Nacim Ghanbari/Isabell Otto/Samantha Schramm/Tristan Thielmann (Hg.): Kollaboration. Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit.

Paderborn: Fink 2018. ISBN: 978-3-7705-5840-7. 284 S., 44 s/w Abb., Preis: € 49,90.

Autor/innen

  • Serjoscha Wiemer

Abstract

Das von Nacim Ghanbari, Isabell Otto, Samantha Schramm und Tristan Thielmann herausgegebene Buch Kollaboration bildet eine Vielfalt aktueller medienwissenschaftlicher Forschung (mit geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Prägung) ab und ist ein Beleg für die Stärke gegenwärtiger Medienwissenschaft, Anlässe und Begriffe für interdisziplinäre Arbeiten zu stiften. Geleistet werden in diesem Sammelband die Umschreibung und Exploration eines weit gefassten Forschungs- und Arbeitsfeldes. Dieses Buch ist selbst – wie könnte es anders sein – ein Ergebnis von Kollaboration unter Beteiligung verschiedener Netzwerke. Konzipiert wurde der Band im Rahmen des DFG-Netzwerks "Medien der kollektiven Intelligenz" (2011–2014), erweitert um Beiträger*innen aus dem Kreis der Konstanzer Forschungsgruppe "Mediale Teilhabe" und des Siegener Sonderforschungsbereichs "Medien der Kollaboration".

Insgesamt enthält Kollaboration elf verschiedene Artikel und eine kurz gefasste Einleitung. Gruppiert sind die Beiträge unter drei thematischen Überschriften: "Künste der Kollaboration", "Soziotechniken der Kollaboration" und "Versprechungen der Kollaboration". Die vier Herausgeber*innen sind zugleich als Autor*innen im Band vertreten: Samantha Schramm beleuchtet in ihrem Beitrag Facetten verteilter Autorschaft in der Fernseh- und Videokunst. Isabell Otto entwirft eine medienhistorische Interpretation des oN-Line Systems NLS des Computerpioniers Douglas Engelbart, das als Baustein einer Computergeschichte der vernetzten Kollaboration gewürdigt wird. Tristan Thielmann rekonstruiert, ebenfalls medienhistorisch ausgerichtet, die Geschichte der Fotofahrtenführer. Und Nacim Ghanbari spürt in seinem Beitrag Aspekten kollaborativer Schreibpraktiken des 18. Jahrhunderts nach, am Beispiel von Gottfried August Bürgers Ballade Lenore.

Die Frage nach den Medien der Kollaboration und ein prozessorientierter Begriff von Kollaboration spannen den theoretischen Rahmen für die im Band verhandelten Fragestellungen und vorgelegten Untersuchungen. Zugespitzt wird das Verhältnis von Medien und Kollaboration in einer grundlegend medienwissenschaftlichen These: Medien entstehen durch Kollaboration (mediengenetische und medienhistorische Dimension der Kollaboration) und Medien ermöglichen und steuern Vorgänge von Kollaboration (konstitutive und regulierende Dimension von Medien). Viele der Beiträge heben zudem hervor, dass Kollaboration nicht nur als eine Praxis 'menschlicher' Arbeit, sondern als Zusammentreffen von Mensch und (Medien-)Technik zu verstehen sei. Die Theorieschule der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und die Texte von Bruno Latour werden wiederholt herangezogen, um hybride Konstellationen im wechselseitigen Verfertigen von Vorgängen zwischen Menschen und Medienapparaten zu benennen. Tristan Thielmann gibt dieser Orientierung am Ansatz der ANT eine aus medienwissenschaftlicher Perspektive gelungene theoretische Wendung und skizziert im Anschluss an eigene frühere Arbeiten eine "Akteur-Medien-Theorie" (S. 151). 

Eine Stärke des Bandes insgesamt liegt in der Vielfalt der Beiträge, die eine beachtliche Breite an Gegenständen behandeln und mit unterschiedlichen methodischen und theoretischen Ansätzen operieren. Neben Film (Michael Lommel), Fotografie (Fotofahrtenbücher, Thielmann) Video und Fernsehen (Schramm), Literatur und kollaborativer Schreibpraxis (Ghanbari), Sprache und Sprechakttheorie (Erhard Schüttpelz) werden insbesondere auch die Gegenwart sozialer Netzmedien und die sich dort real oder als Versprechen konstituierenden Paare, Communities, Gemeinschaften und Kollektive untersucht. Die Autor*innen erforschen die Kollaboration bei Dating-Apps (Teresa Opper), diskutieren die Rolle des Internets für Protestbewegungen (Sebastian Haunss), erkunden die Praxis von Drohnen-Communities (Hendrik Bender) und das Versprechen von Fitness-Gemeinschaften (Nikola Plohr) oder beleuchten kollaboratives Tagging als Wissenstechnik (Erika Linz).

Die Fülle der untersuchten Gegenstände ergibt ein bruchstückhaftes, ein vielleicht im Ansatz kaleidoskopisches Bild von 'Kollaboration'. Gleichwohl spinnen sich für den*die Leser*in feine Fäden der Assoziation und es entstehen gedankliche Kraftfelder, die einen unterschwelligen Dialog zwischen den verschiedenen Positionen wahrnehmbar werden lassen. Dazu gehört das Thema der Gemeinschaft und des Kollektivs, das wie eine Art Generalbass den*die Leser*in durch den Band trägt. Da gibt es die verstreuten Gemeinschaften, die miteinander Wissen schaffen, ohne dass ihre Mitglieder ein gemeinsames Ziel verfolgen oder sich persönlich kennenlernen, wie in der Praxis des kollaborativen Tagging (Erika Linz); die politischen Bewegungen, die sich vielleicht durch Austausch im Netz verstärkt mobilisieren oder vielleicht auf neue Weise bilden können, um eine politische Veränderung zu bewirken (Sebastian Haunss); das Versprechen einer Fitness-Gemeinschaft von Smartphone-Athlet*innen, die ihren Körper trainieren, und im Workout ein "Mit-Sein" (S. 278) erproben, das auf "App-basierten Strukturen der Mit-teilung" (S. 278) basiert. Und im Beitrag von Isabell Otto changiert das vernetzte Arbeiten zwischen Kontrollgesellschaft und Disziplinierung, durch das – nicht nur beiläufig – eine "Gemeinschaft von Forschenden" (Warnke, zit. n. Otto S. 224) angerufen wird, auf deren Herstellung Praktiken der Computervernetzung zielen.

Das Verhältnis von Kollaboration und Gemeinschaft, so zeigen die Beiträge des Bandes, ist von Zweifel, Aufschub, Versprechungen und Enttäuschungen geprägt. Kollaboration ist keine Praxis, die Gemeinschaft herstellt, sondern kann, wie es die Herausgeber*innen in der Einleitung formulieren, als "Umgang mit Vielheiten" (S. 14) gedacht werden. Kollaborative Praktiken können an der Herstellung der medialen Möglichkeitsbedingungen von Gemeinschaft mitwirken.

Ohne dass der Band es so ausdrückt, lassen sich zwischen den Zeilen der verschiedenen Beiträge Bruchstücke einer Auseinandersetzung mit einer (nicht eingelösten) Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Verbindung und Verbindlichkeit auffinden. Und ist vielleicht in gewisser Weise das Medium des 'Sammelbandes' selbst auch der Ausdruck einer Sehnsucht nach einer "Gemeinschaft von Forschenden" (S. 224)?

Durchaus originell ist die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Kollaboration und Kooperation. Während Kooperation immer von einem "identifizierbaren Gegenüber" (S. 14) ausgehe, sei Kollaboration geprägt durch "den Umgang mit Vielheiten", wenn beispielsweise ganz "unterschiedliche Entitäten und Datensätze miteinander in Verbindung treten" (S. 14). Als produktiv erweist sich zudem, wie der Begriff der Kollaboration verwendet wird, um eine Art interdisziplinäre Klammer zu schaffen, zwischen den verschiedenen im Band vertretenen Disziplinen, von der Soziologie bis zu Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaft, und zwischen so verschiedenen Forschungsgenständen wie literarischer Schreibpraxis, Dating-Apps, Computergeschichte, sozialen Bewegungen oder Drohnen-Communities.

Wer Kollaboration als 'Zusammenarbeit' versteht, und damit als besondere Form von 'Arbeit', den muss allerdings verwundern, dass im Band kaum jemals explizite Bezüge zu Arbeitswissenschaft, zur Ökonomie oder zu Arbeits- und Organisationssoziologie hergestellt werden. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung zum Begriff oder zur Theoriegeschichte von 'Arbeit' ist weitgehend abwesend, eine Art blinder Fleck. Dies ist bedauerlich, insofern der Band insgesamt durchaus als Beitrag zu einer Kultur- und Theoriegeschichte der Arbeit aufgefasst werden kann. Es ist zu hoffen, dass es eine Fortführung der im Band versammelten Forschungen gibt, und dass damit auch eine Klärung des Verhältnisses von Kollaboration zu 'Arbeit' weiter vorankommt.

Für wen ist dieses Buch geeignet oder empfehlenswert? Wer eine Übersicht oder eine systematische Auseinandersetzung mit Begriff und Geschichte von Kollaboration sucht, wird in diesem Band nicht fündig. Der Band bietet keine Einführung in die Medientheorie oder Kulturgeschichte der Zusammenarbeit und enthält keine systematische Übersicht über bestehende Theorien und Forschungen zum Thema. Für Studierende, die eine einführende Lektüre in das Thema suchen, würde ich das Buch daher nicht uneingeschränkt empfehlen.

Wer allerdings einen Einblick in aktuelle medienkulturwissenschaftliche Forschung sucht, dem bietet der Band eine anregend-herausfordernde Breite an Themen und Ansätzen. Angesichts der bunten Vielfalt an Methoden und Gegenständen muss der 'innere Zusammenhang' zwischen den Beiträgen durch die Leser*innen selbst erarbeitet werden. Die mediale Praxis des Lesens, so ließe sich am Ende behaupten, ist in sich als ein kollaborativer Prozess vorstellbar, und solcherart Mit-Denken verlangt der Band seinen Rezipient*innen ab. Die Lektüre stellt sich als ein herausfordernder 'Umgang mit Vielheiten' dar, der nicht zuletzt angesichts der hohen Qualität einzelner Beiträge neugierig macht auf mehr.

Autor/innen-Biografie

Serjoscha Wiemer

Akademischer Oberrat für Digitale Medien/Mobile Media am Institut für Medienwissenschaften an der Universität Paderborn und (gemeinsam mit Bernd Bösel) Sprecher der AG Affective Media Technologies.

Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Geschichtlichkeit von Wahrnehmung, Affekttheorie, Game Studies & algorithmischen Medien. Homepage: https://www.serjoscha.net

Aktuelle Publikationen

Serjoscha Wiemer: "Der Schachtürke. Puppe, Black Box, Automatenphantasie". In: WEFT 5. 2018 S. 73–81. (Online. http://groups.uni-paderborn.de/weft/magazin.html).

–: "Zeit. Ein Schlüsselbegriff für die Computerspielforschung". In: Game Studies. Hrsg. v. Benjamin Beil/Thomas Hensel/Andreas Rauscher. Wiesbaden: Springer 2017, S. 27–45.

–: "Videospiele als Zeitkristallisationsmaschinen. Aspekte einer temporalen Bildtheorie". In: Bildverstehen. Spielarten und Ausprägungen der Verarbeitung multimodaler Bildmedien. Hrsg. v. Lars Grabbe/Patrick Rupert-Kruse/Norbert Schmitz. Darmstadt: Büchner 2017, S. 136–161.

–: "Von der Matrix zum Milieu. Zur Transformation des Entscheidungsbegriffs zwischen homo oeconomicus und evolutionärer Auslese". In: Medien der Entscheidung. Hrsg. v. Tobias Conradi/Florian Hoof/ Rolf F. Nohr. Münster u. a.: Lit 2016, S. 23–46.

–: "Niemandes Spiel? Zur Aufteilung des Spielbegriffs oder: Die Schwierigkeit, die spielende Maschine zu denken". In: Denkweisen des Spiels. Hrsg. v. Astrid Deuber-Mankowsky/Reinhold Görling. Wien u. a.: Turia + Kant 2016, S. 155–170.

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Veröffentlicht

2019-05-15

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Medien

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