Heng Barone/Sanna Schulte/Sascha Tuchardt (Hg.): Figuren des Provokativen und Subversiven. Körper und Sexualität multimedial.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. ISBN: 978-3-8260-6831-7. 260 S., Preis: € 39,80.

Autor/innen

  • Jakob Larisch

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-07

Abstract

Eine Verschränkung von Kunst und Zeitgeist will dieser aus einem 2015 stattgefundenen Workshop hervorgegangene Sammelband in seiner Untersuchung von "Grenzüberschreitungen und Grenzverschiebungen" (S. 10) im Spannungsfeld der Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität ergründen. Doch die in der Einleitung beschworene "interdisziplinäre Ausrichtung" (ebd.), die auch das Wort "multimedial" im Buchtitel eindeutig nahelegt, bietet bereits konzeptionell Anlass zur Kritik, denn sie entpuppt sich als Luftschloss. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart eine eindeutige Schwerpunktsetzung hin zum geschriebenen Wort, welche durch die vollständige Lektüre nur konsolidiert wird: Neun von zwölf Aufsätzen drehen sich um Literatur, zwei um (im weitesten Sinne) Performance-Kunst, nur einer um Film. "Multimedial" ist anders. Medien wie Musik, die ebenfalls ein nachhaltiges Potenzial zu Provokation und Subversion in sich trägt; Gaming, das heute zu Recht immer wieder ins Bewusstsein der wissenschaftlichen/interdisziplinären Öffentlichkeit gerückt wird; oder was im weitesten Sinne unter die Bezeichnung "digitale Medien" fällt – sie alle bleiben vollkommen außen vor. Die Schwerpunktsetzung einer solchen Aufsatzsammlung ist selbstverständlich den Verantwortlichen überlassen, doch legen Titel und auch Einleitung eine inhaltliche bzw. thematische Breite nahe, die der Band nicht einzulösen vermag. Die Auswahl der einzelnen Stoffe und Beispiele mutet unter einem literatur- bzw. medienhistorischen Blickwinkel zudem etwas arbiträr an. Eine innere Kohärenz ist (jenseits des Leitthemas) nur schwer erkennbar.

Das "Provokative und Subversive" aus den jeweiligen Untersuchungsgegenständen herauszuarbeiten, gelingt einigen Aufsätzen nur eher oberflächlich, anderen sehr gut, wobei einige von ihnen durchaus spannende neue Blickwinkel auf ihr Sujet eröffnen. Dahingehend sehr gelungen sind etwa die Beiträge von Anja Manneck, Franziska Flossmann und Sascha Tuchardt. So widmet sich Manneck Frank Wedekinds Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenem Dialog Hans und Hanne (1903) sowie dem darauf basierenden Drama Tod und Teufel (Totentanz) (1905) und zeigt auf stringente Weise auf, wie ein "positiv bewerteter Normverstoß […] zu einer Aufwertung der Figur [führt], die als 'emphatisches Leben' […] bezeichnet werden kann." (S. 50) Nicht die Einhaltung, sondern gerade der – in diesem Falle durch Prostitution sowie Sadomasochismus vollzogene – Verstoß gegen die im Text geltenden gesellschaftlichen Normen ermögliche einen zumindest temporären, jedoch letzten Endes tödlich endenden Verstoß gegen die Zwänge der sich durch eine "Unvereinbarkeit [mit] positiver Sexualität" (S. 54) auszeichnenden bürgerlichen Gesellschaft. Flossmann beschäftigt sich derweil mit Hermann Ungars Roman Die Verstümmelten (1922) und liest mit Hilfe einer Foucault'schen Volte die "beklemmenden Bilder körperlicher Ich-Dissoziation" (S. 64) des Romans als historisch-soziale Einschreibungen: "Der Körper der Figuren ist Repräsentant der Repression und zugleich das von der Repression leiblich Betroffene" (S. 76), wobei der jüdische Autor gezielt antisemitische Stereotype aufgreift, ausstellt und letztlich dekonstruiert (vgl. S. 70ff). Tuchardt befasst sich schließlich mit drei Romanen der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek – Die Ausgesperrten (1980), Die Klavierspielerin (1983) und Lust (1989) – und analysiert dicht an den Primärtexten das immer wieder auf satirische Weise porträtierte Beziehungsnetz von Beschreibungen der Natur mit Faktoren wie Sexualität, Macht, Ökonomie, Kommerz und kultureller Identität: "Jelinek [verschweißt] die Abgründe ihrer Figuren und Konflikte mit der Natur." (S. 166) Die Aufsätze von Elisa Meyer über Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930), von Vera Heinen über Edgar Hilsenraths Romane Nacht (1964) und Moskauer Orgasmus (1979) sowie von Christina Grevenbrock über die Installationskunst von Olaf Breuning sind ebenfalls argumentativ plausibel und thematisch stimmig, wenn auch in ihren politischen Schlussfolgerungen nicht ganz so tiefgreifend.

Die weiteren Beiträge müssen sich jedoch teils Kritik gefallen lassen: Der Aufsatz von Tamara Fröhler über Ovids antike Schrift Narcissus et Echo ist zwar argumentativ konsistent und in sich schlüssig, jedoch wirkt die grundlegende Hypothese des Narziss als "geschlechtlich polyvalente[r] und nicht klar begrenzte[r] Transvestit-Doppelgänger" (S. 24) etwas forciert bzw. konstruiert, zumal essentialistische Zuschreibungen von Geschlechterrollen bzw. -stereotypen bestehen bleiben und eine politische Positionierung – im Gegensatz zu den drei zuvor herausgehobenen Beiträgen – kaum stattfindet. Eine Perpetuierung essentialistischer Muster besteht ebenfalls im Beitrag von Sanna Schulte, der sich mit Erica Pedrettis Roman Valerie oder Das unerzogene Auge (1986) auseinandersetzt und im Fazit der Analyse der Beziehung von männlichem Maler und weiblichem Modell auf etwas plakative Weise davon ausgeht, dass "der weibliche Körper an den Objektstatus gebunden ist und für schlichtweg alles zur Projektionsfläche werden kann." (S. 188) Solche Verabsolutierungen verunmöglichen jedoch einen Diskurs über potenzielle subversive Strategien, indem sie bestimmte soziale Gegebenheiten grundlos als unhintergehbar entwerfen und damit wiederum selbst an Prozessen kultureller Konstruktion beteiligt sind. Leonie Süwolto vermag in ihrem Aufsatz über Andreas Dresens Film Wolke 9 (DE 2008) zunächst überzeugend zu belegen, dass die in der Öffentlichkeit als Tabubruch wahrgenommene Darstellung von "Alterssexualität" (S. 223) insbesondere durch den Einsatz von Genrekonventionen des Melodrams letztendlich wieder in gängigen Darstellungsmustern "normativer Leitbilder des jungen Alters" (S. 226) mündet, wodurch ihr subversives Potenzial einer grundlegenden Enttabuisierung des Alters jenseits einer Bestimmung ex negativo "als Negation der Jugend" (S. 226) entschärft wird. Gleichwohl vermag der Beitrag – gerade mit Blick auf die immer wieder hervorgehobene quasi-dokumentarische Ästhetik des Films – gegen Ende nicht zwischen abstrakten gesellschaftlichen Strukturen und deren konkreten Auswirkungen zu unterscheiden, wenn die Reaktion des betrogenen Ehemanns auf das Affären-Eingeständnis seiner Frau sowie sein anschließender Suizid sehr verkürzt als "moralische[r] Dolchstoß" gelesen wird, "der die angekratzte Fassade eines gesellschaftlichen Norm- und Wertesystems zu restaurieren vermag." (S. 236) Thorsten Bothe wirkt in seinem Aufsatz über Muriel Sparks The Driver's Seat (deutscher Titel: Töte mich!, 1970) mit Formulierungen wie der Bezeichnung des Primärtextes als "eine anhand von Indizien überbordende Provokationsmaschine" (S. 151) etwas zu sehr bemüht, die eigentlich dezidiert vorhandene provokante Natur der Novelle herauszuarbeiten; auch findet eine Anbindung der Thematisierung von Autoassassinophilie (Lustgewinn durch den möglichen eigenen Tod) an einen politischen bzw. gesellschaftlichen Zeitgeist nicht statt. Heng Barone macht die subversive Natur von Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) an einem alternativen "Sprachkonzept" (S. 243) fest, das auf einer rhetorischen Ebene "Bedeutungsverschiebungen [generiert], die […] zementierte Körpervorstellungen im Allgemeinen unterlaufen." (S. 247) Gleichwohl werden die Aussagen der Autorin hinsichtlich ihrer im Prozess des Schreibens vollzogenen "Selbstbefreiung" (S. 251) nicht hinterfragt; auch die gesellschaftlichen Konsequenzen eines "enthemmte[n] Sprechen[s] über Körperlichkeit" (ebd.) sehen sich in ihrer Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit keiner Reflexion ausgesetzt. Der Aufsatz von Christian Wimplinger über Christoph Schlingensiefs "Container-Aktion" Bitte liebt Österreich (2000) verliert sich in einer körper- und bildtheoretischen Selbstbezüglichkeit und lässt (trotz einiger Hinweise auf Big Brother) eine nachhaltige politische Fundierung nahezu vollkommen vermissen. Der Beitrag von Till Dahlmanns über Gottfrieds Tristan (Anfang des 13. Jahrhunderts) weist schließlich keinerlei Anknüpfungspunkte an das Leitthema der Provokation und Subversion auf; die Anbindung an den alles überspannenden Gegenstand des Buches, das zentrale Erkenntnisinteresse und damit den Sammelband als Ganzes bleibt unklar.

Der Band richtet sich eindeutig an Personen mit einem literatur- bzw. medien- oder kulturwissenschaftlichen Hintergrund und ist als Einstieg in die Thematik kaum geeignet. Die Beiträge sind inhaltlich wie qualitativ heterogen, dabei ist insbesondere das bereits erwähnte Postulat einer vorgeblich multimedialen Ausrichtung, die im Endeffekt jedoch kaum eingehalten wird, etwas ärgerlich. Zudem treten in der Gesamtbetrachtung das Gestern und das Heute ebenso wie das Populäre und das Etablierte kaum in einen nachhaltigen Dialog – sie agieren nur selten miteinander, sondern stehen meist eher nebeneinander.

Autor/innen-Biografie

Jakob Larisch

Jakob Larisch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und promoviert dort zum Thema Filmzensur.

Aktuelle Publikationen:

Jakob Larisch: "Exzess – Attraktion – Subversion. Zur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm". In: Grenzen des Sag- und Zeigbaren. Humor im Bild von 1900 bis heute. Hg. v. Frank Becker/Antonia Gießmann-Konrads, Darmstadt: wbg Academic 2020, S. 101-117.

Jakob Larisch: "Produktiver Störfaktor. Gewaltdarstellung und Exzess in den Filmen Nicolas Winding Refns". In: Film-Konzepte Heft 54: Nicolas Winding Refn. Hg. v. Jörg von Brincken, München: edition text + kritik 2019, S. 8-20.

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Veröffentlicht

2020-11-18

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Rubrik

Film