Markus Rautzenberg: Bild und Spiel. Medien der Ungewissheit.

Paderborn: Fink 2020. ISBN: 978-3-7705-6432-3. 251 S., Preis: € 60,65.

Autor/innen

  • Tim Glaser

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-15

Abstract

In Markus Rautzenbergs neuester Monographie Bild und Spiel. Medien der Ungewissheit werden die audiovisuellen, medialen, kulturellen und technologischen Konfigurationen Bild und Spiel mit der Erfahrung von radikaler Ungewissheit, dem Umgang mit Unsicherheit und dem Erkunden von Unbestimmtheit in Bezug gesetzt. Kontingenz wird in diesem Kontext sowohl als eine grundlegende Bedingung menschlichen Lebens verstanden, als auch als "wesentliches Merkmal heutiger hochtechnisierter und globalisierter Kulturen" (S. 3) – verwiesen wird dabei unter anderem auf ihre Rolle innerhalb poststrukturalistischer Theorien oder als Grundlage für mathematisch berechnete Spekulationen im Kapitalismus. Medien erlauben nicht nur die Erfahrung von Kontingenz, sondern ermöglichen auch, dass mit ihr und durch sie gehandelt wird. Kontingenz kann beispielsweise domestiziert werden – die Beherrschung der Ungewissheit als die Zweckrationalität des Krieges – oder sie kann in Alltagspraktiken aufgehen – die Illusion der Unsterblichkeit im Computerspiel und die Wiederholbarkeit von Praktiken in digitalen Medien. Zentral für den Umgang mit Kontingenz ist dabei das framing, denn als "framed uncertainty" (S. 10) wird Ungewissheit im zweifachen Sinne analysierbar: einerseits wird sie durch eine Differenz gerahmt; anderseits steht framed hier auch für hereingelegt, in eine Falle gelockt werden. Computerspiele stellen diese paradoxe Dopplung von framing aus, wenn sie die Lust am Zufall auf den narrativen und mechanischen Ebenen verhandeln, gleichzeitig dies aber nur auf Basis von mathematischer Berechenbarkeit geschieht, welche es wiederum nicht erlaubt "realen Zufall und Entropie zu generieren" (S. 10).

Ausgehend von dem Konzept der gerahmten und gebannten Kontingenz beschäftigt sich Rautzenberg im ersten Teil seiner Monographie mit Bildlichkeit, im Zweiten mit Ludik. Beide Auseinandersetzungen umfassen dabei sechs Kapitel. Die beiden Teile sollten jedoch nicht als getrennte Auseinandersetzungen gelesen werden, sondern als sich gegenseitig kommentierende Bereiche, denn es geht darum aufzuzeigen, "dass Bildlichkeit über Ludizität und das Computerspiel über die ihm eigene Ikonizität analysiert werden können" (S. 202). So werden ludische Epistemologien von Bildern und digitale Bildlichkeiten von Spielen ebenso untersucht, wie die Grenzen und Transgressionen zwischen verschiedenen medialen Konfigurationen und Wahrnehmungsformen. Die Wechselwirkungen von ikonischen und ludischen Medien verhandelt Rautzenberg im Verhältnis zu unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen, medientheoretischen, anthropologischen und medienphilosophischen Perspektiven. Dabei führt er verschiedene Stränge zusammen, die er zuvor in Artikeln und Vorträgen ausgeführt hatte. Trotz des Fokus' auf technologische und audiovisuelle Mediensysteme – insbesondere Fotografie, Spielfilm und Computerspiel – bezieht er historische Kontexte mit ein, insbesondere im Zusammenhang mit der europäischen Ideen-, Literatur- und Kunstgeschichte. Herausgestellt werden unter anderem die Bezüge zwischen Bild und Spiel als Medien der Ungewissheit und den Schriften von Roland Barthes, Gregory Bateson, Walter Benjamin, Martin Heidegger und Karl Marx.

Im ersten Teil des Bands wird Bildlichkeit als mediale Konfiguration analysiert, wobei der Schwerpunkt auf der Relevanz von nicht visuellen Elementen liegt. Das Ziel ist aufzuzeigen, wie diese Bildlichkeit als Wahrnehmungskategorie herausgefordert wird. Eine solche nicht visuelle Dimension von Bildlichkeit ist beispielsweise die Zuschreibung von Lebendigkeit an Photographien oder Computeranimationen. Die Ambivalenz der Untoten, die paradoxe Gleichzeitigkeit von Leben und Tod, wird anhand des Motivs des Zombies erläutert – wobei nicht nur auf die wandelnden Leichen der Popkultur eingegangen wird, sondern auch auf den unheimlichen Uncanny Valley-Effekt von computeranimierten Figuren, sowie auf die geisterhafte An- und Abwesenheit in Hitchcocks Vertigo (1958). Aufgezeigt wird dabei, dass optische "Eigensinnigkeit" oder "Eigendynamik" (S. 37) Irritation hervorrufen, welche die Ungewissheit als elementaren Teil der Wahrnehmung von Bildlichkeit festsetzen. Weitergehend wird mit dem Begriff der Evokation das Wechselspiel von auditiven und visuellen Medien beschrieben. Evokation – mit den verschiedenen anklingenden Bedeutungsebenen als Beschwörung, Ritual und Rhetorik – verweist auf das Wechselspiel von Sehen und Hören, vom Entzug und der Einsetzung von Stimmlichkeit als Wahrnehmungskategorie des Bildhaften. Ausgehend von Andrei Tarkowskijs filmischen Werk und Roland Barthes Texten über Fotographie, beschäftigt sich Rautzenberg mit dem Verhältnis von Sprache, Bild und dem Einfluss der traditionellen japanischen Gedichtform Haiku. Diese Form dient für Tarkowskij und Barthes als ein "Schlüssel zum Verständnis von Bildlichkeit, weil das Haiku die vermeintlich festen Grenzen von Bild und Sprache zur Disposition stellt" (S. 70). Ausgehend davon lassen sich nicht nur die inter-, sondern auch transmedialen Eigenschaften von Bildlichkeit in den Blick nehmen. Verhandelt werden daran anknüpfende Aspekte, wie Zeitlichkeit im Bild als verschiedene Formen von Intensivierung und Verdichtung und die Nicht-Darstellbarkeit des framings.

Computerspiele als "drangvolle Zeichenwelten, in denen alles Sinn machen muss" (S. 162) bilden den Knotenpunkt für den zweiten Teil des Buchs. Ausgangspunkt ist dabei die Spannung zwischen visuell generiertem Realismus, welcher dazu dient Involvierung und Immersion zu erzeugen, gegenüber der Selbstreferenz von Spielen, als bewusster Akt der Optimierung. Diese Opposition erzeugt einen Bruch zwischen der als unvermittelt erscheinenden Natürlichkeit der Spielwelt und der Künstlichkeit der erstellten Simulation. Als Medium ermöglichen Computerspiele die "simultane Koexistenz herkömmlicherweise inkompatibler Ebenen" (S. 14), wenn Partizipation (am Spielen) mit der Beobachtung (des Spielens) verschränkt wird. In diesem Zusammenhang geht Rautzenberg auf Kontingenz und ästhetische Erfahrung, das Wechselspiel von Intensität und Rhythmus, sowie den Einfluss von Evokation, experimentellen Anordnungen und der Epistemologisierung des Ästhetischen ein. Unter anderem werden in Bezug auf Räume und Typographien paradoxe Formen der Gleichzeitigkeit im Computerspiel untersucht. Anhand von Analysen von Diablo 3 (2012) und Bloodborne (2015) wird veranschaulicht, wie diese mit der Differenz zwischen mathematischer, logischer Berechnung und der Lust an Kontingenz, als Erfahrung von Zufall in Spielmechanik und Narrativen, umgehen. Die Spielmechanik des sich stetig wiederholenden Ansammelns von zufälligen Gegenständen, die grundlegende Handlungsschleife in Diablo 3, sowie die Etablierung eines Aktionshauses, werden in Relation zum Warenfetisch nach Marx gesetzt, um aufzuzeigen, wie durch diese Praktiken virtuelle Gegenstände zu Statussymbolen und Spielen zu einer Form der Arbeit werden. In Bloodborne wiederum wird Ungewissheit auf der narrativen Ebene inszeniert, in der Verlassenheit als Grundstimmung des Spiels, welche im Kontrast zu den komplexen Mechaniken steht. Rautzenberg schlussfolgert: "Computerspiele entlasten und entwöhnen von Kontingenzerfahrung" (S. 118), indem sie gleichzeitig die Lust am Zufall als spielerische Auseinandersetzung mit Kontrolle und Probehandlung ausstellen, als auch das Paradox der Kontingenz auf Basis von Berechnungen vermitteln. Virtuelle Topographien wiederum bilden in Computerspielen einen ludischen Möglichkeitsraum, welcher es Spieler_innen ermöglicht Kontingenz räumlich zu erkunden. Die Relation von Karte und Territorium nach Bateson wird in diesem spielerischem Umgang transformiert: "In der Exploration werden hier Karten zu Territorien, Orte zu Räumen und umgekehrt. Dabei wird die Differenz nicht verwischt, sondern sie zeigt sich in ihrer Interdependenz vor dem Hintergrund ihrer Differenz" (S. 134). Diese Umkehr lässt sich anhand des Einflusses der Höhlenforschung auf Computerspiele nachvollziehen – beispielsweise im Modus der Exploration, von Textadventures bis hin zu Tomb Raider (1996).

In Bild und Spiel. Medien der Ungewissheit verhandelt Rautzenberg den Umgang mit Kontingenz als "den geistigen, existenziellen, politischen und sozialen Problemhorizont der Gegenwart" (S. 202). Dabei nehmen die medialen Konfigurationen Bildlichkeit und Ludik als paradoxe Handlungs- und Erfahrungsräume in Bezug auf Wahrnehmung und Wissensgenerierung eine besondere Rolle ein. Im Umgang mit diesen Mediensystemen werden Ungewissheit, Unsicherheit und Unbestimmtheit nicht getilgt, jedoch ermöglichen die medialen Praktiken eine Auseinandersetzung Kontingenz und teilweise temporale Bewältigung dieser. Rautzenberg gelingt es, einerseits durch die Analyse von verschiedenen Computerspielen und Spielfilmen, anderseits in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskursen – beispielsweise mit Fokus auf nicht visuelle Dimensionen von Bildlichkeit, Evokation und Topografie – aufzuzeigen, wie Ungewissheit ge-framed wird, im Sinne von lustvoller Auseinandersetzung und der "Domestizierung von" (S. 205). Insbesondere Wissenschaftler_innen, die sich für die Überschneidung von medientheoretischen und philosophischen Perspektiven interessieren, können daher in dem Buch viele interessante Überlegungen und Anknüpfungspunkte finden. Gerade durch die Zusammenführung von Erkenntnistheorie und Wahrnehmung, sowie Bildwissenschaft und Computerspielforschung, wird in der Monographie aufgezeigt, wie diese oftmals getrennt betrachteten Bereiche von dieser wechselseitigen Durchkreuzung profitieren.

Autor/innen-Biografie

Tim Glaser

Tim Glaser (M.A.) arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig am Institut für Medienwissenschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Computerspielkulturen, Webcomics, digitale Medientheorie, sowie Plattformkapitalismus. Zuletzt war er im Projekt "Plan A – Planspiel Arbeitswelten der Zukunft" beteiligt. Weitere Informationen unter: www.timglaser.de.

Publikationen:

- Tim Glaser: "Steam und die Plattformisierung virtueller Güter. Eine Analyse der Waffenskin-Ökonomie in Counter-Strike: Global Offensive". In: Navigationen - Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 20/1 2020, S. 107-128.

- Rolf F. Nohr: "Von Rechenknechten, elektronischen Gehirnen und dem Glamour der IBM-650. Die Rolle des Computers für Unternehmungsplanspiele". In: Unternehmensplanspiele 1955–1975. Die Herstellung unternehmerischer Realität im Spiel. Hg. v. Rolf F. Nohr. Münster 2019, S. 229-278.

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Veröffentlicht

2020-11-18

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Medien