Lisa Handel: Ontomedialität. Eine medienphilosophische Perspektive auf die aktuelle Neuverhandlung der Ontologie.

Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4059-5. 420 S., Preis: € 39,99.

Autor/innen

  • Stephan Trinkaus

Abstract

Ontomedialität heißt die 2019 in der von Reinhold Görling herausgegebenen Reihe Medienkulturanalyse im transcript Verlag erschienene Fassung der preisgekrönten Dissertation "Maschinengeschichten und Prozesswelten. Interferenzmuster des Ontomedialen zwischen Technowissenschaften und Prozessphilosophien", die Lisa Handel 2017 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereicht hat. Die prominente Betonung des Neologismus Ontomedialität in der Buchfassung scheint erst einmal das komplexe Geflecht, das der Originaltitel andeutet, auf eine einzige Bedeutung festzulegen. Hat man sich aber erst einmal eingelassen auf die herausfordernde und überaus lohnende Lektüre dieser über 400 Seiten starken Arbeit, erweist sich Ontomedialität als glückliche Begriffsfindung, die den derzeitigen – wie es im Untertitel der Buchveröffentlichung heißt – "Neuverhandlungen der Ontologie" wichtige Impulse zu geben vermag.

Das Konzept des Ontomedialen spielt denn auch tatsächlich eine wichtige Rolle in diesem Buch, bedeutsamer erscheint aber erst einmal eine andere Figur: die des Monsters. So lautet gleich die erste Kapitelüberschrift "Die Geburt eines Monsters". Und man kann sicher ohne Übertreibung sagen, dass es hier gelingt, ein solches hervorzubringen: Ontomedialität, das Buch, das Konzept, ist monströs. Es ist ein Monster ganz im Sinne von Susan Strykers (hier nur indirekt aufgegriffenem) queer-feministischem Bekenntnis: "I want to lay claim to the dark power of my monstrous identity without using it as a weapon against others or being wounded by it myself" (Stryker S. 240).

Auch Ontomedialität handelt von dieser Macht queerer Monstrosität, die nicht übergehen will in eine nach Disziplinen, Entitäten und Identitäten geordnete Welt und macht daraus ein überbordendes theoretisches Abenteuer, das die Schauplätze der Wissenschaftskriege des 20. ebenso aufsucht, wie die smarten digitalen Umwelten des 21. Jahrhunderts: "Die Geschichte, die ich erzählen möchte, kreist um eine Reise, die nichts mit Ortsveränderung zu tun hat, sondern mit einer monströsen Verwandlung – vom Sein zu den Prozesswelten" (S. 35), so beginnt bspw. der erste Teil des Buches. Der letzte wiederum hebt an mit den Worten: "Lucky schlenderte gemächlich vom Liegebereich zur Kraftfutterstation" (S. 337). Das ist das Ausmaß dieses Abenteuers, dazwischen spannen sich Kapitel zu Kybernetik, Ontomacht, Komplexitätstheorie, Autopoiesis, Gegenverwirklichung, Prozessphilosophie und Quantentheorie, die den Faden dieser 'monströsen Implosion' immer wieder neu aufnehmen und anders konstellieren, ohne allzu viel Rücksicht auf disziplinäre Gewissheiten und Konventionen zu nehmen.

Dennoch führt dieses Buch nicht ins Chaos oder die Beliebigkeit, seine Sprache und seine theoretischen In(ter)ventionen sind immer klar und nachvollziehbar. Auch wenn sie mitunter in Regionen führen, bei denen der Boden zu schwanken beginnt: Die Argumentationsketten beruhen auf einer gründlichen Kenntnis der leitenden Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari, von Karen Barad und Donna Haraway, Jacques Derrida und Alfred North Whitehead, um hier nur einige zentrale Bezüge zu nennen. Das ist vielleicht eine der herausragenden Leistungen des Buches, dass es gelingt theoretisch klar und präzise zu argumentieren und zugleich diese Genauigkeit in eine 'diffraktive' Bewegung der Begegnung zu ziehen. Dafür stehen bspw. die Doppelüberschriften der vier großen Teile, in die das Buch gegliedert ist: I. Diffraktion/Concern, II. Emergenz/Werden, III. Quantum/Prozess und IV. Netze/Monster, die zugleich als Plateaus und Interferenzmuster bezeichnet werden. Und es ist nur folgerichtig, wenn die Figur des Monsters schon zu Beginn als eine solche Begegnung gefasst wird: "If one day, with one and the same concept, these two incompatible concepts, the event and the machine, where to be thought together, […] this new figure would resemble a monster" (S. 35). Aus dem, was Derrida in diesem Zitat andeutet, wird hier ernst gemacht: Dieses eine Konzept, das Maschine und Ereignis zusammendenkt, das ist der nicht gerade bescheidene, sondern eben monströse Anspruch, will Ontomedialität sein: Es geht darum, eine Bewegung zu entfalten, die die Trennung zwischen einer mechanizistischen materiellen Welt der Objekte und der frei schwebenden Immaterialität des menschlichen Geistes unterläuft. Nichts folgt hier einfach Gesetzen, ist einfach lokalisier- oder anders bestimmbar und nichts ist hier frei von der situativen, körperlichen Eingebundenheit allen irdischen Lebens und Sterbens.

Theorie wird hier nicht dazu benutzt, an der Bestimmbarkeit der Welt zu arbeiten, sondern dazu, auf ihre Nichtbestimmbarkeit, ihre Veränderbarkeit und Verletzbarkeit zu antworten. Im Grunde ist die Figur des Ontomedialen nichts anderes als der Versuch einer solchen Antwort. Das, was mit Emmanuel Lévinas "Unruhe des Seins" genannt wird, ist die Ununterscheidbarkeit von Ontologie und Medialität: Es gibt nichts, was dem Medialen vorausgeht, das Mediale ist das, womit angefangen werden muss. Wobei hier Medialität dann nicht mehr das Vermittelnde sein kann, das die Pole oder Objekte miteinander verbindet, es bezeichnet vielmehr ein Zwischen, aus dem sie erst hervorgehen. Ontomedialität wäre also der Versuch eines Denkens aus der Mitte, "penser par le milieu", wie Gilles Deleuze das ausgedrückt hat. Ontologisch ist hier also nicht die Substanz, das Objekt oder auch das menschliche Subjekt, sondern die Relation, die Beziehung, das Milieu, aus denen die Welt entsteht. Insofern handelt Ontomedialität von dezentrierten aber situierten Prozessen, von einem Übergang vom Sein zum Werden und nicht von der Gegebenheit einer verlässlichen Welt 'irgendwo da draußen'. Die Mitte, das ontomediale Zwischen ist die Grundlosigkeit von der aus das Buch seine monströsen Geschichten erzählt, von den Luftabwehrgeschützen der frühen Kybernetik bis zu Donna Haraways Chthulucene, das sich (angeblich) nicht auf H. P. Lovecrafts Monster bezieht, sondern ein Zeitalter der "queer messmates in mortal play" (S. 385) zu begründen sucht.

In diesem Buch steht viel auf dem Spiel: nicht nur die Grenzen zwischen Natur-, Lebens-, Technik-, Sozial- und Kulturwissenschaft, sondern die zwischen dem Lebendigen und dem Toten, dem Technischen und dem Organischem, dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen, das das Menschliche – wie Karen Barad schreibt – ist. Die zahllosen Figuren, Akteur_innen und Aktant_innen, Cyborgs und Monster, 'Superjekte' und Pferde, die hier auftreten, nehmen nicht nur für sich selbst Partei, sondern zuallererst für etwas, das sie verbindet ohne sie zu fixieren, sie ein für allemal festzulegen. Diese Verbindung, so verstehe ich das immer situierte, verkörperte Anliegen dieses Buches, ist ontomedial: Wir – und das ist ein zugleich sehr großes und sehr kleines Wir – kommen aus der Mitte, sind darin verbunden als Unähnliche, die sonst vielleicht nichts gemein haben. Unser Leben und Sterben hängt davon ab, 'dass' wir uns antworten, 'was' wir uns antworten, dass wir die Ontomedialität dieses 'Wir' nicht in die Essenz einer Logik des Individuellen übergehen lassen.

Davon handeln auch die aktuellen ökologischen Herausforderungen der Klimakrise, des sogenannten 'Anthropozäns', aber auch der Digitalisierung, die sich durch das Buch ziehen, vielleicht nicht als rote Fäden, aber doch als Fadenspiele. Sie werden gewoben in die theoretischen Verkörperungen und empirio-historischen Inszenierungen, die sich dagegen sperren, eine Distanz zwischen sich und die Welt zu ziehen. Ontomedialität ist in diesem Sinne nicht neutral und nicht objektiv, sondern der Versuch eines teilnehmenden, intra-agierenden Schreibens und Denkens, das der Welt, aus der es kommt, zu begegnen versucht. Auch in diesem Sinne ist Ontomedialität ein im besten Sinne intervenierendes, queer-feministisches, ökologisches Buch, das in der ganzen Ernsthaftigkeit eines Spiels, in dem es um mehr als unser Überleben geht, das Anderswerden der Welt befürwortet: "Das irdische Spiel fällt nicht in eins mit dem kybernetischen Dogma des Neuen und der Kreativität als Gesetz des Universums", heißt es ganz am Ende, "sondern situiert sich als ein concern for im Sinne Whiteheads: es geht hier ernstlich um uns irdische 'critter' (Haraway), […] eine Gemeinschaft der sterblichen Monster – um das Ver-Antworten dieses endlich-irdisch-sterblichen Spielens selbst" (S. 406).

Kurz: ich möchte Ihnen hier gern die weder neutrale – ich kenne seine Autorin ganz gut –  noch irgendwie objektive – ich fühle mich seinen Anliegen auf vielfache Weise verpflichtet – Empfehlung geben, an diesem Anderswerden teilzuhaben, dieses Buch zu lesen!

 

Nachweise

Karen Barad: "Berühren – Das Nichtmenschliche, das ich also bin". In: Macht des Materials/Politik der Materialität. Hg. v. Witzgall/Stakemeier, Zürich/Berlin 2014, S. 163-176.

Susan Stryker: "My Words to Victor Frankenstein above the Village of Chamounix: Performing Transgender Rage". In: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 1/3, 1994, S. 237–254.

Autor/innen-Biografie

Stephan Trinkaus

Stephan Trinkaus hat lange am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gearbeitet und dort auch 2017 mit der Arbeit 'Prekäre Gemeinschaft – Zu einer diffraktiven Theorie des Haltens' habilitiert. Er hat in Köln und Düsseldorf medienwissenschaftliche Professuren vertreten und war im Sommer 2015 Gastprofessor am Institut für Theater, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Derzeit ist er am Arbeitsbereich Geschlechtersoziologie der Universität Bielefeld tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Prekarität und Geschlecht, New Materialism, Psychoanalyse, Post- und Dekolonialität, TV/Screen-Studies, Queer Theory.

Aktuelle Publikationen:

Stephan Trinkaus: "Mit-Schreiben – Versuche einer kleinen medienwissenschaftlichen Empirie". In: Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM) 1/20, 2019, S. 66-77.

-: "Wissen, Materialität, Sorge: Into the Chthulucene II". In: Wessen Wissen? Situiertheit und Materialität der Künste. Hg. v. Kathrin Busch/Christina Dörfling/Kathrin Peters/Ildiko Szántó. Paderborn 2018, S. s89-s102.

-: "'Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis.' Das Froschgesicht des Films bei Walter Benjamin mit Karen Barad". In: Walter Benjamin und das Kino. Wirkungen und Korrespondenzen. Maske und Kothurn 60/3-4 2018. Hg. v. Christian Schulte/Birgit Haberpeuntner/Valentin Mertes/Veronika Schweigl. Wien 2019, S. 231-241.

-: "'Everything stays down where it’s wounded' – Precarious Ontologies and Ecologies of Poison". In: Poison and Poisoning in Science, Fiction and Cinema - Precarious Identities. Hg. v. Heike Klippel/Bettina Wahrig/Anke Zechner. London 2017, S. 75-86.

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Veröffentlicht

2019-11-19

Ausgabe

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Medien