Martina Griesser-Stermscheg/Stefan Oláh/Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Bunt, sozial, brutal. Architektur der 1970er Jahre in Österreich. Fotografiert von Stefan Oláh.

Salzburg: Anton Pustet 2019. ISBN: 978-3-7025-0934-7. 152 S., Preis: € 35,00.

Autor/innen

  • David Krems

Abstract

Der Wiener Fotograf Stefan Oláh dokumentiert in seinem Buch Bunt, sozial, brutal. Architektur der 1970er Jahre in Österreich eine weitere Dekade österreichischer Architekturgeschichte – und arbeitet dabei gleichzeitig an einem Kapitel heimischer Fotografiegeschichte. Einem in der Einleitung des vorliegenden Bildbandes erwähnten Diktum Friedrich Achleitners folgend, muss Architektur erst 50 Jahre bestehen, damit sie anerkannt wird. Die vorliegende Publikation erscheint also genau rechtzeitig, um sich auf eine Beschäftigung mit der für die heimische Architektur so bedeutenden Dekade der 70er-Jahre einzustimmen.

Die Fotografie stand seit jeher in einem produktiven Verhältnis zur Architektur, die dem Medium nicht nur einige seiner künstlerisch bemerkenswertesten Leistungen beschert, sondern immer wieder auch theoretische Diskussionen befeuert hat. Man denke an die Frage der Perspektive im Kontext des Neuen Sehens oder die Positionierung des Mediums zwischen eigenständigem, kreativem und dokumentarischem, reproduktivem Einsatz. Ein Verweis auf das Bauhaus, an dem die Fotografie von Anfang an eine zentrale Rolle einnahm und in eben jenem Spannungsfeld erprobt wurde, ist deshalb nicht nur aus aktuellem Anlass des hundertsten Geburtstags der Schule für Kunst und Architektur eine der ersten Assoziationen. Andere, stärker an der dokumentarischen Funktion der Fotografie orientierte Positionen, finden sich quer durch die Geschichte des Mediums und reichen von Édouard Baldus historischen Aufnahmen des französischen Eisenbahnbaus bis zu Albert Renger-Patzsch’ neusachlichen Technikstudien, von Louis-Émile Durandelles Dokumentation des Pariser Opernhauses bis zu Bernd und Hilla Bechers seriellen Vermessungen der Industrieanlagen des Ruhrgebiets. Dass eben jener Bedeutung der Serie, die für das Werk der Bechers so charakteristisch ist, auch in den Arbeiten des österreichischen Fotografen Stefan Oláh entsprochen wird, lässt sich schon an den Titeln einiger seiner Projekte ablesen: mit Sechsundzwanzig Wiener Tankstellen (2010) oder Fünfundneunzig Wiener Würstelstände - The Hot 95 (2013) hat er Wiens spezifische Gebrauchsarchitektur dokumentiert und dadurch einen – seither stetig wachsenden – Bildfundus begründet, der Fotografie-, Design- und Architekturinteressierte im gleichen Ausmaß begeistern dürfte.

Bunt, sozial, brutal ist der bereits zweite Bildband, den der Fotograf – herausgegeben gemeinsam mit der Kunsttheoretikerin Martina Griesser-Stermscheg und dem Kustos und Kurator Sebastian Hackenschmidt – nun gleich einer ganzen Dekade der heimischen Gegenwartsarchitektur widmet. Das Panorama der hier versammelten Bauwerke reicht vom Feld des sozialen Wohnbaus (etwa in Wien und Graz) über das der Kulturbauten und Kirchen bis hin zu Bank- und Bürogebäuden bzw. technischer Infrastruktur und Verkehrsbauten. Dabei sind es aber nicht bloß die opulenten, formatfüllenden Motive, die es Oláh angetan haben. Sein Blick ist stets einer, der sich auch auf Details und Kontexte richtet. Der Titel Bunt, sozial, brutal wird dadurch schlüssig: brutal war die Architektur der 70er-Jahre in ihrer konkreten Ausgestaltung, sozial in ihrer Orientierung (man denke an den sozialen Wohnbau oder auch an den Nutzen der dokumentierten Infrastruktur für das Gemeinwohl) und bunt im Detail. Als besonders kurioses Beispiel für den letztgenannten Punkt kann ein psychedelisch anmutender Partykeller dienen, den der dänische Architekt und Designer Verner Panton 1970/71 in einem Privathaus am Wiener Stadtrand gestaltete, und der von Oláh im unveränderten Originalzustand aufgenommen werden konnte. "Ein grandios entgrenzter Farb- und Form-Rausch in Rot-, Orange- und Lilatönen" (S. 10), wie im Begleittext treffend bemerkt wird. Das für die 70er-Jahre so charakteristische Orange findet sich denn auch in einem weiteren Bauwerk, das für die Wiener Architektur seiner Zeit wohl so prägend war und ist, wie kein anderes: Die Uno City (Bauzeit 1973-79). An der ihr gewidmeten Bildstrecke verdeutlich sich ein weiteres Mal Oláhs Gespür für ein Gleichgewicht zwischen Detail und Kontext. Ein Bild zeigt eine angeschnittene Reihe beige-brauner Konferenzsessel vor einer ebenfalls beigen Lamellenwand des Konferenzsaals, ein anderes nicht mehr als einen grellorangenen Stiegenaufgang mit silberglänzendem Handlauf. In Anbetracht der Dimensionen des Bauwerks sind dies lediglich Detailaufnahmen: Detailaufnahmen, die so etwas wie eine gestalterische Quintessenz erfassen und damit repräsentativ für ein größeres Ganzes sind. Nicht umsonst findet sich eines dieser Motive auch auf dem Cover des Bandes. Eine andere Aufnahme zeigt die Uno-City in ihrer städtischen Verortung. Das Bild ist aber nicht, wie sonst meist der Fall, gegen Südwesten und damit in Richtung Stadtzentrum aufgenommen, sondern gegen Nordosten, wodurch es das Gebäude vor dem Hintergrund der Alten Donau und dem Außenbezirksteil Kagran zeigt, der erst kurz nach Fertigstellung der Uno-City durch die U1 an das Stadtzentrum angebunden wurde. Durch die Wahl dieser Perspektive wird Stadtentwicklung erfahrbar – und das auch noch auf eine zweite, indirekte Weise: Wer genau hinsieht, bemerkt, dass die Aufnahme von dem DC-Tower aus gemacht wurde, Wiens seit 2014 zweithöchstem Bauwerk, das die Uno-City bei weitem überragt. Das hätte sich in den 70er-Jahren wohl noch niemand vorstellen können.

Die Auswahl der hier abgelichteten Objekte umfasst aber nicht lediglich bereits Bekanntes, sondern zeigt auch Ausgefallenes. Etwa die Botschaft der Republik Kugelmugel im Wiener Prater oder – gewissermaßen als offizielles Gegenstück dazu – das Botschaftsgebäude Österreichs (Karl Schwanzer) in der von Oscar Niemeyer entworfenen Planstadt Brasilia (Brasilien). Auf Oláhs Fotos hängen dichte Gewitterwolken über einem in eine großzügige Parkanlage eingebetteten, zweigeschossigen Bau, dessen mit großformatigen Siebdrucken versehene Innenräume die exotische Außenwelt zu spiegeln scheinen. Die Stimmung ist so dicht, die Hitze scheint so drückend, dass man in einen der beiden (!) Pools springen möchte.

Die Fotografien werden von einem ursprünglich 1982 publizierten Aufsatz begleitet, der eine Bestandsaufnahme der österreichischen Architektur der 70er Jahre vornimmt und von dem jüngst verstorbenen Architekturkritiker Friedrich Achleitner stammt. Zahlreiche der im Abbildungsteil dokumentierten Bauwerke finden auch hier Erwähnung. So etwa Günther Domenigs Filiale der Z-Sparkasse auf der Wiener Favoritenstraße, die laut Achleitner "fast in jeder Hinsicht gegen die Wiener Tradition der Moderne verstößt" (S. 140). Wer aus diesem Anlass noch einmal nach vorne blättert, um Oláhs dazugehörige Aufnahmen vom Domenig-Haus zu betrachten, stellt fest, dass in dem herausragenden Gebäude – in dessen Formensprache sich bereits das Herannahen der 80er Jahre erkennen lässt – mittlerweile ein Taschendiscounter seine billige Ware anbietet. Allerorts aufgestellte bunte Kunststoffkoffer führen die expressive Ausgestaltung des Bauwerks ad absurdum und sprechen dem 2005 verliehenen Denkmalschutz größtmöglichen Hohn. Die Nachnutzung der Gebäude, auch das wird hier klar, ist ebenfalls Teil der Architekturgeschichte.

In demselben Text hält Friedrich Achleitner abschließend fest, dass es sich bei seinen Kommentaren zur Architektur der 80er Jahre lediglich "um eine Skizze handelt, [...] um eine notwendige Reduktion eines vielschichtigen und komplexen Bildes" (S. 145). Selbiges muss natürlich auch für den gesamten Bildband gelten. Und dennoch möchte man ergänzen: Wer sich in Zukunft mit österreichischer Architektur der 70er-Jahre beschäftigt, wird um diese Publikation nicht umhinkommen – wer sich mit zeitgenössischer österreichischer Fotografie beschäftigt, auch nicht.

PS: Ist man nicht nur an Architektur, sondern auch an Fotografie interessiert, sucht man leider vergebens nach Hintergrundinformationen zur Arbeitsweise des Fotografen. Wenngleich das Werk natürlich auch immer für sich selbst spricht, darf man sich für den Band zur Architektur der 80er-Jahre dennoch etwas wünschen: Ein ausführliches Interview mit Stefan Oláh. Danke!

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Experimentalfilmemacher und Autor.

https://homepage.univie.ac.at/david.krems/

Publikationen:

- David Krems: Fast ein Wunder. Wien 2019 (Roman).

- David Krems: Inszenierungen des Fotografischen: Technik und Ästhetik im medialen Wechsel. Wien 2017 (Dissertation).

- David Krems: Falsches Licht. Wien 2017 (Roman).

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Veröffentlicht

2019-11-19

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Medien