Tim Zumhof: Die Erziehung und Bildung der Schauspieler. Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830.
Köln: Böhlau 2018. ISBN: 978-3-412-50006-1. 586 S., 21 s/w-Abb., Preis: € 80,00.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-07Abstract
Theater wurde im Zuge der aufklärerischen Reformen des 18. Jahrhunderts einem umfassenden Struktur- und Funktionswandel unterzogen und mit einem kultur- bzw. moralpädagogischen Auftrag versehen – das ist allseits bekannt. Mag sich auch zwischen Idealen und Realität eine breite Kluft aufgetan haben: Theaterreform und Nationaltheaterbewegung des 18. Jahrhunderts gelten als Beginn 'eigentlichen' Theaters im deutschsprachigen Raum. Das Theorem der Schaubühne als moralische Anstalt legitimiert nach wie vor den Bildungsauftrag von Theater und dient einer kulturellen Selbstbestätigung. Dagegen scheinen die Bildungswege von Schauspieler*innen im Dunklen zu liegen. Dieses Desiderats nimmt sich Tim Zumhof, Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Schwerpunkt historische Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, in seiner Dissertation an.
Der Bildungsauftrag, der Theater im 18. Jahrhundert eingeschrieben wurde und es, mitunter als "pädagogische Anstalt", zu einem Leitmedium der bürgerlich-aufgeklärten Öffentlichkeit deklarierte, ist in zahlreichen theatergeschichtlichen Publikationen hinlänglich erforscht – so scheint es zumindest. Denn in der Regel nehmen diese Darstellungen eine rezeptionsästhetische Perspektive ein und fokussieren die moralpoetische bzw. -didaktische Wirkung eines bürgerlichen Theaters, identifiziert in einem Repertoire, das den Bildungsansprüchen der Aufklärung gerecht wird. Notwendig waren hierzu allerdings nicht nur Bemühungen, "durch eine Reglementierung des Theaterpublikums störungsfreie Rezeptionsbedingungen zu schaffen, um eine Bildung des Geschmacks durch das Theater überhaupt erst zu gewährleisten" (S. 15): Die an Theater herangetragenen kultur- und moralpädagogischen Ansprüche bedurften auch der Herausbildung eines neuen Darsteller-Typus. Doch Schauspieler*innen bilden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einen weißen Fleck auf der theaterhistoriographisch erschlossenen Landkarte des 18. Jahrhunderts. Zumhofs umfangreiche Studie zur Erziehung und Bildung von Schauspieler*innen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive verspricht deshalb zunächst einen interessanten Beitrag.
In seiner Untersuchung geht Zumhof in zwei Schritten vor. Der erste Hauptteil Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters lässt dem Titel nach eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung erwarten. Zumhof zeichnet hier allerdings keine direkte Genealogie nach, sondern betrachtet schlaglichtartig Positionen zum Schultheater im deutschsprachigen Raum von der Reformation bis ins 18. Jahrhundert und konstatiert einen mittelbaren Einfluss. Analysen zu protestantischen und jesuitischen Schultheaterabhandlungen heben das humanistische Bildungsprogramm für (männliche) Schüler vor allem in den Bereichen der Rhetorik, der Kenntnisse alter Sprachen und – mit Rekurs auf Schriften der Moralistik – der öffentlichen Repräsentation hervor. Allerdings projizieren vor allem die Betrachtungen zu Johann Christoph Gottscheds Theaterreform, überschrieben mit "Die Verschulung der Schaubühne und die Entschulung der Schulbühne", ein theaterhistorisch nicht ganz stimmiges Bild. Schultheater nahm in der Theorie einer 'regelmäßigen' Schaubühne von Gottsched, der in der ersten, rationalistischen Phase der Aufklärung als Initiator einer Professionalisierung des deutschsprachigen Theatersystems" (S. 94) gesehen wird, keine bedeutende Rolle ein: Er orientierte sich, wie später auch erwähnt, in erster Linie an der französischen doctrine classique.
Größeres Interesse weckt dagegen die Darstellung, wie in der zweiten, sensualistischen Phase der Aufklärung – nicht zuletzt infolge eines gewandelten Naturbegriffs – die Deklamationspraxis zugunsten einer als "natürlich" und "authentisch" wahrgenommenen Darstellungspraxis abgelöst wurde. Hervorzuheben ist die Analyse der Wechselwirkungen zwischen der Entdeckung des Menschen durch anthropologische Forschungen und der Herausbildung eines veristischen, illusionistischen Darstellungsstils, der – im Sinne der geforderten bürgerlichen Wirkungsweise – den Rezipient*innen ein hohes Identifikationspotential bieten sollte. Hier wird der Einfluss von Subjekt- bzw. Identitätskonzeptionen (bspw. bei Jean-Jacques Rousseau oder Denis Diderot) auf Gotthold Ephraim Lessings oder Johann Jakob Engels schauspieltheoretische Abhandlungen herausgestellt: Von Bedeutung waren diese nicht nur für ein Kunst-Schauspiel, sondern wären – neben Literatur und Populärphilosophie – auch "als eine bürgerliche 'Sozialisationsinstanz' [zu] betrachten, die dazu beitrug, die kulturellen Praktiken der Bürgerlichkeit mit zu formen und so Vorlagen für eine bürgerliche Selbstinszenierung und Selbstbehauptung zu liefern" (S. 204f).
Der zweite Hauptteil widmet sich Theaterschulen und Ausbildungskonzepten der Schauspieler im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ausgehend von den Reiserouten der Schauspielergesellschaften schildert Zumhof die Problematik, dass sich zwar allmählich eine bürgerliche Theater- und Schauspieltheorie herausgebildet hatte, Schauspieler*innen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts aber nach wie vor zu einer "vagabundierenden Lebensform" gezwungen gewesen seien: Die "Mehrheit der Schauspieler war im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und noch in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts weder sesshaft noch bürgerlich" (S. 270), weshalb der Schauspielerberuf weiterhin sozialen Stigmatisierungen ausgesetzt war. Folglich wurde unter anderem, wie Zumhof anhand einer Zusammenstellung zahlreicher Quellen belegt, in zeitgenössischen Theaterperiodika wiederholt eine institutionelle (Aus-)Bildung von Schauspieler*innen eingefordert, die den sittlich-moralischen Ansprüchen des Bürgertums gerecht werden sollte: Die – von Eduard Devrient 1848 in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst als "Kulissen- und Landstraßenerziehung" (S. 267) geschmähte – Vermittlung eines theaterpraktischen Wissens bzw. Handwerks war in dem neuen Bildungsprogramm für Schauspieler*innen kaum vorgesehen. Stattdessen setzten die frühen Versuche, Theater-Schulen bzw. -Akademien zu begründen, auf eine theoretisierte Ausbildung. So beinhaltete der Lehrplan der ersten deutschsprachigen Theater-Akademie, die der Schauspieler Konrad Ekhof 1753 in Schwerin für die Mitglieder der Schönemann'schen Gesellschaft ins Leben gerufen hat, als fünften und letzten Punkt Aufgaben und Pflichten von Schauspieler*innen "im gemeinen Leben" (S. 344), weshalb "Ekhof mit seiner Akademiegründung ein pädagogisches Programm [realisierte], um Schauspielern ein bürgerliches Arbeitsethos zu vermitteln" (S. 352). Die Institutionalisierung von Theater und Schauspielen ist – wie sich ebenfalls aus den Analysen weiterer Theaterschulmodelle abstrahieren lässt – auch als Einbürgerung bzw. Verbürgerlichung des Schauspielers zu lesen. Dass der (soziale) Aufstieg von Schauspieler*innen zu angesehenen bürgerlichen Künstler*innen mit dem Verlust ihrer souveränen künstlerischen Produktivität erkauft werden musste, findet allerdings erst am Ende der Publikation Erwähnung: "Der Schauspieler soll gleichsam das Instrument sein", zitiert Zumhof Hegels Ästhetik, "auf welchem der Autor spielt, ein Schwamm, der alle Farben aufnimmt und unverändert wiedergibt" (S. 502f). Die Aufnahme des (Bürger-)Schauspielers in das System der Schönen Künste – so ließe sich ergänzen – ist nur als reproduzierender Künstler möglich.
In seiner Studie zeichnet Zumhof anhand eines beachtlichen, aufschlussreichen Korpus an zeitgenössischer (Theater-)Literatur und Archivalien die bürgerliche Bildung und damit verbunden die Anerkennung von Schauspieler*innen anschaulich nach. Dabei thematisiert er nicht ausschließlich die theoretisierte Bildung bzw. Erziehung von Schauspieler*innen zu Bürger*innen, sondern berücksichtigt auch alternative Konzepte: Beispielsweise die von Johann Heinrich Friedrich Müller geleitete Kindertheaterschule am Wiener Kärntnertor (1779–1782), der Zeitgenoss*innen wegen ihrer praxisorientierten Ausbildung einen mangelnden theoretischen Anspruch ankreideten, oder Goethes in den Regeln für Schauspieler postulierte Rückkehr zu einer rhetorischen Darstellungsweise, mit der er sich unter anderem gegen eine bürgerlich-moralpoetische Vereinnahmung von Theater und für eine ästhetische Erziehung nach klassischen Bildungsidealen ausgesprochen hat. Es erscheint ohne Zweifel vielversprechend, aus einer transdisziplinären Perspektive die Wechselwirkung zwischen Pädagogik und Theater "auf struktur- und diskursgeschichtliche Überschneidungen" (S. 524) zu untersuchen. Allerdings lässt sich diese Wechselwirkung dezidiert auch nur für das 18. Jahrhundert als 'pädagogisches Jahrhundert' festmachen – als Theorem, dessen Verwirklichung sich in der Theaterpraxis nur bedingt wiederfand. Dagegen werden in der Studie das bürgerliche, moraldidaktische Schaubühnenmodell und der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts erst allmählich entwickelnde veristische Stil als verbindliche Norm 'des Theaters' und 'der Schauspielkunst' schlechthin verstanden. Dies hätte – möglicherweise auch den Begriff von (bürgerlicher) Bildung betreffend – eine deutliche Historisierung verdient: Gerade theatrale Praktiken vor den bürgerlichen Reformen werden zum Teil unter Prämissen betrachtet, die einst von der Reformtheaterhistoriographie eingeführt worden sind – und zwar um der Reform willen. Aussagen wie "in der Nationaltheaterbewegung [kam] die frühneuzeitliche Wanderbühne zum Stehen" (S. 18) folgen überholten, durch einen neuen theaterhistorischen Forschungsstand revidierten Narrativen – warum hier aktuelle Standardwerke der Theatergeschichtsforschung und der akteurbezogenen historischen Anthropologie nicht zur Kenntnis genommen wurden,[1] ist nicht ersichtlich. In der 526 Textseiten umfassenden Schrift wäre ebenfalls eine stärkere Fokussierung wünschenswert gewesen, da nicht nur mehrfach zitierte Passagen aus historischen Schriften redundant und die behandelten Exempel mitunter kompilierend wirken.
[1] Vgl. bspw. Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich 2007; Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1: Schauspielstile. Leipzig 2012; Andreas Kotte: Theatergeschichte. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2013.
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