Alexander Kroll: TV-Serienästhetik der Grenzüberschreitung. Intensität und Reflexivität in 24 und anderen US-Qualitätsdramaserien der Post-9/11-Dekade.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. ISBN: 978-3-8260-6644-3. 376 Seiten, 44,80 €.

Autor/innen

  • Jana Zündel

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-08

Abstract

Alexander Krolls Dissertation TV-Serienästhetik der Grenzüberschreitung bohrt an dicken Brettern: Aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter hervorgegangen, befasst sich die Arbeit mit drei großen Themenfeldern: mit Fernseh(serien)ästhetik, der Darstellung und Reflexion von Gewalt mit besonderem Fokus auf Folterszenen und dem Post-9/11-Diskurs. Rückgebunden sind diese Themenfelder an die These von umfassenden "Grenzüberschreitungen" auf Darstellungs- und Erzählebene in sogenannten "Qualitätsdramaserien" nach dem 11. September 2001 und an eine grundsätzlichere Reflexion von ästhetischen, diskursiven und rezeptionslogischen Verschiebungen im Medium Fernsehen.

Das Forschungsvorhaben ist ambitioniert, verzahnt es doch die Analyse einschlägiger Fernsehserien der 2000er-Jahre, allen voran 24 (2001–2014), The Sopranos (1999–2007) und Lost (2004–2010), mit medien- und gesellschaftskritischen Fragestellungen. Nun ist die Analyse von Filmen und Serien, die auf die eine oder andere Weise den "symbolischem Schock" von 9/11 (S. 29) verarbeiten, nicht neu und ein viel besprochenes Thema (vgl. im deutschsprachigen Raum u.a. Poppe/Schüller/Seiler 2009; Hoth 2011; Becker 2013; Richter-Hansen 2017). Alleinstellungsmerkmal der vorliegenden Dissertation ist jedoch, dass sie ganz nebenbei einen Umwertungsprozess im televisuellen Medium nachvollzieht, indem sie nämlich fragt, inwiefern sich Serien – als ein zentrales Format des Fernsehens – von beiläufigen Rezeptionsformen weitgehend verabschiedet haben und ein ständiges Hinsehen durch neuartige ästhetische und narratologische Exzesse geradezu gewaltsam einfordern. Auch befasst sich Kroll mit hybriden, medialen Darstellungsformen im Fernsehen, die Fakt und Fiktion miteinander verschwimmen lassen. Insgesamt werden also veränderte Sehgewohnheiten im Spiegel der Fernsehserie betrachtet.

Das Leitmotiv der Forschungsarbeit, Transgression durch und im Fernsehen, wird in Kapitel 1.2 aus mehreren Perspektiven aufgearbeitet: technologisch, ästhetisch, seriell-narratologisch, kommerziell und wahrnehmungspsychologisch. Hierbei beweist die Dissertation ein geschärftes Bewusstsein für die diskursive und ontologische Ambivalenz des Fernsehens und den Zusammenhang von kommerziellen und ästhetischen Entwicklungen. Es handelt sich um eine medienaffine Analyse, obwohl der Autor die überstrapazierte und tendenziell medienvergessene Kategorie des Quality TV bemüht, um sich dem Gegenstand zu nähern. Der heute oftmals normativ oder marketing-strategisch verwendete Begriff wird zwar historisch verortet (u.a. mit Feuer 1984; Thompson 1996) und hinterfragt, dennoch für die Korpusbildung einfach übernommen, auch wenn er für die weitere Analyse keinen überaus großen Mehrwert bietet und mit anderen Zuschreibungen austauschbar wäre (z.B. Prestige-Serien, High-End-Serien). So scheint die Studie mit ihrem vornehmlichen Fokus auf "Schlüsselserien" der 2000er-Jahre (S. 52, 64), den üblichen (Kritiker*innen-)Kanon der dritten QTV-Welle nur zu zementieren. Neuere Streaming-Serien (etwa Originals von Netflix oder Amazon Prime) werden allenfalls randständig behandelt, obgleich sie aufgrund ihrer Unabhängigkeit von einer regulären TV-Ausstrahlung und den damit verbundenen Zensurbestimmungen nochmals die Grenzen des Darstell- und Erzählbaren ausreizen und der Diskussion weitere Facetten hinzufügen würden.

Der im Buch verhandelte Korpus an Qualitätsdramaserien setzt sich sodann aus 14 populären Network-, Cable- und Pay-TV-Serien zusammen, die verschiedene Genres abdecken (Krimi, Mystery, Sci-Fi, Action, Thriller), dabei aber kaum über die Klassiker hinausgehen und außerdem thematisch einschlägige Serien der 2010er-Jahre (u.a. Homeland, 2011–2020) auslassen. Im Laufe der späteren Analysen, die sich vor allem auf 24 konzentrieren, stellt sich dann doch die Frage, warum der Korpus auch aus Genre-Perspektive nicht spezifischer ist. Angesichts des Schwerpunkts auf Gewaltdarstellungen und insbesondere Folter scheint etwa ein konsequenter Fokus auf Action-/Polit-Thriller durchaus naheliegend, um die Analyse zuzuspitzen. Hinterfragen ließe sich auch die Wahl von 24 als zentralem Untersuchungsgegenstand, dessen Echtzeit-Narration nach wie vor eine (ohnehin viel bearbeitete) Ausnahmeerscheinung in der Serienlandschaft darstellt. Gleichwohl ist diese Extremform des kumulativen Erzählens im Zusammenhang mit den narrato- und rezeptionslogischen Grenzüberschreitungen im Fernsehen natürlich besonders produktiv.

Für die Analyse in Teil II wird im Kapitel I.2 ein komplexes Forschungsdesign aufgebaut. Ausgehend von den o.g. drei Themenfeldern (Serienform, Gewaltdarstellung, 9/11) arbeitet der Autor zunächst vier Formkategorien der Fernsehserie heraus, die in der restlichen Arbeit immer wieder aufgegriffen und um diverse Facetten ergänzt werden: Spektakel, Fakt vs. Fiktion, Serialität und Selbstreflexivität. Letztere Kategorie bezieht sich dabei sowohl auf die Auseinandersetzung des Fernsehens mit sich selbst (intramediale Selbstreflexivität) als auch auf die Verarbeitung anderer medialer Darstellungsformen und -konventionen im Format der TV-Serie (inter- und hypermediale Reflexivität, S. 134ff.). In Bezug auf die Gewaltvermittlung in Fernsehserien legt Kroll weitere zentrale Analysepunkte fest:

1. die basalen Erzählparameter Figur, Zeit und Raum, die, so Krolls These, in Post-9/11-Serien zunehmend "irritiert" und "intensiviert" würden (S. 160ff.);
2. die Serialität der Gewaltdarstellungen, die mithilfe der filmnarratologischen Kategorien "Satelliten-Szenen" und "Kern-Szenen" (Porter et al. 2010) erörtert wird, wobei der Autor diese für den Gegenstand der Fernsehserie zu "spektakulären Segmenten" (S. 214) bzw. "Plot-funktionalen Segmenten" (S. 221) umschreibt;
3. die Formen und Funktionen von Folterszenen, weiterhin ergänzt um eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Folter in der Serie 24 begründet, problematisiert und reflektiert wird.

Die Szenenanalysen in den Kapiteln I.2 und II.1-3 schließlich verbinden Strukturen und Formprinzipien des Fernsehens mit der Ästhetik der Gewaltdarstellung in den eingangs genannten drei Fernsehserien. Das Ziel, die "grenzüberschreitenden Gewaltdarstellungen" der US-Serien auf ihren "symbolischen und kulturellen Stellenwert" (S. 20) zu untersuchen, erfüllen die Analysen durch die produktiven Analogien zwischen Gewaltästhetik, klassischen TV-Programmstrukturen und (neuerer) Serienerzählformen. Die Funktionalität von grenzüberschreitenden Momenten wie Gewalt- und insbesondere Foltersituationen im Live-Fernsehen und Programm-Flow arbeitet der Autor sehr deutlich heraus. So wird u.a. der Spektakelwert von Serien beispielsweise mit den "Beats" und Segmenten im TV-Programm zusammengeführt, und die Intensität der Gewaltdarstellungen sowie die Dringlichkeit innerhalb der seriellen Erzählung werden produktiv mit den televisuellen Charakteristika von Liveness, Aktualität und Echtzeit-Berichterstattung zusammengedacht. Dass die handlungsoffene Narration neuerer Fortsetzungsserien dem endlosen Flow des Fernsehens zuspielt, ist kein neuer Befund, wird aber überzeugend argumentiert. Ebenso berücksichtigt die Analyse die inhärente Steigerungslogik der behandelten Fernsehserien, die sich u.a. in auffälligen Erzählmanövern und Darstellungsmustern niederschlägt. Darüber hinaus kommen selbstreflexive 'Kunstgriffe' des Fernsehens wie Direktadressierungen, Thematisierungen der eigenen Liveness, Splitscreen-Ästhetik und das Primat des Dialoges zur Sprache. Kroll weist so an der Serie 24 die permanente Selbstbespiegelung des Mediums Fernsehens nach.

Auch in den minutiösen 24-Analysen zu einer spezifischen "dramaseriellen Drastik" (S. 77) von Post-9/11-Serien zeigt sich die umfassende Kenntnis des Autors um seinen Gegenstand. Hieraus gehen einsichtsreiche, diskussionswürdige Ergebnisse hinsichtlich der symbolischen Grenzüberschreitungen entlang der Erzählparameter Raum, Zeit und Figur hervor. Dazu zählen u.a. die Ausdehnung oder das Aufbrechen von Handlungsräumen (S. 173), die omnipräsente, Dringlichkeit von Handlungen und Entscheidungen (S. 167, 229), das Entfalten und Schichten von Antagonist*innen-Netzwerken im Zusammenhang mit der Staffeldramaturgie (S. 186ff.), und die Verhandlung der Folterentscheidung als tragisches Moment, das durch ebendiese spezifische Organisation der Serien-Diegese hervorgebracht wird (S. 275 ff.). Für nicht eingeweihte Leser*innen mögen die Beobachtungen an 24 manchmal nur eingeschränkt nachvollziehbar sein, vor allem wenn die visuellen Parameter der Gewaltdarstellungen seziert werden (hier wären Bilder hilfreich gewesen). Der Detailreichtum bereichert zwar einerseits die Dissertation, andererseits ließe sich die Darlegung vermutlich doch straffen. Gerade Kapitel II.3 verliert sich in seinen insgesamt 15 Teilanalysen, bei denen eine stärkere Selektion oder gelegentliche Verdichtung sinnvoll gewesen wäre. Auch fallen ob der Länge der Dissertation von 376 Seiten oftmals sprachliche Redundanzen und Wiederholungen von Argumenten auf, weshalb sich zeitweise der Eindruck einstellt, die Analysen würden immer wieder die gleichen Thesen beweisen.

Das umfassende Forschungsdesign der Dissertation wird der Komplexität fernsehrezeptiver und serienästhetischer Verschiebungen und Umwertungen gerecht. Als zentrale Erkenntnis erscheint dabei nicht nur die Verarbeitung des 9/11-Traumas in den drastischen Erzählweisen und Gewaltinszenierungen von US-Dramaserien der 2000er-Jahre, sondern auch die zwischen den Zeilen aufgearbeitete Umwertung der Rezeptionserfahrung von Fernsehen durch ebendiese Serien: weg von einer nebensächlichen, unfokussierten Tätigkeit, hin zu einer aufmerksamkeitsfordernden, die Sinne beanspruchenden Aktivität.

 

Literatur:

Becker, Anne: 9/11 als Bildereignis. Zur visuellen Bewältigung des Anschlags. Berlin, Bielefeld: Transcript 2013.

Hoth, Stefanie: Medium und Ereignis. '9/11' im amerikanischen Film, Fernsehen und Roman. Heidelberg: Winter 2011.

Porter, Michael J./Larson, Deborah L./Harthcock, Allison/Nellis, Kelly Berg: "Re(de)fining Narrative Events Examining Television Narrative Structure". In: Journal of Popular Film and Television 30/1, 2002, S. 23–30. DOI: 10.1080/01956050209605556.

Richter-Hansen, Tullio: Friktionen des Terrors. Ästhetik und Politik des US-Kinos nach 9/11. Marburg: Schüren 2017.

Schüller, Thorsten/Poppe, Sandra/Seiler, Sascha: 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Bielefeld: Transcript 2009.

Autor/innen-Biografie

Jana Zündel

Studium der Medienwissenschaft in Weimar (2008-2011) und Bonn (2012-2015). Masterarbeit veröffentlicht als An den Drehschrauben filmischer Spannung (ibidem-Verlag 2016). Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Medienwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Forschungsschwerpunkt Film- und Fernsehanalyse. Dissertationsvorhaben zum Thema: Randerscheinungen von Fernsehserien als Indikatoren eines medienkulturellen Wandels des Fernsehens.

Publikationen:

"Fernsehen als plurales und transmediales Konzept? Ein Thesenpapier". In: Fernsehwissenschaft und Serienforschung. Theorie, Geschichte und Gegenwart (post-)televisueller Serialität. Hg. v. Denis Newiak/Dominik Maeder/Herbert Schwaab. Wiesbaden 2021, S. 17–36.

"Serial Skipper: Netflix, Binge-watching and the Role of Paratexts in Old and New 'Televisions'". In: Participations 16/2, 2019, S. 196–219.

"TV IV’s New Audience. Netflix’s Business Model and Model Spectators". In: Netflix at the Nexus. Hg. v. Amber Buck/Theo Plothe. New York 2019, S. 13–27.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Film