Etienne Souriau: Das filmische Universum. Schriften zur Ästhetik des Kinos.

Hg. v. Guido Kirsten. Paderborn: Fink 2020. ISBN: 978-3-7705-6436-1. 183 Seiten, 41,00 €.

Autor/innen

  • Dieter Merlin

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-11

Abstract

Die nun vorliegende deutschsprachige Publikation der filmtheoretischen Schriften des französischen Philosophen und "Filmologen" Étienne Souriau (1892-1979) war längst überfällig. Die Übersetzung aus dem Französischen erfolgte durch den Filmwissenschaftler Guido Kirsten, der aktuell an der Filmuniversität Babelsberg ein DFG-Projekt zu "Filmischen Diskursen des Mangels" leitet. Er hat aus dem umfangreichen philosophischen Werk Souriaus insgesamt vierzehn kürzere und längere Texte ausgewählt, die in Frankreich zwischen 1947 und 1990 veröffentlicht wurden und die erkennbar einen Bezug zur Ästhetik des Kinos aufweisen. Außerdem enthält das Buch eine Würdigung Souriaus von Seiten des Filmtheoretikers Christian Metz von 1980 ("Über ein Profil von Étienne Souriau"), die bislang nur als französischsprachiges Original sowie als englische Übersetzung vorlag. Im Hinblick auf zwei zentrale Souriau-Texte ("Beiträge der Ästhetik zur Filmologie – ihr Wesen und ihre Grenzen [1947]" und "Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie [1951]") konnte Kirsten auf die früheren Übersetzungen durch den Filmwissenschaftler Frank Kessler zurückgreifen, welche 1997 und 2003 in der Zeitschrift Montage AV erschienen waren; diese veröffentlichte Kirsten nun in überarbeiteter Form erneut. Der gesamte Band wird durch eine 23-seitige Einführung in die Filmtheorie Souriaus eingeleitet, in der Kirsten eine pointierte Kontextualisierung vornimmt, indem er die Grundzüge dieser Theorie an ontologische und ästhetische Prämissen anschließt, die im philosophischen Denken Souriaus erkennbar sind: insbesondere an seine multiperspektivische, mehrere "Existenzebenen" umfassende Realitätsauffassung.  

Bereits die Kessler-Übersetzung des Textes von 1951 ("Struktur des filmischen Universums […]", s.o.) hatte dazu beigetragen, dass der gleichermaßen elegant (teilweise fast literarisch) formulierte wie präzise argumentierte filmtheoretische Ansatz Souriaus in der deutschsprachigen Filmwissenschaft mit großem Interesse wahrgenommen wurde, vgl. z.B. die intensive Debatte zum Diegese-Begriff in der Montage AV (Jg. 16/2007, Heft 2). Es ist der von Kirsten vorgelegten Neu-Übersetzung zu wünschen, dass von ihr ähnliche Impulse ausgehen werden – zumal deutschsprachigen Leser*innen aufgrund der weiteren Texte, die in den Band aufgenommen wurden, nun ermöglicht wird, begriffliche Zusammenhänge in Souriaus Werk in einer größeren Breite nachzuvollziehen bzw. selbst herzustellen.

Eine knappe Annäherung an die Souriausche Terminologie sei hier wiedergegeben, um exemplarisch zu skizzieren, welches Themenfeld seine Filmtheorie berührt. In seinem oben genannten "Struktur"-Aufsatz (einer verschriftlichen Fassung einer Vorlesung, die im ersten Semester des Universitätsjahres 1950/51 an der Sorbonne gehalten wurde) unterscheidet Souriau acht verschiedene Perspektiven, welche bei der Rezeption eines Films im Kino aktiviert werden können: die afilmische, profilmische, filmografische, filmophane, leinwandliche, diegetische, spektatorielle und kreatorielle. Die genannten Perspektiven definiert Souriau als verschiedene "Existenzebenen" eines filmischen "Diskursuniversum[s]" (S. 52). Letzteres weise bestimmte Eigenschaften auf, die auf diesen acht Ebenen jeweils unterschiedlich ausfallen können. So umfasse die afilmische Realität alles, was während des Filmerlebnisses auf die nicht-filmische Wirklichkeit verweise, die auch unabhängig von den Filmaufnahmen existiere, z.B. auf eine Bergkette, die im Bildhintergrund zu sehen ist (insofern sie nicht durch das Abfilmen eines Modells zustande kam). Die profilmische Realität betreffe all das, was speziell für den Film präpariert worden sei, beispielsweise die Kostüme der Schauspieler*innen. Die filmografische Realität beziehe sich auf die Beschaffenheit des Filmmaterials; die filmophane Wirklichkeit hingegen auf die Gesamtheit der audiovisuellen Eindrücke, die im Kinosaal wahrgenommen würden und die mit der Filmprojektion in Zusammenhang stünden: der Ton aus den Lautsprecherboxen, die Veränderungen von Licht und ggf. Farbe auf der Leinwand (Kessler hatte sich 1997 in lautlicher Anlehnung an den im französischen Original verwendeten Begriff "filmophanique" für "filmophanisch" entschieden; vgl. dort insbesondere S. 150f., 157; Kirsten bevorzugt den Terminus "filmophan"). Als Spezialfall der filmophanen Ebene betrachtet Souriau die leinwandliche Realität; bei dieser seien die auditiven Komponenten ausgeklammert. Die diegetische Ebene sei die Gesamtheit desjenigen, was in der Vorstellungswelt der Zuschauer*innen als Realität der Fiktion unterstellt werde: die erzählte Geschichte und ihre Verortung innerhalb eines raumzeitlichen Rahmens. Bis hierhin handelt es sich Souriau zufolge um objektive Zuschreibungen. Im Gegensatz dazu korrespondieren die beiden letzten Ebenen, die er begrifflich unterscheidet – die spektatorielle und die kreatorielle – mit jeweils subjektiven Assoziationen; im ersten Fall denjenigen des Publikums, im zweiten denjenigen "[des] Schöpfer[s] des Films" (S. 63).

Das generische Maskulinum, das hier und an anderer Stelle von Souriau verwendet wird, weist, wie Kirsten in seiner Vorbemerkung zur Übersetzung vermerkt, auf eine in "den 1940er- und 1950er-Jahren […] in noch größerem Maße als heute […] patriarchalen Kultur" (S. 25) hin. Letztere äußert sich in den Texten Souriaus jedoch nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sie durchzieht auch die gedanklichen Konzeptionen: Dass DER Regisseur als DER Schöpfer eines Films gilt, weckt religiöse Konnotationen. Bewegungen der französischen Geistesgeschichte wie Strukturalismus, Poststrukturalismus oder Dekonstruktivismus haben derartige Hypothesen v.a. in Bezug auf die Literaturproduktion eingehend zum Gegenstand einer (teils vernichtenden) Ideologiekritik gemacht. Souriaus Filmtheorie, deren Grundlagen bereits entwickelt waren, bevor sich die genannten Strömungen durchzusetzen begannen (was der erste Text des Bandes, "Beiträge der Ästhetik zur Filmologie – ihr Wesen und ihre Grenzen [1947]" verdeutlicht), wirkt daher in mancher Hinsicht etwas antiquiert. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die 1951 verfassten, jedoch erst 1953 in dem Filmtheorie-Büchlein L’univers filmique (Das filmische Universum) publizierten Texte vergleichend dem bereits erwähnten, 1951 erschienenen "Struktur"-Aufsatz gegenüberstellt: Insbesondere den von Kirsten aus L’univers filmique ausgewählten Text "Das filmische Universum und seine wichtigsten Eigenschaften [1953]", der vertiefend auf das oben skizzierte Modell der acht Realitätsebenen eingeht, durchzieht ein (aus heutiger Perspektive) stark überzeichnendes Pathos. Das Filmerleben im Kino wird in diesem Text als die Teilhabe an einem quasi-religiösen Ereignis geschildert, in dessen Verlauf eine schöpferische Instanz passgenau auf das Publikum zugeschnittene Sinn-Konstruktionen vermittelt. So schreibt Souriau etwa: "Wir werden in das filmische Universum eingeladen. Es ist für uns gemacht, uns gewidmet. Es richtet sich an uns. Es hält uns einen Platz parat und trägt Sorge, dass wir von dort aus alles sehen und verstehen können, was interessant, bewegend, wichtig und bedeutsam erscheint" (S. 105).

Und dennoch – das wird auch im Kontext der anderen Texte deutlich, die Kirsten übersetzt hat –  verfügt der Ansatz Souriaus, das Filmerleben auf verschiedenen, simultan ablaufenden Realitätsebenen zu denken, die im Einzelnen auch im Widerspruch zueinander stehen können, über eine analytische Prägnanz, die einem ganzheitlichen Wahrnehmungseindruck geradezu entgegensteht. Der vielleicht offensichtlichste Widerspruch ist derjenige zwischen der filmophanen und der diegetischen Strukturierung von Raum und Zeit: Ein Filmschnitt, der auf der Leinwand zu sehen ist und der in Sekundenbruchteilen zwei unterschiedliche filmische Einstellungen miteinander verbindet bzw. voneinander trennt, kann auf diegetischer Ebene die Vorstellung evozieren, dass mehrere Jahre vergangen sind.

Die Texte Souriaus nehmen auf verblüffend aktuelle Weise filmtheoretische Überlegungen vorweg, die (in elaborierterer Form) erst wesentlich später von der breiten wissenschaftlichen Community reflektiert wurden. Dies gilt insbesondere auch für eine frühe Form der Intermedialitätstheorie, die von Souriau z.B. in "Filmologie und komparative Ästhetik [1952]" und in "Kino [1990]" (posthum publiziert, Entstehungszeit unbekannt) dargestellt wird. Und auch eine pädagogische Anmerkung Souriaus aus "Kultur und Kino [1957]" erweist sich aus heutiger Sicht als prophetisch: "Die Schule ist viel zu buchorientiert, ästhetisch einseitig aufgrund des enormen und übertriebenen Privilegs der Literatur […] auf Kosten der anderen Ausdrucksformen" (S. 155). Kirstens Übersetzung der Schriften Souriaus kommt das Verdienst zu, einer frühen Filmtheorie endlich die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihr – gerade auch in Bezug auf Kontexte der Filmvermittlung – zusteht, auch wenn man die historischen Verwerfungen, die in ihr eingewebt sind, stets mitreflektieren muss.

 

Literatur:

Souriau, Étienne: "Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie" [Orig.: "La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie", 1951]. Übersetzt von Frank Kessler. In: Montage AV, Jg. 6/1997, Heft 2 (Diegese), S. 140-157. URL: https://montage-av.de/pdf/1997_6_2_MontageAV/montage_AV_6_2_1997_140-157_Souriau_Filmologie.pdf, abgerufen am: 22.03.2021.

Souriau, Étienne (Hg.): L’univers filmique. Paris: Flammarion 1953.

Autor/innen-Biografie

Dieter Merlin

2012 binationale Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Université de Poitiers (Frankreich); 2012-2019 Gymnasiallehrer in Berlin; 2016-19 Lehrkraft für bes. Aufgaben in der Fachdidaktik Deutsch der Freien Universität Berlin; seit 2019 Universitätsassistent (Postdoktorand) am Institut für Germanistik der Universität Wien (Bereich: Literatur- und Mediendidaktik). Forschungsschwerpunkte: Filmdidaktik, Filmtheorie, Intermedialität.

Publikationen:

- "Auditive Dimensionen der Filmrezeption, am Beispiel ausgewählter Szenen aus Don’t Come Knocking (2005) und The Lone Ranger (2013, TV 1949)." In: Medien im Deutschunterricht (MiDU), Jg. 02/2020, Heft 2 (Multimodales Erzählen im Deutschunterricht II: Schrift – Bild – Ton), 18 S. URL: https://journals.ub.uni-koeln.de/index.php/midu/article/view/638/680, abgerufen am: 22.03.2021.

- "Immersivität, Empathie, Kritik – das unterschätzte Genre Documentary Short." In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung. Heft 3/2020 (Kurzfilme), S. 62-70.

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Veröffentlicht

2021-05-20

Ausgabe

Rubrik

Film