Jan Horstmann: Theaternarratologie. Ein erzähltheoretisches Analyseverfahren für Theaterinszenierungen.

Berlin/Boston: De Gruyter 2018. (Reihe: Narratologia 64). ISBN: 978-3-11-059500-0. 275 S., Preis: € 89,95.

Autor/innen

  • Christian Benesch

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-04

Abstract

Jan Horstmanns Theaternarratologie ist der Versuch, erzähltheoretische Konzepte einer zunehmend transgenerisch, intermedial und interdisziplinär operierenden Narratologie mit einer theaterwissenschaftlichen Aufführungs- bzw. Inszenierungsanalyse zu verbinden und so ein "heuristisches Analysemodell performativen Erzählens" (S. 4) zu entwickeln. Ausgangsbasis für Horstmanns Überlegungen sind einerseits literaturwissenschaftliche Erkenntnisse und andererseits die auf der Theatersemiotik fußende Aufführungs- bzw. Inszenierungsanalyse. Inspirierend war darüber hinaus auch Markus Kuhns Filmnarratologie, also der entsprechende Anwendungsfall narratologischer Kriterien auf das Medium Film. Die Monografie, der eine Dissertation zugrunde liegt, erschien als 64. Band der Reihe Narratologia im renommierten Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter.

Schon länger ist in einschlägigen Publikationen von Narratologien im Plural und nicht mehr bloß von der (literaturwissenschaftlichen) Narratologie die Rede. Seit der letzten Jahrtausendwende wurde mehrfach versucht, erzähltheoretische Erkenntnisse, die aus der Analyse erzählender Texte gewonnen wurden, auch auf andere literarische Gattungen (Drama, Lyrik), andere Kunstformen (Musik, Bild, Film etc.), aber auch auf andere Disziplinen (Psychologie, Historiografie, Rechtswissenschaft etc.) anzuwenden. Eine (transgenerische) Narratologie des Dramas liegt also vor und dient Horstmann als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Nach einem solchen Verständnis von Narrativität sind auch unvermittelte Texte – also fiktionale, literarische Texte wie das Drama, in denen nach konservativer Auffassung keine Erzählinstanz zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem vermittelt – dann narrativ, wenn Narrativität als Darstellung einer Zustandsveränderung definiert wird. Oft wird dazu das erzähltheoretische Instrumentarium Gérard Genettes auf die Dramenanalyse angewendet.

Neben diesen narratologischen Kriterien sind für Horstmann auf dem Weg zu einer Theaternarratologie auch theaterwissenschaftliche Erkenntnisse zentral. Besonders seien das theatrale Zeichensystem und Performativität erwähnt. Unter Letzterem versteht Horstmann nicht "nur die Sprechakte", sondern auch "tatsächliche Performativität im Sinne von verkörperten Geschehnissen und Ereignissen mit mehreren Übermittlungskanälen" (S. 4). Um sich letztlich dem "Phänomen der performativen Narration" zu nähern, gelte es zu berücksichtigen, dass sich die Erzählung "erst im interaktiven Akt der Aufführung" entfalte (S. 5). "Die explizit narratologische Beschäftigung mit Performativität" (S. 23) stellt demnach einen stark untererforschten Bereich dar, zu dem Horstmann mit seiner Theaternarratologie einen nötigen Beitrag leistet.

Kern von Horstmanns Modell ist sein so genanntes Theatrales Repräsentationssystem (TRS). Ausgehend von Markus Kuhns visueller Erzählinstanz (VEI) und den sprachlichen Erzählinstanzen (SEI) in der Filmnarratologie entwickelt, entspricht das TRS in etwa der Erzählinstanz in der (epischen) Literatur, auch wenn Horstmann betont, dass das TRS keine Erzählinstanz ist, "sondern ein aus dem Zusammenspiel der genutzten und wahrnehmbaren Kanäle gefolgertes dynamisches System, in dem sich die jeweilige theatrale Gesamtnarration niederschlägt" (S. 112). Vorausgesetzt ist jedenfalls die Mittelbarkeit der theatralen Aufführung. Horstmann teilt diese narrative Vermittlung detailliert auf die unterschiedlichen Kanäle des TRS auf. Es besteht aus "den sechs Kanälen sprachlich, visuell, auditiv, olfaktorisch, haptisch und gustatorisch" (S. 111, Hervorhebung im Original), denen jeweils ein unterschiedlicher Grad an Narrativität zugesprochen wird. Das setzt natürlich so etwas wie Graduierbarkeit von Narrativität voraus. Das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen Kanäle erklärt und beschreibt Horstmann auch anhand von "Reduktion und postdramatischer Reizüberflutung" (S. 129). Dazu analysiert Horstmann, wie sich einzelne Kanäle gegenseitig unterstützen oder aber widersprechen. Das eine Ende dieser skalierbaren Relation stellt das postdramatische Theater dar, "in dem die Grenzen zwischen den Kanälen häufig gezielt verwischt und andere Ebene betont werden" (S. 133), am anderen Ende liegt der Fall, in dem sich alle Kanäle gegenseitig unterstützen. Konkrete Beispielanalysen von Nicolas Stemanns Faust, Jette Steckels Der Fremde und Bastian Krafts Orlando (alle aus dem Jahr 2011) am Ende des Bandes sollen die Anwendbarkeit des TRS unter Beweis stellen.

Der Untersuchung liegen zahlreiche Irrtümer, Widersprüche, Verallgemeinerungen und Missverständnisse zugrunde. Stanzels Romantypologie von 1955 beinhaltet vier und nicht drei Erzählsituationen. Der darin noch vorgesehene neutrale Erzähler wird nämlich erst später von Stanzel aufgegeben. Bei seinen Ausführungen zum gleichzeitigen Erzählen vergisst Horstmann auf die Möglichkeit des gleichzeitigen Erzählens gleichzeitiger und nicht gleichzeitiger Ereignisse; bei der Funktion des epischen Präteritums widerspricht er sich an unterschiedlichen Stellen. Mit telling vs. showing ist entgegen der Annahme Horstmanns nicht gemeint, dass eine fiktive Erzählinstanz etwas sprachlich erzählt oder visuell zeigt. Weitere Unstimmigkeiten betreffen Fiktionalität, Gattungstrias, Funktion fiktiver Erzähler, Episierung im Drama, Raumwahrnehmung von Blinden, Rolle des Zuschauers, ideologische Perspektive und das Perspektivmodell von Wolf Schmid überhaupt. Eigentlich benötigt Horstmann viele der erwähnten Positionen für seine Theaternarratologie aber nicht. Deshalb bleibt die Funktionsweise des Theatralen Repräsentationssytem (TRS) nachvollziehbar.

Die Verbindung von Narrativität und Performativität in Horstmanns Theaternarratologie ist trotz seiner Schwächen ein gelungener Vorstoß im Zuge des narrative turn, der dazu geführt hat, dass mittlerweile viele Disziplinen auch (zuweilen weit) abseits von Literatur, Film und Theater die universale Bedeutung des Erzählens anerkennen und narratologische Einsichten anwenden.

Autor/innen-Biografie

Christian Benesch

Christian Benesch, geboren 1976 in Wien, studierte Germanistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Danach absolvierte er das Lehramtsstudium für die Unterrichtsfächer Deutsch und Geschichte. In seiner Doktorarbeit, betreut von Univ.-Prof. Mag. Dr. Stefan Krammer, beschäftigt er sich derzeit mit dem Phänomen der Dramatisierung österreichischer Romane der Gegenwart. Christian Benesch unterrichtet Deutsch und Geschichte an einer berufsbildenden höheren Schule in Wien. Im schulischen Kontext interessiert er sich besonders für die Vermittlung von Literatur und Film in der Schule und anderswo. Er ist auch in der Lehreraus- und -weiterbildung tätig.

Publikationen:

- "Ein Schelm, wer Bühne dabei denkt: Zwei Arten eine Geschichte zu präsentieren. Zur Dramatisierung des »Schelmenromans« Die Abenteuer des Joel Spazierer von Michael Köhlmeier". (in Vorbereitung; erscheint in der Reihe Literatur & Gegenwart im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann)

- "Robert Seethalers Trafikant als Roman und Theaterstück". In: Standke, Jan (Hg.): Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule. WVT – Wissenschaftlicher Verlag Trier. (in Vorbereitung)

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Veröffentlicht

2020-05-25

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Rubrik

Theater