende Kosmos-Theater bestand von 1950 bis 1954. Es versuchte, dem Vorurteil des vermeintlich kulturlosen und banalen Amerikaners entgegenzuspielen. Populäre Programme, Musicals und anspruchsvolle Theaterkunst - etwa von Thornton Wilder und Eugene O’Neill - wechselten einander ab und kamen beim Publikum gut an.</p> <p>In den ersten Nachkriegsjahren stand der Nachholbedarf an neuer und interessanter Dramatik im Vordergrund der Theaterarbeit, doch erst in den folgenden Jahren begannen die Theaterkünstler*innen sich auch mit den Bereichen Dramaturgie, Theatertheorie sowie mit neuen Autor*innen und Ästhetiken auseinanderzusetzen. Als besonders rege sind in diesem Zusammenhang die Insel (von Kriegsende bis 1951 in der Johannesgasse untergebracht) als ein "Theater der Dichtung" sowie das Studio des Theaters in der Josefstadt zu beschreiben, in dem das Publikum zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder auch mit zeitgenössischen Theaterformen herausgefordert wurde. Im "Fazit Nr. 2: Keine Avantgarde, aber eine Boheme" geht Schlösser besonders auf die Schauspieler*innen, Bühnen- und Kostümbildner*innen sowie Regisseur*innen ein. Er beschreibt sie als junge Menschen, die sich enthusiastisch für ihre Theaterinitiativen einsetzten, aus "Liebe zum Theater" und "Lust am Spielen" (S. 120), wie die Schauspielerin Bibiana Zeller das erinnert. Sie und etwa Helmut Qualtinger, Karl Heinz Böhm, Elfriede Ott und Louise Martini gehörten zu den Schauspieler*innen, die die folgenden Jahrzehnte österreichischer Theater-, Film- und (später auch) Fernsehproduktionen prägten.</p> <p>Im dritten Kapitel "Von Hofmannsthal bis Beckett oder die internationale Moderne auf den Spielplänen der Wiener Kleinbühnen" folgt ein Überblick über die Spielpläne, in dem die Inszenierungen von Theaterstücken amerikanischer, britisch-irischer, französischer, russischer Herkunft belegt werden. Dabei kamen die Kellertheater oft nicht an attraktive Dramen heran, da die Tantiemen zu hoch oder die Texte schon an große Theater vergeben waren.<br />Die Wiederkehr der Moderne, so Schlösser, zeigte sich anfangs in den Aufführungen bereits vor 1938 bekannter bzw. gespielter Theatertexte. Exemplarisch geht er auf ausgewählte Inszenierungen ein, wie Hofmannsthals <em>Der Tor und der Tod</em> und George Bernard Shaws <em>Zu wahr um schön zu sein</em>. Diese Rückgriffe auf bekannte Stücke hatten auch theaterpraktische Gründe, beide Autoren blieben im weiteren Repertoire aber kaum mehr präsent. Anders Thorton Wilder, der "in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu den meistgespielten Theaterautoren Westeuropas" (S. 159) gehörte. Geht es im Einakter <em>Das lange Weihnachtsessen</em> um einen ungewöhnlichen Umgang mit der Zeit, so sprach sein Drama <em>Wir sind noch einmal davongekommen</em> das Publikum sehr unmittelbar an, da es von einer Familie handelt, die von der Eiszeit bis zum Zweiten Weltkrieg alle Katastrophen übersteht. Erfolgreich wurde auch <em>Our Town (Unsere kleine Stadt)</em> inszeniert, nach Peter Szondi ein Theaterstück, das "kühn im Formalen" (S. 163), aber schlicht in der Aussage sei und daher sowohl im Theater in der Josefstadt als auch in dessen Studio aufgeführt wurde.</p> <p>Die vierte Darstellung und Analyse einer Neuaufführung gilt Jean-Paul Sartres <em>Bei geschlossenen Türen</em> (heute meist unter dem Titel <em>Geschlossene Gesellschaft</em> zu sehen). Nach einer Inhaltsanalyse umreißt Schlösser Sartres Ansätze zu Theater und Theorie sowie den Existenzialismus und dessen Anhänger*innen in Wien. Bekannt war der Art Club, der von 1947 bis 1959 in der Kellerbar namens Strohkoffer als Künstler*innentreffpunkt fungierte und in den der Existenzialismus zumindest in Form schwarzer Rollkragenpullover einzog. "Auch die Keller-, Bar- und Nikotin-Atmosphäre der Kleinbühnen war auf Existenzialismus eingestellt. Es wurde geraucht und diskutiert und die Dramen Sartres wurden auch gespielt", so Schlösser (S. 174). <em>Geschlossene Gesellschaft</em> etwa in fünf Inszenierungen, zudem wurden <em>Die Fliegen</em> aufgeführt. <em>Die schmutzigen Hände</em> sollten 1952 im Theater am Parkring inszeniert werden, was der Autor jedoch untersagte, da es ihm im Rahmen des Kalten Krieges zu missverständlich erschien.</p> <p>Samuel Becketts <em>Warten auf Godot</em>, am 8. April 1954 im Theater am Parkring erstmals in Wien gezeigt, wurde mehrmals wiederholt und diskutiert. Die Kritiker*innen reagierten verständnislos auf die Handlungsarmut und Absurdität des Stückes, laut einem der Schauspieler – Otto Schenk – waren die Beteiligten und das Publikum jedoch sehr angetan. Schenk sieht einen gravierenden Vorteil der Kellertheater gegenüber den großen Bühnen: Die absurde Dramatik von Ionesco bis Beckett zu spielen war ein Wagnis, dass nur die kleinen Theater eingingen, was ihr besonderer Verdienst sei.</p> <p>Schlösser schließt seinen Band mit einer Reflexion über die Schwierigkeit, über Theater bzw. gar eine ganze Theaterepoche zu schreiben, und erläutert den Aufbau des Buches und die Wechselwirkungen zwischen den Kapiteln, die auch beim Lesen deutlich hervortreten. Sehr gut gelungen ist der Umgang mit den vielfältigen Quellenmaterialien: Zahlen und Fakten werden genannt und durch Ausschnitte aus Tagebüchern und Gesprächen ergänzt, was zur Lebendigkeit der Darstellung entscheidend beiträgt. Auch geht der Autor auf die vorhandene Forschung bzw. Sekundärliteratur ein, wie etwa die Arbeiten von Evelyn Deutsch-Schreiner und Herbert Lederer; ein Gespräch mit der Dramaturgin Angela Eder (heute Heide), die über die Insel dissertierte, führt er zusätzlich als Quelle an. Zu einzelnen Themengebieten gibt es Literatur, die als Ergänzung interessant wäre, so etwa in Zusammenhang mit Heinz Hilpert der von Gerald M. Bauer und Birgit Peter herausgegebene Band <em>Das Theater in der Josefstadt: Kultur, Politik, Ideologie für Eliten?</em> (Wien 2010).</p> <p>Hermann Schlössers <em>Welttheater auf engem Raum</em> beschreibt die Bedingungen und den Kontext, in dem erste Theatergründungen in Wien nach 1945 einsetzten, zugleich werden die Fülle der Spielstätten und die Spielpläne vorgestellt. Einzelne Ensembles wie das Studio der Hochschulen werden detailliert beschrieben, aber auch auf die Motivation der Schauspieler*innen und das sich erst langsam entwickelnde Bewusstsein über neue Theorien und Ansätze in Dramatik und Theater wird eingegangen. Interessant sind die Abschnitte zu den einzelnen Inszenierungen, ihrer Ästhetik und Rezeption sowie ihren zeitgenössischen Kontexten. Damit bietet Hermann Schlösser einen interessanten und kurzweilig zu lesenden Ein- und Überblick in die Theaterszene der Nachkriegsjahre; beides wurde erstmals unternommen und füllt so ein Forschungsdesiderat.</p> Brigitte Dalinger Copyright (c) 2023 Brigitte Dalinger http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7954 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200 Brandon Woolf: Institutional Theatrics. Performing Arts Policy in Post-Wall Berlin. https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7961 <p>Dass die Berliner Theaterszene und ihre Widersprüche an Anziehungskraft nichts eingebüßt hat und immer noch internationales Interesse erregt, beweist Brandon Woolfs neulich erschienenes Buch <em>Institutional Theatrics</em>. Der Autor beschreibt anhand mehrerer Einzelfallanalysen – von der Schließung des Schillertheaters bis zur Krise um den Intendanzwechsel an der Volksbühne – wichtige Grundtendenzen und Debatten in der Theaterpolitik der deutschen Hauptstadt seit 1989. Die impliziten Adressat*innen dieser Arbeit sind zwar andere englischsprachige, vor allem US-amerikanische, Wissenschaftler*innen aus dem Feld der <em>performance studies</em>, für die allein die Idee einer breiten öffentlichen Förderung der darstellenden Künste und die daraus resultierenden Diskussionen um die Umstrukturierung der Berliner Theaterinstitutionen seit mehr als 30 Jahren unheimlich klingen können. Dennoch bildet Woolfs Monografie – vielleicht gerade dank dieser externen Perspektive – einen gewichtigen Beitrag zu einer Reflexion über die Beziehungen zwischen Theater und Institution, die heute auch die deutschsprachige Theaterwissenschaft prägt.</p> <p>Die Studie gliedert sich in zwei Teile ("State-stage" und "Free scene"), die jeweils zwei Kapitel beinhalten, mit Beispielen aus den letzten 30 Jahren – einem Zeitalter von "precarious adjustment" (S. 10). In Einleitung und Nachwort behandelt der Autor als zeitgenössischen Angelpunkt die öffentliche Kontroverse um den Leitungswechsel an der Volksbühne und ihre komplexe Konflikthaftigkeit: Das Ende der Castorf-Ära und Dercons Ernennung werden von dessen Gegnern als Zeichen einer Neoliberalisierung der Berliner Theaterszene gelesen und der Rücktritt des neuen Intendanten nach nur sieben Monaten Amtszeit als Sieg im Kampf gegen die Gefährdung der bestehenden Theaterinfrastruktur durch aggressives Stadtmarketing. Dieser Fall erweist sich allerdings als die letzte vieler Kontroversen, die die Berliner Theaterpolitik seit dem Fall der Berliner Mauer beschäftigt haben. Woolfs Buch kann daher als Genealogie heutiger Konflikte im Theaterbereich – insbesondere zwischen den Staats- und Stadttheatern und der Freien Szene – im Kontext einer wachsenden Neoliberalisierung in der Steuerung darstellender Künste interpretiert werden.</p> <p>Um diesen Wechselbeziehungen zwischen Theater und Theaterpolitik und der möglichen Rolle einzelner künstlerischer Initiativen in solchen Prozessen gerecht zu werden, schlägt der Autor vor, den Begriff von Kulturpolitik – "cultural policy" – neu zu interpretieren. Er rekurriert dabei auf von Shannon Jackson und Christopher Balme formulierte Forderungen nach einer besseren Eingliederung institutioneller Faktoren in die Analyse von Performances und Theateraufführungen (vgl. Jackson 2011; Balme 2019). In einer kritischen Auseinandersetzung mit Thesen von Theodor W. Adorno, Tony Bennett, Toby Miller, George Yúdice und Judith Butler formuliert Woolf seine Hauptthese: Eine bessere Berücksichtigung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Theaterarbeit erlaube, zu beobachten, wie Akteur*innen aus der Theaterwelt durch einzelne Theateraufführungen oder andere performative Interventionen auch "cultural policy" betreiben, indem sie ihre eigene Beziehung zu den Institutionen, in denen sie gefangen sind, reflektieren oder kritisch hinterfragen können. Oder anders gesagt: "cultural policy must be thought of as a performative practice of infrastructural imagining, not just as an administrative agenda for divvying and delegating funds" (S. 8). Diese Neubehandlung des Kulturpolitik-Begriffs erweitert daher die Analyse kulturpolitischer Phänomene auf ästhetische Strategien von einzelnen Künstler*innen oder Theatergruppen, die Woolf nach Adorno als Strategien der Negation definiert, die die Form eines "disavowal", eines steten Spiels zwischen der Bekenntnis und der Verleugnung der Institution und der politischen Produktionsbedingungen jedes künstlerischen Schaffens nimmt, denn "understanding performance as itself a form of policy can help us understand the ways artists engage systems of state support as the means of enacting their undoing" (S. 8). Was das konkret bedeuten kann, wird in den einzelnen Kapiteln erläutert.</p> <p>Eingangs greift der Autor die ersten Auswirkungen der Wiedervereinigung Berlins mit einer Analyse des Konflikts um die Schließung des Schillertheaters auf. Er verfolgt dabei sehr genau den Verlauf der Ereignisse, die Motivationen der beteiligten Akteur*innen – vom Berliner Senat unter der damaligen Großen Koalition bis zu den Protestierenden – und deren Handlungsrepertoires und Argumente. Insbesondere wird gezeigt, wie die Schließung des bedeutendsten Staatstheaters der deutschen Hauptstadt nicht nur zu einer unilateralen Unterstützung der Institution Staatstheater im Kontext neoliberaler Sparpolitik geführt hat, sondern auch manchmal zur Infragestellung des institutionellen Rahmens des Ensemble- und Repertoirebetrieb-Modells durch die Vertreter dieser Institution selbst (z. B. August Everding, den damaligen Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins).</p> <p>Das zweite Kapitel wirft die Frage auf, wie diese Diskussion um die Situation der Staats- und Stadttheater innerhalb der Institution kritisch aufgegriffen werden kann, und zwar anhand des paradigmatischen Beispiels der Volksbühne unter Frank Castorfs Intendanz. Durch die Analyse von <em>Lehrstück,</em> der Inszenierung von Brechts <em>Badener Lehrstück vom Einverständnis</em> aus dem Jahr 2010, veranschaulicht der Autor, dass die Identität des Theaters vor allem als künstlerische Strategie der ständigen Selbstkritik und Kritik an der Institution aus dem Standpunkt der Institution selbst zu kennzeichnen ist. In der Aufführung greift Castorf auf Brechts ambivalente Theorisierungen des Lehrstücks zurück, um seine auktoriale Position umso besser zu hinterfragen. Während Castorfs Volksbühne als Paradigma eines selbstkritischen Staatstheaterapparats dargestellt wird, widmet sich der zweite Teil der Publikation der Situation der Freien Szene und ihren manchmal widersprüchlichen Unabhängigkeitsbestrebungen.</p> <p>Das dritte Kapitel weicht am meisten von der Grundthematik des Buches ab. Woolf berichtet von dem Projekt <em>Volkspalast</em> (2004) – der Name steht für die Zwischennutzung des Palasts der Republik durch Vertreter*innen der Freien Szene, bevor dieser endgültig abgerissen wurde. In Anlehnung an Jacques Derridas <em>hauntology</em>-Begriff (vgl. Derrida 2003) zeigt der Autor, wie die unterschiedlichen Aktionen des Projekts, das aus öffentlichen Diskussionen, imaginären Raumgestaltungsplänen und Theateraufführungen bestand, die falsche Alternative der Debatte um die Zukunft des Gebäudes überwanden, zwischen einer auf das Symbol der DDR fixierte Ostalgie und einer reaktionären und amnestischen Wiederbelebung des Berliner Schlosses. Durch eine behauptete Strategie der Zwischennutzung und des prekären und vergänglichen Labors ist es den beteiligten Künstler*innen – v. a. raumlabor berlin und Peanutz Architekten – gelungen, in die Gedächtnispolitik der Stadt einzugreifen, um Spuren der Vergangenheit im urbanen Raum anders zu behandeln.</p> <p>Im letzten Kapitel beschäftigt sich Woolf gezielt mit der Situation der Freien Szene, der Kritik freier Theaterschaffenden an der Berliner Kulturpolitik und am Modell des Staatstheaters sowie der aufkommenden Frage nach der angeblichen Beteiligung der Freien Szene an ihrer Selbstausbeutung durch die Annahme neoliberalisierter Produktionsweisen. andcompany&amp;Cos <em>(Coming) Insurrection</em> aus dem Jahr 2013, das u. a. am HAU aufgeführt wurde, wird hier zum Anlass einer dialektischen Behandlung dieser Debatten. In der Aufführung werden Schillers <em>Don Carlos</em> und der französische aktivistische Essay <em>Der kommende Aufstand</em> mit Reflexionen zur miserablen Lage freier Theaterschaffenden in Deutschland und in den Niederlanden verflochten, um die heutige infrastrukturelle und politische Notsituation der Freien Szene ans Licht zu bringen. Alexander Karschnias Ziel besteht aber nicht darin, das finanziell besser gestellte Model der Staats- und Stadttheater den Unabhängigkeitsbestrebungen der Freien Szene gegenüberzustellen – das Projekt wird sowieso vom Oldenburgischen Staatstheater koproduziert. Vielmehr benutzt er den Theaterraum als Ort kritischer Selbstreflexion und Erprobung alternativer Freiräume.</p> <p>Eine große Qualität von Brandon Woolfs Monografie besteht in seiner Fähigkeit, in den einzelnen Kapiteln präzise Aufführungsanalysen mit der Analyse ihres breiteren infrastrukturellen Rahmens zu verknüpfen. Jedoch möchte ich hier zum Schluss zwei kritische Fragen aufwerfen. Zunächst bleiben Woolfs methodologische Entscheidungen oft unklar, insbesondere was den Gebrauch der Quellen angeht: Die einzelnen Kapitel oszillieren zwischen der Analyse von Dokumenten, Zeitungsartikeln, Videoaufnahmen von Aufführungen oder Interviews (z. B. mit Alexander Karschnia), ohne dass dieser vage Pluralismus in der Arbeit wirklich reflektiert wird. Dies lässt sich vielleicht durch die Entscheidung erklären, nicht an sozialwissenschaftliche Methoden anzuknüpfen, wie es in der deutschen Theaterwissenschaft oft der Fall ist. Problematischer scheint mir die Behandlung der feministischen, antirassistischen oder postmigrantischen Kritik an den Theaterinstitutionen, die nur am Rande im Nachwort der Studie als ziemlich neue Phänomene erwähnt werden. Es fehlt eine langjährigere Berücksichtigung dieser Debatten, die einen Platz im Buch selbst verdient hätten, wenn sich Woolf nicht nur auf Schlaglichterinstitutionen (wie das HAU für die Freie Szene) konzentriert hätte: Nur Shermin Langhoffs Maxim Gorki Theater wird zitiert, ohne ihre vorherige Erfahrung am Ballhaus Naunynstrasse zu erwähnen. Trotzdem bleibt Brandon Woolfs <em>Institutional theatrics</em> ein wichtiger Beitrag zum Verhältnis zwischen Theater und Institutionen, der sicherlich auch viele deutschsprachige Wissenschaftler*innen interessieren wird.</p> <p><strong>Literatur:</strong></p> <p>Balme, Christopher: "Institutional Aesthetics and the Crisis of Leadership". In: <em>The Routledge Companion to Theatre and Politics</em>. Hg. v. Peter Eckersall/Helena Grehan, New York: Routledge 2019, S. 169-172.</p> <p>Derrida, Jacques: <em>Marx' "Gespenster". Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale</em> [<em>Spectres de Marx</em>, 2003]. Übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.</p> <p>Jackson, Shannon: <em>Social Works. Performing Art, Supporting Publics</em>. New York: Routledge 2011.</p> Corentin Jan Copyright (c) 2023 Jan Corentin http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/7961 Wed, 10 May 2023 00:00:00 +0200