Maximilian Haas: Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance.

Berlin: Kadmos 2018. ISBN 978-3-86599-395-3. 334 S., 38 Abb., Preis: € 26,90.

Autor/innen

  • Julian Jochmaring

Abstract

"Alle reden von künstlerischer Forschung – doch kaum jemand hat dazu konkrete künstlerische oder gestalterische Arbeiten oder gar Werke im Kopf" heißt es in der Ankündigung eines im Sommerse­mester 2019 als Kooperationsveranstaltung der UdK Berlin und der Kunsthochschule Weißensee angebotenen Blockseminars.[1] Mit Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance begegnet Maximilian Haas dieser Diagnose mit einer Arbeit, die in Form und Inhalt durchaus als Pionierleistung gelten kann. Haas verbindet seine eigene dramaturgische Konzeption von Tanz- und Performancestücken mit den Prozessphilosophien von Whitehead, Simondon und Deleuze/Guattari sowie dem Denken Donna Haraways und gelangt so zu einem Verständnis des Performativen, das die ästhetische Wirkmächtigkeit von nichtmenschlichen Lebewesen und Materie als konstitutive Ele­mente einbezieht.

Die als Dissertation an der Kunsthochschule für Medien Köln eingereichte Studie begibt sich auf ein wissens- und kulturpolitisch brisantes Terrain. 'Forschung' mit und durch die Mittel und Metho­den der bildenden und darstellenden Künste zu betreiben, schreiben sich Graduiertenkollegs und Kunsthochschulen ebenso auf die Fahnen wie Galerien, Theaterbühnen und Projekträume, Künstler_innen und Kurator_innen sowie an Universitäten beschäftigte Wissenschaftler_in­nen. Die Sonderstellung der Arbeit zeigt sich schon darin, dass der Autor zwei gängige Optionen bereits im Ansatz vermeidet: Weder werden theoretische und künstlerische Praktiken so weit verflüss­igt, dass sie differenzlos ineinander aufgehen und die Theoriefähigkeit von Kunst oder die Ästhetiz­ität von Theorien exemplifizieren, noch wird umgekehrt die Unvereinbarkeit diskursiver und ästhe­tischer Wissensformen zur Überhöhung einer der beiden Seiten zugespitzt. "Theorie und Praxis", er­klärt Haas zu Beginn, "bildeten schon in der Projektentwicklung reziproke Register der Auseinand­ersetzung – die wissenschaftliche und die künstlerische Arbeit bildeten sich aneinander aus und folgten doch ihrer je eigenen Dynamik" (S. 10). Dieses Prinzip der "Co-Autonomie" (ebd.) be­stimmt den Aufbau der Arbeit: Den vier Theoriekapiteln sind reportageartige Reflexionen zu drei von Haas als Dramaturg mit dem Regisseur David Weber-Krebs realisierten Aufführungen in Amsterdam, Hamburg und Berlin eingeschoben. In Form von Performance und Choreografie variieren diese das Grundmotiv eines Tiers – des Esels 'Balthazar' –, das sich gemeinsam mit menschlichen Darsteller_innen auf ei­ner Bühne befindet. Die Theorieteile lassen sich zwar eigenständig lesen, erhalten ihren Fokus aber durch die Fragen, die vom dramaturgischen Setting angestoßen und weitergetrieben werden.

Im ersten Theoriekapitel wird ein Vokabular für das Verhältnis von Mensch und Tier entwickelt, um von einer Kritik ihrer Trennung aus andere Arten ihrer Beziehung denk- und darstellbar zu ma­chen. Haas rekonstruiert dazu Jacques Derridas Auseinandersetzung mit der Abwertung der Tiere bei Descartes, Kant und Heidegger. Sein Zwischenfazit markiert schon den Einsatz der praktischen Arbeit. Da Derrida mit seiner Kritik auf der Ebene des Begriffs bleibe, könne er nicht "die konkre­ten Veränderungen im Denken und Sein der Menschen berücksichtigen, die die Tiere bewirken" (S. 49f). Plausibel wird so der Ansatz, über Begriffsarbeit hinaus nach Formen zu suchen, um dieses Wirken und Tun der Tiere darzustellen, ihm wörtlich eine Bühne zu geben.

Das nächste Kapitel kennzeichnet in einer dichten Beschreibung die erste Performance mit sechs menschlichen Performer_innen und einem Esel an der Theaterschool Amsterdam 2011 als gattungs­übergreifende Begegnung. Zunächst wird dabei die reziproke Gewaltförmigkeit der Beziehung von Menschen und Esel deutlich. Die Aufführung läuft nicht nach Maßstab des Esels ab, kann aber auch von den Menschen nicht vollständig kontrolliert werden. Das Gewaltverhältnis kulminiert in einer Art Taufe, bei der eine Performerin den Namen des Esels 'Balthazar' ausspricht. Diese Benennung versteht Haas jedoch zugleich als einen ästhetischen Effekt der Depersonalisierung, der den Raum für eine Begegnung der Spezies öffnet. 'Balthazar' verweist auf Robert Bressons Film Au hasard Balthazar (1966), ist also kein Eigenname einer Figur, sondern Titel aller Esel, die als Darsteller in ei­nem Kunstwerk fungieren. Ebenso depersonalisiert sind die Menschen, die keine individuellen Büh­nenfiguren repräsentieren, sondern in Kleidungsstil und Bewegung bewusst generische Exemplare ihrer Gattung. Die Annäherung von Mensch und Tier geschieht so als Bruch mit dem ästhetischen Regime des bürgerlichen Theaters, das vom Auftreten von Subjekten als Individuen lebt und da­durch seine Zugehörigkeit zur onto-epistemischen Konfiguration der Moderne und des Humanis­mus bezeugt. 

Donna Haraways Konzepte der Figuration und des "dance of becoming" sind Zentrum des zweiten Theorieteils. Haraways Figurationsbegriff stellt das Primat der Beziehung von Subjekt und Materie in den Vordergrund, sodass nicht wie in der traditionellen Ästhetik ein menschliches Künstlersubjekt eine Figur aus der Materie herauspräpariert oder dieser aufzwingt. Dagegen hat man es mit einem gemeinsamen Werden von Subjekt und Materie zu tun, die für Haraway als ver­körperte Begegnung bewegter Körper die Form des Tanzes annimmt. Haraways Überlegungen ver­dichtet Haas im zweiten Balthazar-Stück, einer 2013 auf Kampnagel in Hamburg aufgeführten Cho­reografie. Kern des Stücks ist die Idee der Einheit – ein Esel, eine weibliche Tänzerin und ein männlicher Tänzer bewegen sich gemeinsam auf der Bühne. Die Anwesenheit des Esels stört diese Einheit aber immer wieder, etwa, wenn dieser sich den Menschen in den Weg stellt oder sie an­stupst. Weil der Esel nicht seinen materiellen Körper auf eine eigentlich theatral bedeutsame Figur hin transzendiert, wird er für Haas zur Figuration im Sinne Haraways. Indem eine solche Figuration in vielfältigen Beziehungen zum Außen des Bühnenraums steht, kristallisiert sich heraus, was im Untertitel des Buches als "ästhetische Ökologie der Performance" angekündigt wird: nicht nur die Beziehung von Mensch, Tier und Bühne, sondern alle Entitäten, die Bodenbeschaffenheit, Schritt­geräusche aus dem Nebenraum, "profane Details, die im Vorfeld nicht festzustellen sind, können von entscheidendem Einfluss auf die Struktur und den Verlauf der Figuration sein" (S. 147).

Die Choreografie bietet Anlass, das Verhältnis von Organismus und Umwelt genauer zu fassen. Im Unterschied zu vielen aktuellen posthumanistischen Theorievorhaben gelingt es Haas überzeugend, den biologischen Umweltbegriff Jakob von Uexkülls nicht nur vor der Folie seiner Rezeption durch Gilles Deleuze und Felix Guattari unkritisch aufzunehmen. Er zeigt vielmehr, wie die beiden Philosophen mit Bezug auf die Funktion des Ästhetischen in den jeweiligen Konzeptionen eine "affirmative Umkehrung" (S. 175) der Umweltlehre vornehmen, die den Holismus und die Subjekt­zentriertheit Uexkülls überwindet. Statt wie Uexküll die planvolle Komposition der Umweltbeziehungen mit einer Sympho­nie Mahlers zu vergleichen, betonen Deleuze/Guattari mit Pierre Boulez ihre Unabgeschlossenheit. Als Subjekte stehen Tiere demnach in keinem statischen Verhältnis zu einer ihnen fest zugehörigen Umwelt, sondern sind in sich geteilte Vielheiten, Dividuen, die gerade aufgrund ihrer Unabge­schlossenheit Relationen mit anderen Subjekten eingehen.

Den Einbezug nichtmenschlicher Entitäten und ihrer Empfindungen schärft Haas abschließend im Durchgang durch Alfred North Whiteheads kosmologisches Denken. Vor diesem Hintergrund kann dann auch Erika Fischer-Lichtes "Ästhetik des Performativen" um die performative Handlungs­macht von Materie, Pflanzen und Tieren erweitert werden. In diesem, wie auch in den vorange­gangen Kapiteln, ist die Darstellung kenntnisreich kontextualisiert, ebenso ausführlich wie gut ver­ständlich, sodass die Lektüre gewinnbringend auch als Einstieg in die jeweils behandelten Konzepte der Denker_innen funktioniert.

Während Haraways Begriffe sehr erhellend auf die praktische Arbeit bezogen sind, gelingt das bei Whitehead nicht ganz so nachdrücklich. Überhaupt nimmt Haas nur an einer Stelle mit Bezug zu Deleuze eine kritische Distanz zu den heute seltsam neoliberal klingenden prozessphilosophischen und neomaterialistischen Ereignis- und Werdens-Semantiken ein. Eine Vertiefung dieser kritischen Intuition hätte die Eigenständigkeit seines Ansatzes noch stärker profilieren können. Interessant ist zudem, dass der Autor im Vorwort einen Wechsel des Theorieregisters während des Arbeitsverlaufs andeutet. Standen zuerst Theorien der Passivität im Fokus, so haben diese der "integrativen Syste­matik der Ökologie", den Vortritt lassen müssen, "in der ein jedes Element stets zugleich aktiv und passiv, tätig und erleidend ist" (S. 11). In den Aufführungsberichten sind es jedoch oft jene nicht einfach der Aktivität entgegengesetzten Phasen des Zögerns und des gestauten Handlungsflusses, bei der sich die Bühnensituation anschaulich im Text überträgt. Daher ist der Wechsel einerseits etwas schade, andererseits wirft die damit erzeugte Spannung von Theorie und Praxis die weiterfüh­rende Frage auf, ob nicht Passivität und Erleiden als zentrale Beziehungsmodalitäten auch in um­weltliche Theoriemodelle aufgenommen werden könnten.

Diese Bemerkungen unterstreichen noch einmal – neben den vielfältigen Anschlüssen an kulturwissenschaftliche Diskurse – die Aktualität des theoriepolitischen und methodischen Rahmens, in dem Haas' Studie verortet ist. Eindrucksvoll demonstriert er, worin die Potentiale künstlerischer Forschung bestehen, indem er das Performative als Scharnier ins Spiel bringt, das quer zur Unterscheidung von Kunst und Forschung liegt. Wenn der Esel das moderne Theater als "Anthropomorphisierungsmaschine" (S. 92) zu erkennen gibt, wird er nicht allein zum Bühnenakteur, sondern selbst zu einem Agenten künstlerischer Forschung. Die in der Wissenschaftsforschung besonders für die experimentellen Naturwissenschaften themati­sierte Abgabe von Kontrolle und Souveränität als unverzichtbares Moment in jedem Forschungs­prozess wird damit explizit, wird zur offenen Methode, die aber immer nur auf Tuchfühlung mit ih­rer jeweiligen Praxis entfaltet und nicht auf eine anwendbare Methodologie zurückgeführt werden kann. Wo auch immer in Zukunft künstlerisch forschend geredet, gearbeitet und gelehrt wird – Tie­re auf der Bühne wird dabei mit Sicherheit viele Diskussionen bereichern und zu Recht einen Platz auf den einschlägigen Lektürelisten einnehmen.

 

[1] "Künstlerische Forschung, eine Recherche" (Kathrin Busch, SoSe 2019, UdK Berlin/Kunsthochschule Wei­ßensee), https://www.vdl.udk-berlin.de/qisserver/rds?state=verpublish&status=init&vmfile=no&publishid=30551&moduleCall=webInfo&publishConfFile=webInfo&publishSubDir=veranstaltung

Autor/innen-Biografie

Julian Jochmaring

Studium der Medien- und Kulturwissenschaften in Düsseldorf sowie der Europäischen Medienwissenschaft in Potsdam. Promotion 2019 mit einer Arbeit zur Medienphilosophie des Umweltlichen. Lehraufträge an den Universitäten in Potsdam und Wien sowie an der Zürcher Hochschule der Künste. Forschungsschwerpunkte sind Medienphilosophie und Medientheorie, Biopolitik, Wissensgeschichte der Ökologie des 19. und 20. Jahrhunderts, Reproduktionsarbeit in der Gegenwartskunst. Bereitet aktuell ein Forschungsprojekt zu Medienkulturen der Reproduktionskrise vor.

Aktuelle Publikationen:

Julian Jochmaring: "Der Gesang der Motorsäge oder: Wovon erzählt der Leierschwanzvogel?". In: Tierstudien 15, 2019, S. 131-139.

–: "Streuen/Strahlen. Negative Ambientalität bei Merleau-Ponty". In: Medienanthropologische Szenen. Die conditio humana im Zeitalter der Medien. Hg. v. Lorenz Engell/Katerina Krtilova/ Christiane Voss. Paderborn 2019, S. 59-75.

–: "Im gläsernen Gehäuse. Zur Medialität der Umwelt bei Uexküll und Merleau-Ponty". In: Gehäuse. Mediale Einkapselungen. Hg. v. Christina Bartz/Timo Kaerlein/Monique Miggelbrink/Christoph Neubert. Paderborn 2017, S. 253-270.

–: "Das Unbehagen in der (Medien-)Ökologie. Relationalität, Posthumanismus und die Negativität des Umweltlichen". In: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 2/1, 2016, S. 91-112.

–: "Der stille Computer. Anästhetische Strategien im Interaction Design". In: kunsttexte.de, Themenheft 4, 2014: Strategien des Anästhetischen in Kunst, Design und Alltagskultur.

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Veröffentlicht

2019-11-19

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Rubrik

Theater