Nadja Köffler: Vivian Maier und der gespiegelte Blick. Fotografische Positionen zu Frauenbildern im Selbstporträt.
Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4700-6. 248 S., Preis: € 29,99.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-16Abstract
Der Name Vivian Maier ist vielen ein Begriff, nicht nur aufgrund des 2013 erschienenen Dokumentarfilms Finding Vivian Maier, produziert von John Maloof und Charlie Siskel, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich in den letzten Jahren Publikationen zu Maiers Leben und Werk buchstäblich häuften. Da sich Maier zu Lebzeiten gegen die Veröffentlichung ihrer Bilder entschieden hatte, stellt ihre Person sowie ihr Werk eine Faszination für viele dar und kurbelt Debatten zum künstlerischen Wert ihrer Aufnahmen an. Auf der Suche nach der "real story" von Vivian Maier, versprechen diverse Studien das Rätsel der "mistery woman" oder der "nanny-photographer" Maier zu lösen (S. 42). Dass, schon aufgrund dieser von aufgeladenen und teils stigmatisierenden Begriffen gezeichneten Entwicklung, Nadja Köfflers kürzlich erschienene Studie Vivian Maier und der gespiegelte Blick. Fotografische Positionen zu Frauenbildern im Selbstportrait ein Gegennarrativ zu dem bisher kreierten Bild der Künstlerin schaffen musste, war der Autorin durchaus bewusst und gekonnt stellt sich die Medien-, Bild- und Bildungswissenschaftlerin an der Universität Innsbruck dieser Herausforderung. Die Gegenposition, die Köffler in ihrem Buch einnimmt, bestimmt sich in erster Linie dadurch, dass sie sich gegen spekulative Charaktereigenschaften der Künstlerin wehrt und das Werk selbst sowie den Umgang mit Maiers Nachlass ins Zentrum ihrer Untersuchung rückt. Obgleich Köffler selbst eingesteht, dass sie anfänglich der Versuchung unterlag, "in Maiers Fotografien Indizien für ihre Persönlichkeitsstruktur finden zu müssen" (S. 39), wählte die Autorin doch einen anderen Ansatz. Köffler machte es sich zur Aufgabe durch eine genderrelevante, kunsthistorische, bildwissenschaftliche sowie den aktuellen Kunstmarkt betreffende Kontextualisierung, verkürzte, verklärte oder eindimensionale Darstellungen der Künstlerin infrage zu stellen und präsentiert damit Maier als ernstzunehmende und scharfsinnige Fotografin mit kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit.
Es mag zwar irritierend wirken, dass ein Buch über eine Fotografin und deren Selbstporträts ohne eine einzige abgedruckte Fotografie auskommt, jedoch viele weiße Flecken zwischen den Textzeilen präsentiert. Von dieser visuellen Irritation sollten sich Leser*innen jedoch nicht abhalten lassen weiter in die Lektüre einzutauchen. Denn die äußerst reflektierte, argumentativ starke und überzeugende Erläuterung, weshalb – abgesehen vom Umschlagbild von Anna Kus Park, einer Zeichnung von Jessica Krecklo Naidu und einer Collage von Nadja Köffler selbst – keine Abbildungen im Buch zu finden sind und sich die Autorin gezwungenermaßen dazu entschied diese mit auf QR-Codes verweisende Abbildungsrahmen zu ersetzen, ist eines der Highlights des Buchs. Auch verknüpft die Autorin schon im Prolog diese Entscheidung mit den Grundthematiken ihrer Studie, nämlich der Frage, wie mit dem Nachlass einer Künstlerin umgegangen werden soll, die selbst nicht veröffentlichen wollte und dennoch mit dem Selbstporträt eine Darstellungsform wählte, welche nicht nur dokumentiert, „daß es sie gibt“ sondern ebenso, „daß es sie gegeben haben wird“ (Bronfen 2001, S. 24, zitiert nach Köffler S. 216). Auch behandelt sie, wie der zufällige Fund von Maiers Werk zu einem Millionengeschäft wurde und wie durch die Verwaltung ihrer Bilder durch die Finder bzw. selbsterkorenen Rechtsinhaber, sexistisch geprägte Narrative zu einer weiblichen Biografie entstehen oder weshalb das fotografische Werk selbst nur bedingt Informationen zum Leben der Künstlerin geben, jedoch über politische, noch konkreter feministische Positionen sprechen kann.
Schon Martin Sexls Geleitwort zu Köfflers Studie führt mit Fokus auf kapitalistische Strukturen des Kunstmarktes in die Thematik ein und zeichnet ein Netzwerk sexueller und ökonomischer Machtverhältnisse nach, welchem weibliche Kunstschaffende ausgesetzt sind. Köffler exemplifiziert diese Zusammenhänge ausführlich anhand von Vivian Maier. Auf den Prolog und ein einführendes Kapitel zur bisherigen Forschung zu Maier folgt das Kapitel "Vom Werk zur Fotografin". Der Titel spiegelt nicht nur eine chronologische Entwicklung wider, in der erst das Werk und dann die Person entdeckt wurde, sondern soll ebenso den Duktus Köfflers Studie betonen, "der die 'Erstarrtheit des Blicks' im Maier-Diskurs kritisieren will" (S. 54). Der Kritik folgend, dass vergangene Arbeiten zur Künstlerin an ihrer Biografie haften blieben und das Werk aus dem Blick geriet, weist die Gliederung des Kapitels jene Struktur auf, die Köffler mit ihrem Titel fordert und verhandelt erst nach der Auseinandersetzung mit dem Werk und der Frage, wem der Nachlass Maiers überhaupt gehöre, Biografisches bzw. biografische Konstruktionen. Die Autorin stellt die Frage, "Wer war Vivian Maier nun? Eine Eigenbrödlerin? Eine Cineastin und Kunstinteressierte? Eine Hexe? Eine Feministin und Idealistin?" (S. 76). Die biografischen Lücken anerkennend, begibt sich Köffler jedoch nicht in eine Pattsituation, indem sie selbst versucht Maiers Biografie neu zu schreiben, viel mehr macht sie Prozesse der Wissensgenerierung um Maiers Person transparent, beispielsweise indem sie erörtert, welche Effekte der Dokumentarfilm Finding Vivian Maier hatte, der ausschließlich ehemalige Ziehkinder von Maier interviewte, jedoch keine Person, die ihr in ihrer Schaffensphase nahe stand und ihre künstlerischen oder politischen Ambitionen einschätzen hätte können.
Kapitel 3 stellt schließlich die zentrale Frage, inwiefern das Selbstporträt als eine feministische Artikulation verstanden werden kann. Maiers Werk wird demnach nicht nur kunsthistorisch kontextualisiert, sondern auch im Spannungsverhältnis von Selbstporträt und Identität behandelt. Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Kerstin Brandes und Marie-Luise Angerer plädiert die Autorin für einen Medienbegriff, der die Fotografie nicht auf ihre Abbildungsfunktion reduziert, sondern sie als Instrument zur Herstellung, Konstruktion und Dekonstruktion von Identität versteht. Damit legt sie gleichzeitig einen Identitätsbegriff nahe, der Brandes und Stuart Hall folgend die "diskursive Konstruiertheit und Kontingenz von Identität zwischen Prozessualität und Fixierung zu fassen versucht und damit vor allem das Handlungsmoment und die potentielle Veränderbarkeit von Identität" (S. 91) unterstreicht. Um weiters das feministische Potential von Selbstporträts zu besprechen, stellt Köffler das Werk in die Tradition weiblicher Fotografinnen der 1920er und 1930er Jahre, die durch ihr Schaffen nicht nur Maier beeinflussten, sondern ebenso Geschlechterstereotypen sowie Blickpositionen infrage stellten. Auch andere dekonstruierende wie auch normierende Entwicklungen innerhalb der Visuellen Kultur und in Bezug auf Weiblichkeitsdarstellungen (beispielsweise anhand der 'Neuen Frau' oder der 'Kodak Girls') und Geschlechterstereotypen stellt Köffler vor.
Bereits tief eingetaucht in feministische Positionen von Selbstporträts, scheint es überraschend, dass im darauffolgenden vierten Kapitel methodische Überlegungen besprochen werden, welche die Leser*innen wohl eher zu Beginn der Studie erwartet hätten. Tatsächlich stellt dieses Kapitel einen Schnitt bzw. die Überleitung zum zweiten Teil des Buches dar, in dem die Autorin bildanalytisch das Werk Maiers untersucht. Köffler orientiert sich hierfür primär an Benita Herders Überlegungen zur Funktion von Bildern in der Erkenntnistheorie sowie an Ralf Bohnsacks ikonologisch-ikonische Bildanalysemethode. Dieser Ansatz führt schließlich zur Festlegung von sechs Porträtkategorien, die weiterführend untersucht werden: dem Schattenporträt, dem Beziehungsporträt mit weiblich konnotiertem Sujet, dem selbstfokussierenden Porträt, dem Reflexions- bzw. Spiegelungsporträt (Mehrfachspiegelung wie auch Einfachspiegelung) sowie dem kameralosen bzw. kameradistanzierenden Porträt. Köffler beweist in ihren Beschreibungen ausgewählter Fotografien einen analytisch geschulten Blick und präsentiert in den ikonologisch-ikonischen Interpretationen strukturiert Analyseergebnisse, die Maiers Werk in Kontexten feministischen Kunstschaffens verorten. Die Adaptierung der recht schematischen Bohnsack'schen Methode führt jedoch dazu, dass Bildbeschreibung und -analyse bzw. kunsthistorischer, kultureller und politischer Kontext voneinander entkoppelt wirken. Dass das letzte Kapitel eine "Gesamtinterpretation und fotohistorische Kontextualisierung" (S. 191) ist, verstärkt zwar diesen Eindruck, soll dem Inhalt jedoch nichts abtun, denn Köffler stellt darin präzise, strukturiert und mit bemerkenswerter Weitsichtigkeit die Ergebnisse ihrer Studie vor. Nach veranschaulichender Gegenüberstellung unterschiedlicher Blickpositionen sowie auch von Öffentlichkeit und Privatheit von Maiers Werk, kommt die Autorin zum Schluss, dass die Überzeugung, "Maier hätte ihre Fotografien keinesfalls einem öffentlichen Diskurs aussetzen wollen" infrage gestellt werden müsse. Maiers Porträts seien "zu auffordernd und affirmativ", ihre Blicke würden "wiederholt die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter" treffen, sie würden "'Sieh her!', 'Schau mich an!'" rufen und "den Blick durch eigenwillige Bildkompositionen und Blickkonstellationen" halten (S. 216). Nadja Köfflers Studie hat es geschafft, Vivian Maier nicht auf spekulative, sexistische und stigmatisierende Narrative zu ihrer Person zu reduzieren, Einblick in die Maier-Forschung zu geben, sich wenn nötig davon abzugrenzen und gleichzeitig neue wie auch kunsthistorisch gewachsene Positionen aufzumachen, indem das Werk ins Zentrum gestellt wurde – das Werk einer ernstzunehmenden Künstlerin, die ebenso wie die Autorin einen weitsichtigen und gesellschaftskritischen Blick bewiesen hat.
Quellennachweise
Bronfen, Elisabeth (2001): "Frauen sehen Frauen sehen Frauen". In: Lothar Schirmer (Hg.). Frauen sehen Frauen. Eine Bildgeschichte der Frauen-Photographie. München: Schirmer/Mosel, S. 9-34.
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