Annette Kappeler: L’œil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime.

Paderborn: Wilhelm Fink 2016. (Reihe: eikones NFS Bildkritik NCCR Iconic Criticism). ISBN 978-3-7705-6138-4. 249 S., 48 s/w Abb., Preis: € 34,90.

Autor/innen

  • Stephanie Schroedter

Abstract

Interdisziplinarität oder gar Transdisziplinarität ist und bleibt eine Herausforderung für wissenschaftliche ebenso wie für künstlerische Forschung – eine überaus spannende und lohnende, wenn sie gelingt, ein bedauerlicher Fauxpas, wenn sie misslingt. Um es gleich vorwegzunehmen: Annette Kappeler zeigt in ihrer an der Universität Konstanz abgeschlossenen Dissertation, die nun im Druck vorliegt, in vorbildlicher Weise auf, wie man sich auf das Glatteis abseits eindeutiger disziplinärer Zuordnung begeben kann, ohne deshalb auf nur rudimentär durchdrungenem Fachwissen/-können auszurutschen. Für den Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik der Universität Basel war sie als Literaturwissenschaftlerin und Romanistin, gleichzeitig professionelle Musikerin (Violine/Viola mit einem Schwerpunkt im Bereich der sogenannten 'Alten Musik') zweifellos ein Glücksfall. Dass es ihr durch ihre Musikpraxis leicht fiel, sich einem zumeist von der Musikwissenschaft okkupierten Thema, Entwicklungen der Tragédie en musique zwischen dem späten 17. und späten 18. Jahrhundert, zu nähern, mag nicht weiter erstaunen. Bewundernswert ist hingegen, mit welchem Adlerblick sie sich bei ihren akribischen Recherchen in einschlägigen Pariser Archiven und Bibliotheken Bildquellen nähert und diese durch ihre Disziplinen übergreifende Perspektive erfrischend unverstellt aufzuschlüsseln vermag.

Und damit nicht genug: der Umstand, dass sie sich dabei eben nicht auf (mehr oder weniger) hermetisch abgegrenzte Detailanalysen kapriziert, sondern ihre Überlegungen in weitreichende, historisch fundierte und kulturwissenschaftlich informierte Kontexte einbettet, die insbesondere machtpolitische Dispositive offen legen, macht diese keineswegs leicht zugängliche Thematik zu einer ebenso faszinierenden wie frappierenden Studie über den Einfluss von Politik beziehungsweise von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen auf künstlerische Errungenschaften im Schnittfeld von Musik, Tanz, Theater und Bildender Kunst.

Es versteht sich von selbst, dass es bei dieser breitgefächerten Ausgangslage unbedingt erforderlich war, besonders markante Phänomene zu fokussieren und einander gegenüberzustellen – ohne deshalb teleologische Entwicklungslinien nachzeichnen zu wollen. Dass Letzteres gerade nicht in ihrer Absicht lag, hebt die Autorin eigens hervor und begründet damit auch, warum sie sich gegen ein allumspannendes Schlussresümee entschieden hat, stattdessen ihr Buch mit einem dreiseitigen Epilog abrundet, der den Bruch zwischen Musiktheater-Produktionen im Ancien Régime und im Vorfeld der Französischen Revolution nochmals sehr deutlich akzentuiert.

Zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit ist die Analyse von Auftritten im weitesten Sinne: Leitend ist dabei die Frage, wie ein_e Darsteller_in die Bühne betritt, welche audio-/visuellen Räume und insbesondere topographischen Hierarchien beziehungsweise Wissensregime sich dabei konstituieren und mit welchen gesellschaftspolitischen Konstellationen letztere wiederum korrespondieren. Ominöse Göttergestalten, die nur hörbar, aber nicht sichtbar sind, erweisen sich dabei als zunehmend machtvoller im Vergleich zu glanzvollen Inszenierungen irdischer Herrscher als Vertreter vermeintlich göttlicher Gewalten. Und während der zunächst noch auf der Bühne präsente König immer mehr durch seine Macht symbolisierende Stellvertreter ersetzt wird, um ihm selbst einen Platz im Publikum beziehungsweise in einer exponierten oder auch dezent kaschierten Loge zuzuweisen, kann schließlich gerade das Fernbleiben des Königs, die "Leerstelle" (S. 94) im Auditorium wirkungsmächtiger sein als seine unmittelbare Präsenz. Die zentralperspektivisch angelegte Bühne bleibt auch ohne seine Anwesenheit auf den "L'Œil du Prince", seinen "Gesichtspunkt" (S. 47) ausgerichtet. Es handelt sich hierbei um ein lange Zeit unangefochtenes Gesetz, das erst allmählich, im Zuge aufklärerischer Tendenzen durch die Einführung von Winkelperspektiven ("Scena per Angolo") und beweglichen Asymmetrien subtil untergraben wird. Selbstverständlich liegen diesen Asymmetrien weiterhin Symmetrien zugrunde, doch sie konfrontieren sie mit ihren eigenen Mitteln, um ihre Wirkungsmacht aufzuweichen.

Dass im Umfeld der Französischen Revolution die Inszenierung von Kollektiven einen höheren Stellenwert erhält als die eines allmächtigen Herrschers, mag sogleich einleuchten. Aufschlussreich ist jedoch nun, auf welche Art und Weise "Massen" wie beispielsweise Chorgemeinschaften die Bühne betreten und wie sie sich auf dieser ursprünglich höfisch beziehungsweise göttlich dominierten Plattform fortbewegen. Auch hier schenkt die Verfasserin dem Verhältnis von horizontalen zu vertikalen Bühnenauftritten besondere Beachtung – verbunden mit der Frage, inwiefern Symmetrien, die vermeintlich makrokosmische Konstellationen widerspiegeln, weiterhin das Bühnengeschehen beherrschen. Wenn es beispielsweise in Glucks Tragédies en musique wieder verstärkt zu vertikalen Auftritten positiv wirkender Götter (von oben) kommt, nachdem ihr Stellenwert zuvor (in Rameaus Opern) schwand, wenn sie nicht sogar negativen Kräften (durch Auftritte von unten) zugeordnet wurden, so geht es bei der Revitalisierung dieser älteren Inszenierungspraktiken keineswegs zwangsläufig um eine Re-Konstitution der Ordnungsgefüge, mit denen sie ursprünglich verbunden waren. Vielmehr werden hierdurch veränderte politische Konstellationen durch menschliches Handeln, insbesondere Aufbegehren gegen 'alte' Machtstrukturen, nur nochmals affirmiert, d. h. nachträglich legitimiert, aber nicht initiiert. Die Tragédie en musique, die sich als wirkungsmächtiges Instrument eines absolutistischen Staatsgefüges etablierte, avanciert somit im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem "Verhandlungsort politischer Theorien", die sich just gegen das System wenden, aus dem sie hervorging.

Bei ihren Analysen einzelner Produktionen von Lully, Rameau und Gluck als zweifellos besonders einflussreiche Tragédie en musique-Komponisten lenkt Annette Kappeler ihren Blick sehr scharfsinnig auch auf Bewegungsqualitäten, die in den Inszenierungen zum Einsatz kamen (soweit sie sich auf der Basis überlieferter Quellen, insbesondere Partituren und Libretti, eruieren lassen). In den drei chronologisch angelegten Großkapiteln ihrer Arbeit umreißt sie diese mit jeweils zwei prägnanten Verben: "Danser et Voler" (als charakteristisch für Lullys Opern), "Marcher et se Terrer" (als in Rameaus Opern markant hervorstechend) sowie "Courir et Tomber" (als neue Errungenschaft in Glucks Opern). Zudem kennzeichnen sich diese Bewegungsqualitäten durch ein spezifisches Zeitmaß, das von zeremoniellen 'gemessenen' Bewegungen ausgehend ("Pas Mesurés", S. 66) durch Bewegungsbeschleunigungen zunehmend 'ökonomischer' gestaltet wird. Ebenso anschaulich wie überzeugend stellt die Autorin fest, dass die "Inszenierung des Herrscherkörpers […] seit dem spektakulären Maschinenauftritt Louis' XIV" zunächst "an die Inszenierung übernatürlicher, technisierter Macht gebunden [war]", während "die rameauschen Tragédies en musique […] Herrscher ohne Maschinen und Maschinen ohne Herrscher auf die Bühne [bringen]. Der körperliche Auftritt trennt sich vom maschinengestützten ab." (S. 136) Anders gewendet: der 'Held' des Geschehens darf nun auch zu Fuß die Bühne betreten und kommt dadurch dem 'Volk' näher, auf dessen Zustimmung er mehr denn je zuvor angewiesen ist, um seine Autorität zu behalten. Gleichzeitig wird die Lichtregie subtiler gestaltet: Helligkeit und Dunkelheit wechseln häufiger und gehen keineswegs nur von allmächtigen Göttern aus. Stattdessen delegieren Letztere "Licht und Dunkelheit generierende Kräfte und Auftrittsmaschinen an sterbliche Figuren" (ebd.).

In den Gluckschen Tragédies en musique geraten die Darsteller schließlich immer mehr aus dem Gleichgewicht – nicht zuletzt durch den Einfluss der Schriften Newtons, durch die die mechanisch geprägte Bewegungslehre von Descartes an Vormachtstellung einbüßt. "Zentraler Anziehungspunkt ist nun der Erdmittelpunkt, der alle Figuren mit ungeheurer Kraft in Richtung Bühnenboden zieht" (S. 149), d.h. die "Anziehungskräfte des Sonnenkönigs werden durch 'Naturkräfte' ersetzt, die ein verbindliches Ordnungssystem für alle Figuren bilden" (ebd.). Solche Statements erscheinen sogleich plausibel, gewinnen jedoch vor allem an Überzeugungskraft, wenn sie durch eingehende Analysen in ihren sehr vielfältig gestalteten, auch genderspezifischen Facetten nachgezeichnet werden. Und gerade hierin liegt ein besonderer Gewinn dieser Studie, die immer wieder zwischen der Darstellung übergreifender Zusammenhänge und nuancierten Detailbeobachtungen changiert, zudem – ungeachtet der Komplexität des Gegenstandes aufgrund des Zusammenspiels so unterschiedlicher Künste sowie der hiermit zusammenhängenden, nicht weniger komplexen Quellenlage – sehr ansprechend, mehr noch: packend verfasst ist.

Autor/innen-Biografie

Stephanie Schroedter

Stephanie Schroedter, habilitierte Tanz- und Musikwissenschaftlerin, leitet derzeit das DFG-Projekt "Körper und Klänge in Bewegung", in dessen Rahmen Modelle einer musikchoreographischen Inszenierungs- bzw. klangperformativen Aufführungsanalyse entwickelt werden. Sie vertrat Professuren in der Tanz-, Musik- sowie Theater- und Medienwissenschaft und lehrt derzeit an der Freien Universität Berlin (Institut für Theaterwissenschaft/Tanzwissenschaftliches Seminar).

Im Erscheinen: Paris qui danse. Bewegungs- und Klangräume einer Großstadt der Moderne, Würzburg: Königshausen und Neumann 2018.

Veröffentlicht

2018-05-15

Ausgabe

Rubrik

Theater