Thilo Hagendorff: Das Ende der Informationskontrolle. Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz.

Bielefeld: transcript 2017. ISBN: 978-3-8376-3777-9. 264 S., Preis: € 29,99.

Autor/innen

  • Andreas Beinsteiner

Abstract

Das sogenannte 'privacy paradox' besteht darin, dass Privatsphäre und Datenschutz zwar in der Theorie für wertvoll und notwendig gehalten werden, im tatsächlichen Nutzungsverhalten der User z. B. von Web 2.0-Anwendungen jedoch kaum eine Rolle spielen. Diese Diskrepanz hat bereits eine Reihe an wissenschaftlichen Arbeiten sowie pädagogischen Bemühungen generiert. Thilo Hagendorffs Buch Das Ende der Informationskontrolle. Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz beansprucht, eine Alternative zu normativ aufgeladenen Diskursen um den Verlust der Privatsphäre zu bieten. Nicht moralisieren will es, sondern über die "Aufdeckung von Reflexionsdefiziten" zu einer "Pragmatik resilienter Mediennutzung unter den Bedingungen des informationellen Kontrollverlusts in modernen Gesellschaften" (S. 10f) gelangen, die der Lebenswelt privater Endanwender gerecht wird.

Unter informationellem Kontrollverlust versteht Hagendorff das Kollabieren von bislang getrennt gehaltenen Informationskontexten aufgrund der voranschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche. Sein deklarierter Fokus liegt dabei auf "publikumsbezogenen Kontextverletzungen" (S. 29), also auf Fällen, in denen personenbezogene Informationen für verschiedene, potenziell unerwünschte Empfängerkreise zugänglich werden. Wenn etwa ein Urteil eines Richters aufgehoben wird aufgrund eines Fotos, das dieser bei Facebook gepostet hat, wenn die geheim gehaltene Homosexualität einer jungen Frau vor Familie und Freunden enthüllt wird, weil sie Facebooks Algorithmus ungefragt zu einer Queer-Diskussionsgruppe hinzufügt, oder wenn russische Pornodarstellerinnen über eine Gesichtserkennungs-App deanonymisiert und geoutet werden, haben wir es mit derartigen publikumsbezogenen Kontextverletzungen zu tun. Mit diesem Schwerpunkt auf Effekten, die informationelle Kontrollverluste in der Öffentlichkeit zeitigen, wird die im Buch behandelte Problematik jedoch in einer Weise beschränkt, die wesentliche Aspekte – nämlich insbesondere die Implikationen der Datenaggregation und -analyse, sofern diese nicht mit der Veröffentlichung intimer Details einhergehen – nicht in den Blick nimmt. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Seine Auffassung von Informationskontexten entnimmt Hagendorff soziologischen Rollentheorien Goffman'scher Prägung: Es wird nicht von einer kohärenten personalen Identität ausgegangen, sondern von verschiedenen und teils widersprüchlichen Rollen, die Menschen innerhalb unterschiedlicher sozialer Kontexte annehmen. Damit es zu keinen Rollenkonflikten kommt, müssen diese Kontexte voneinander getrennt gehalten werden und somit auch jeweils isolierte Informationskontexte bilden. Ein genuines Spezifikum digitaler Medien sieht Hagendorff darin, dass diese 'nicht' imstande sind, Kontexttreue zu gewährleisten und somit stets die Gefahr einer Perforierung von Informationskontexten bergen. Medientechnischer Fortschritt ist nämlich gleichbedeutend mit der Abnahme dessen, was Luciano Floridi als 'ontological friction' bezeichnet: jener Widerstände, die der reibungslosen Verbreitung von Informationen im Wege stehen.

Hierin besteht die technische Grundlage einer Auflösung von Kontexten, die von verschiedenen Akteuren vorangetrieben wird: in massivem Ausmaß – wie spätestens seit Edward Snowdens Enthüllungen allgemein bekannt ist – von Geheimdiensten, aber auch von Data Brokern, die personenbezogene Informationen aus verschiedenen Quellen zusammenführen und gewerblich nutzen, sowie von Hackern, die Sicherheitslücken von Technologien ausnutzen, um Daten abzugreifen. Die Vulnerabilität der Netze steigt in dem Maße, in dem ihre Komplexität, Interkonnektivität und -operabilität zunehmen. Strategien, den Widerstand der Informationsflüsse wieder zu erhöhen (etwa Regulierungsbestrebungen, Kryptographie oder die – am Back-End ohnehin wirkungslosen – Privatsphäreneinstellungen von Social-Media-Plattformen), kämpfen gegen die inhärente Logik digitaler Informationsinfrastrukturen an und stehen damit gewissermaßen auf verlorenem Posten. Technologieunternehmen fungieren als Taktgeber einer sich immer rascher beschleunigenden technischen Entwicklung, die Politik und Recht nicht mehr regulierend einzuholen vermögen. Eine Abkehr vom Trend zu immer weitreichender Verdatung sämtlicher Lebensbereiche ist auch unwahrscheinlich aufgrund der Abhängigkeit, die sich vom zu einer "kritische[n] Infrastruktur" (S. 113) gewordenen Internet gebildet hat: Soziale Gravitation und Lock-In-Effekte binden die User an dominante Plattformen.

Und dies, obwohl die Vernetzung mit informationeller Selbstbestimmung völlig unvereinbar geworden ist: "Strategien für den informationellen Kontrollverlust zu entwickeln bedeutet, zu wissen, dass Informationen oder Handlungen, welche tatsächlich geheim bleiben müssen, in radikal analogen Räumen lokalisiert werden müssen. Sobald sie in die Reichweite oder den Speicher vernetzter, sensorbewehrter informationstechnischer Systeme geraten und 'verdatet' werden, sind sie unmittelbar dem Risiko ausgesetzt, sich unkontrolliert zu verbreiten" (S. 9). Partielle Entnetzung stellt in diesem Sinne eine Resilienzstrategie dar, die durchaus auch praktiziert wird, für den einzelnen (Nicht-)Nutzer aber mit lebenspraktischen Nachteilen verbunden ist. Wer diese nicht in Kauf zu nehmen bereit ist, ist unvermeidlich dem permanenten Risiko informationeller Kontrollverluste ausgesetzt.

Man könnte auf unterschiedliche Weise versuchen, mit diesem eindringlich dargestellten Konflikt zwischen Datenschutz und Digitalisierung umzugehen. So präsentiert Hagendorff Verschlüsselungstechnologie als Ansatz, der durchaus in der Lage ist, informationellen Kontrollverlusten in gewissem Maße vorzubeugen – daraus ließen sich für eine Pragmatik resilienter Mediennutzung hilfreiche Schlüsse ziehen. Man könnte auch die unhinterfragte Dominanz vor proprietärer und intransparenter Software, von Cloud Computing und Software as a Service problematisieren, die im Buch als relevante Faktoren für den informationellen Kontrollverlust identifiziert werden. Man könnte Hagendorffs Beobachtung vertiefen, dass der Großteil unserer digitalen Kommunikations­infrastrukturen von einer kleinen Elite designed und kontrolliert wird, deren Status nur selten als legitimationsbedürftig begriffen wird. Man könnte die im Rahmen dieses Buches weitgehend ausgesparte ökonomische Dimension – etwa die dominanten Geschäftsmodelle, über die die meisten digitalen Plattformen funktionieren – einholen. Hagendorff jedoch positioniert sich anders: Nicht nur sei das Ende der Privatsphäre unausweichlich, sondern auch gar nicht so schlimm und sogar eine Chance.

Privatheit sei nämlich bestenfalls ambivalent, insofern in ihrem Schutz z. B. auch häusliche Gewalt stattfinden könne. Überhaupt stecke hinter dem Ruf nach Privatsphäre "in bestimmten Fällen" nichts anderes als der Wunsch, eingespielte Normverstöße weiterhin unsanktioniert vollziehen zu können (S. 139). Hagendorff sieht zwar die Machtasymmetrie zwischen gläsernen Usern und völlig intransparenten transnationalen Plattformanbietern, bevorzugt allerdings gegenüber der informationellen Selbstbestimmung schwächerer Akteure dennoch "eine generelle Anhebung von Transparenzniveaus", insofern nur so dem "Problem" beizukommen sei, dass gesellschaftlich relevante Informationen zurückgehalten werden können (S. 185). Totalüberwachung brauche nicht verdammt zu werden, weil sie selbst gar nicht freiheitseinschränkend wirke, sondern bloß die auf ihr basierenden Sanktionen. Diese sollten deshalb einfach auf gesellschaftlich schädliche Normüberschreitungen (wer beurteilt das?) beschränkt bleiben. Unproblematische Normabweichungen hingegen sollten lustvoll und selbstbewusst zur Schau gestellt werden, um Emanzipationsbewegungen Vorschub zu leisten.

Post-Privacy wird so zur Möglichkeitsbedingung für eine politische Aushandlung von gesellschaftlich Verdrängtem und Tabuisiertem stilisiert: Eine Gesellschaft, die ohne "Verschleierung, Verheimlichung und Verdunklung" auskommt, würde sich "als freiheitlicher erweisen" als eine, die um "den Erhalt der Privatheit […] kämpft, welcher letztlich dazu führt, dass eingewöhnte Normverletzungen nicht weiter der Diskussion unterzogen werden" (S. 147). Einer der wenigen antizipierten Einwände, nämlich die Verfolgung von Aktivisten in Diktaturen, wird vom Tisch gewischt; hierbei handle es sich um "kein Argument gegen Transparenz, sondern gegen Machtmissbrauch, Ungerechtigkeit, Gewalt et cetera" (S. 185).

Vor dem Hintergrund der deklarierten Ansprüche des Buches kann man fragen, ob der verfolgte Aktivist die selbstbewusste Kritik an der Regimegewalt unter Preisgabe aller Privatheit wohl für eine pragmatische oder resiliente Strategie halten würde. Oder ob Hagendorffs "Forderung nach einer toleranzstarken Öffentlichkeit" (S. 136) angesichts von Shitstorms und Hasspostings weniger kontrafaktisch ist als ein Festhalten an Datenschutz und Privatsphäre. Auch das anderweitig beanstandete Moralisieren kommt nicht zu kurz, obgleich an unvermuteten Stellen: Wenn beispielsweise Uber aus Fahrtdaten potentielle One-Night-Stands seiner Kunden errechnet, beklagt Hagendorff, dass die öffentliche Debatte dazu sich auf Datenschutzverletzungen kapriziere, anstatt den "Betrug des Lebenspartners" zu diskutieren, der hier mutmaßlich in vielen Fällen vonstatten gehe (S. 142). Und auch Reflexionsdefizite ließen sich aufdecken, etwa im Postulat, einheitliche Versicherungstarife (die der Autor als Folge des bisherigen Mangels an umfassendem Aktivitätstracking fasst) würden Gesundheitsbewusste diskriminieren (vgl. S. 140).

Dass der Verlust der Privatsphäre harmlos und sogar wünschenswert sei, vermag so schon in dem von Hagendorff explizit adressierten Bereich publikumsbezogener Kontextverletzungen nicht zu überzeugen. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass die darüber weit hinausreichenden Implikationen des informationellen Kontrollverlustes nicht in Rechnung gestellt werden. So hat etwa Shoshana Zuboff (in einem von Hagendorff sogar zitierten Paper) die Emergenz einer neuen Form von Kapitalismus konstatiert, in der nicht mehr Produktionsmittel, sondern überwachungsdatenbasierte Verhaltensmodifikationsmittel die zentralen Ressourcen sind. Demokratie wird jedoch obsolet, wenn der zahlungskräftigste Akteur die gewünschte Wahlentscheidung einfach kaufen kann. Diese Problematik, angesichts derer wohl einige von Hagendorffs Thesen einer Revision zu unterziehen wären, wird nicht einmal gestreift.

Insgesamt bietet das Buch einen anregenden Überblick über diverse Konzepte und Problemfelder, die den informationellen Kontrollverlust tangieren, sowie eine Vielzahl anschaulicher Beispiele. Seine Stärke liegt vor allem darin, dass es den Leser in aller Deutlichkeit mit der Unvereinbarkeit von Digitalisierung in der Form, in der sie derzeit vorangetrieben wird, mit tradierten Vorstellungen von Datenschutz und Privatsphäre konfrontiert und die daraus resultierenden Aporien aufzeigt. Dass man nach Lektüre geneigt sein wird, die Erosion des Datenschutzes als gesellschaftlichen Fortschritt zu begrüßen, darf jedoch bezweifelt werden.

Autor/innen-Biografie

Andreas Beinsteiner

Philosoph und Informatiker, unterrichtet an den Universitäten Innsbruck und Wien. Er promovierte 2017 mit einer medienphilosophischen Rekonstruktion des Denkens von Martin Heidegger und befasst sich derzeit insbesondere mit Fragen der Macht und Subjektivierung im (Post-)Digitalen.

Aktuelle Publikationen:

Andreas Beinsteiner: "Cyborg agency. The technological self-production of the (post-)human and the anti-hermeneutic trajectory". In: Utopia Inverted: Günther Anders, Technology and the Social. Hg. v. David Mellor/Christopher J. Müller. Sondernummer von Thesis 11, 2019, S. 113-133. Online abrufbar unter: https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/0725513619863855.

-:  "Matrize und Gerede: Potentiale der Kritik medialer Öffentlichkeit bei Anders und Heidegger im Spannungsfeld von Postfundamentalismus und neuem Realismus". In: Behemoth. A Journal on Civilization 10/2, 2018, S. 40-55. Online abrufbar unter
https://ojs.ub.uni-freiburg.de/behemoth/article/view/978/946.

-: "Ist der Posthumanismus ein Humanismus?". In: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie. Bd. 5 Praxis und Medialität, erscheint 2019.

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Veröffentlicht

2019-11-19

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Medien