Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Bd. 2: Historien.
Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2018. ISBN: 978-3-86583-705-9. 515 S., 157 Illustrationen, Preis: € 36,00.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-01Abstract
Die Leipziger Theaterwissenschaftlerin Gerda Baumbach hat bereits 2012 mit dem ersten Band ihres als Trilogie angelegten opus magnum zum Schauspieler einen gewichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Grundlagen ihres Lehrers Rudolf Münz geleistet, einen Begriff von Theater, der ausschließlich im konzeptuellen Rahmen von dessen literarisierten Formen auf Werkleistungsbasis besteht, als Erkenntnis hemmenden ahistorischen Kernbegriff einer historischen Wissenschaft zu erweisen. Bereits in dieser ersten Schrift desavouierte Baumbach virtuos die landläufigen 'großen Erzählungen' unter dem Primat dramatischen Theaters in aristotelischer Denktradition und ihrer rund vier Jahrhunderte währenden ideologischen Indienstnahme durch bürgerliche Eliten, indem sie mit der Fokussierung auf Schauspielstile eine ganze Archäologie des Wissens über Theaterpraktiken jenseits seiner schriftkulturell bedingten Umbruchsphasen erschloss. Mithin wurde hier eine originelle Variante von Historischer Anthropologie vorgeschlagen, die auf theatergeschichtswissenschaftlichen Re-Lektüren, vor allem aber auf neuen und ungewöhnlichen Lektüren basiert: Durch gezielte Forschungsfragen nach historisch spezifischen Formen von Akteur*innen und ihren Spielstilen wird Aufschluss gesucht über das mittels theatraler Praktiken als Sinn prozessierte Körperkonzept und Menschenbild eines jeweiligen Zeitraums. Durch differenzierte historische Sondierung legte Baumbach die theater/körper/kulturgeschichtliche Komposition von Menschsein frei. Von der dezidiert ausgestellten Eigen-Sinnigkeit des Leibes in der Commedia all'improvviso inklusive ihrer Vorformen über die geste lateral in der Französischen Klassik bis hin zum möglichst vollständigen Zur-Deckung-Bringen der eigenen Körperlichkeit mit der Rolle in der Menschendarstellung des 18. Jahrhunderts erzählt Baumbach die Geschichte eines De-Doublements von Ganzkörper-/Maske und Person als Konzeptmetapher für den historischen Wandel von ideologisch bedingten hegemonialen Körper- und Persönlichkeitskonzepten und deren gegenläufigen Bewegungen in Kunst und Leben. Seitdem ist deren integrative theaterhistoriographische Trope der Trias (aufeinander bezogener Idealtypen) von Comoedien-, rhetorischem und veristischem Stil aus der einschlägigen theatergeschichtlichen und -theoretischen Forschung und Lehre kaum mehr wegzudenken.
Baumbach hat nun im zweiten Band ihrer Historischen Anthropologie des Akteurs jenseits aller schnelllebigen postrukturalistischen Moden von Historiographie in Theatergeschichte(n) als Historien in seltener Weise erkenntnisreiche "Tiefenbohrungen" innerhalb des durch den ersten Band begründeten Forschungsfeldes vorgelegt. In durchweg fesselnden dichten Beschreibungen und spannenden scharfsinnigen Wendungen und Schlüssen nimmt sie den*die Leser*in mit auf einen intellektuellen Streifzug durch das Gebiet der jahrhundertelangen Auseinandersetzungen um den*die Schauspieler*in in Europa, schwerpunktmäßig auf Basis zahlreicher Theater- und Schauspieltraktate, die aufgrund der das Buch als Grundton durchziehenden Italianità in der deutschsprachigen Theatergeschichtsschreibung überwiegend bislang keine Berücksichtigung gefunden haben – beispielsweise Hugo von Sankt Victors Theatrica und Francesco Petrarcas Anti-Histrionen-Dialog, denen ganze Kapitel gewidmet sind. In bislang nicht gekannter Gründlichkeit der Synopse werden die Traktate von Leone de' Sommi, Angelo Ingegneri, Andrea Perucci oder Luigi Riccoboni daraufhin befragt, wie ein idealisiertes oder als verwerflich gebrandmarktes Lebens-Theater über vier Jahrhunderte hegemonialen Elitentheaters hinweg auf der Bühne des Kunst-Theaters vor- und nachgeahmt wurde – unter sukzessiver systematischer Verdrängung der aus Vor-, Frühgeschichte und Mittelalter immer wieder in den jeweiligen Gegenwarten beharrlich tätigen Opponenten aus dem Aldilà teatrale.
Baumbach bringt mithin nicht Italienisch lesenden Theaterhistoriker*innen nicht nur zukünftig unverzichtbare Kennerschaft der sukzessiven Erfindung mimetisch-referentiellen Theaters vor Lessings Riccoboni-Lektüren um 1754 nahe, sondern zugleich in äußerst sinn(en)fälliger Weise die von ihr mit begründete theaterhistoriographische Methode der Leipziger Schule, indem sie das oft verführerisch multidirektionale Sinnpotential ihrer facettenreich erhobenen Dokumentenbasis gemäß der rigoros verfolgten Heuristik von 'Theatergefügen' durchquert. Dieses Verfahren – das immer gute Lesbarkeit des insgesamt 515 Seiten starken Bandes aufgrund seiner klaren Strukturiertheit im Argument gewährleistet – wirft zugleich innovative theater/körper/kulturgeschichtliche Fragehorizonte am Material auf, von denen lediglich wenige hier aufgegriffen werden können: Wie wäre eine Theatergeschichte des Humanen zu be/schreiben, deren begriffliche konstitutive Außengrenze nicht gegenläufig zur Naturgeschichte besteht, sondern die 'Natur'/'Kultur'-Differenz aufhebt bzw. überschreitet? Vermöchte dann nicht auch das Studium der Theatergeschichtswissenschaft Einblicke zu geben in die Menschheitsfrage nach "Wegen zur Glückseligkeit" zwischen diesseitig-leiblicher und jenseitig-spiritueller Glückserfüllung – so der Titel des ersten Kapitels, in dem Baumbach in fulminanter Weise mit Blick auf die Zeitlichkeit der Praktiken mittelalterlich-frühneuzeitlicher Akteure wie beispielsweise Ciarlatani oder comici infami Baudrillards berühmte Denkfigur vom 'symbolischen Tausch' sub specie mortis als Ineinanderfallen von Augenblick und Ewigkeit reformuliert (vgl. S. 34). Die Spuren der sich konsequenterweise daran abarbeitenden Kulturgeschichte einer 'Dämonisierung des Anderen' in Schauspieldiskursen kirchenchristlich-ideologischer Provenienz verfolgt Baumbach detektivisch subtil bis hin zum enigmatischen, emblematischen 'Y' in Petrarcas De remediis utriusque fortunae – als Bannzeichen nicht nur für Zuan Polo, sondern auch andere Buffoni und Comici, an erster Stelle Harlekin, als Reisenden von dort, wohin der linke Schaft des Ypsilon abschreckend weist: aus dem Theolog*innen und Humanist*innen befremdenden alten Reich der Toten, der 'Hölle' mit ihrem unheilbringenden Spiel, Spaß, Scherz und Spott. Die Thematisierung solcher aus der Welt des Festes hervorgehenden Anderwelten reflektiert das Buch auch immer wieder auf der Ebene seiner vielsträngigen komparatistischen Exkursionen in zeitgenössische und vergangene Parallelwelten von Literatur und Kunst – besonders eindrucksvoll in den Erläuterungen des Aldilà mittels der Bildwelten des Leipziger Malers Werner Tübke (1929–2004) in dem überhaupt an vorbildlich reproduzierten Illustrationen reichen Band, die mitten ins Petrarca-Kapitel eingeschoben werden. Man mag aus dem Horizont einer traditionellen Auffassung von Theaterhistoriographie heraus über die dialektischen Bilder solcher Exkurse oder auch des Ausflugs in Friedrich Schlegels Frühromantik in der "Idylle über den Müßiggang" (S. 133–152) irritiert sein oder vielleicht sogar darüber streiten wollen – sie entsprechen jedenfalls in vieler Hinsicht jenen Aufsprengungen, die Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen als reziproke spannungsreiche Konstellationen von Gegenwart und Vergangenheit als monadisches Prinzip von Geschichtsschreibung formuliert hat.
Angesichts solch gelungener Aktualisierungen ihres Theaterkonzepts verwundert es, dass Baumbach sich hinsichtlich möglicher Anwendungen ihres Modells auf das Gegenwartstheater verhalten gibt – einmal abgesehen von Hinweisen auf Sophie Rois' Schauspieler-Theater an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter der Intendanz Frank Castorfs – als symptomatisch für "Parallelitäten, Vermischungen, Dominantenbildungen, Absinken und erneute Rückgriffe [...], die längst nicht so klar und eindeutig als verschiedene Richtungen auftreten, wie hier vorab um der Grundorientierung willen skizziert" (S. 25) – sowie ihrer Faszination für die Schweizer Clownin Gardi Hutter. Baumbachs meines Wissens in der europäischen Theaterwissenschaft singulärer und höchst plausibler Ansatz der Einteilung von Akteur*innen in drei verschiedene Varietäten von Spielstilen als Schlüsselkonzept einer historischen Anthropologie hätte jedenfalls das Potential zum Analyseinstrument auch 'postdramatischen' Theaters – als einer Art historischem Wiedergänger der von ihr eingehend untersuchten 'prädramatischen' Theaterformen – zu werden und sich mithin in die geisteswissenschaftliche Debatte gegenwärtiger Formen von Subjektivation einzumischen. Aber selbst wenn die Autorin sich dieses Anliegen nicht mehr zu eigen machen wollte, darf man auf die Befunde zu deren Prä-Figur/ation/en im angekündigten dritten Band ihrer Historischen Anthropologie des Akteurs, der den Untertitel Figuren tragen wird, gespannt sein. Auch die Provenienz der so genannten "Prager Prachthandschrift", die Einblicke in die giullareske Welt zu geben verspricht, soll in diesem dritten Band geklärt werden (S. 94).
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