Martin Seel: "Hollywood" ignorieren. Vom Kino.

Frankfurt am Main: S. Fischer 2017. ISBN 978-3-10-397224-5. 288 S., Preis: € 24,00.

Autor/innen

  • Vrääth Öhner

Abstract

"Hollywood" ignorieren: Unter diesem im Vergleich zum Vorgänger geradezu riskanten Titel hat Martin Seel 2017 eine Sammlung von großteils bereits publizierten Aufsätzen vorgelegt, die seine in Die Künste des Kinos 2013 entwickelten Thesen aufnehmen, variieren und erweitern sowie deren Erklärungskraft an ausgewählten Beispielen vorführen. An der Grundkonstellation seiner Philosophie des Kinos hat sich damit freilich nichts geändert. Für Seel gehört das Kino zu den Künsten, weil es nicht nur in einem spannungsreichen Verhältnis zu den anderen Künsten und ihren Verfahren steht, sondern mit seinen eigenen Mitteln eine ästhetische Erfahrung erzeugt, die jener der anderen Künste zugleich ähnlich und dennoch hinreichend eigenständig ist. Wie die anderen Künste auch setzt das Kino sein Publikum der Spannung zwischen Aktivität und Passivität, zwischen "phänomenaler Bewegung und leiblich-seelischer Bewegtheit" (S. 34) aus, radikalisiert diese Spannung aber insofern, als "alle Aktivität des Verstehens […] im Kino in einer gesteigerten Passivität fundiert ist" (S. 39f.). Gesteigert ist diese Passivität deshalb, weil im Kino mehr als anderswo den Zusehenden "die Regie über die Zeit und die Richtung ihres Vernehmens […] abgenommen" (S. 40) wird. Seel zufolge führt das zu einer Intensivierung jener der ästhetischen Erfahrung eigenen Befreiung von zweckbestimmten Vollzügen, welche die übrigen, außerkünstlerischen Praktiken der Menschen beherrschen: "Indem die Zuschauer [dem] visuellen wie akustischen Diktat [des Films] unterliegen, kommen sie einer Erfüllung des Begehrens näher als irgendwo sonst, ihre Lage einmal nicht bestimmen zu müssen, sondern sich von ihr bestimmen lassen zu können" (S. 39).

Nun ist der Gedanke, das Kino sei eine Kunst, die anders ist als die anderen Künste, keineswegs neu. Siegfried Kracauer hat ihn bereits 1960 in seiner Theorie des Films formuliert, freilich mit dem Zusatz, dass die Zugehörigkeit des Films zum System der Künste alles andere als ausgemacht wäre. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorhaben, den Film aufgrund seiner spezifischen, gerne auch medial begründeten Differenz von den anderen Künsten für die Kunst zu reklamieren: Hier reicht die Diskussion gar bis in den 1920er Jahre zurück. Und auch die Idee von der gesteigerten Passivität der Zusehenden im Kino wurde schon einmal radikaler formuliert, nämlich 1971 von Stanley Cavell in The World Viewed, wo die philosophische Bedeutung des Films darin besteht, dass er die Betrachter*innen mit einer Welt konfrontiert, die ohne sie vollständig und ihnen dennoch gegenwärtig ist.

Dass seine Philosophie des Kinos den bereits existierenden Theorien nichts bahnbrechend Neues würde hinzufügen können, dürfte Seel allerdings durchaus bewusst gewesen sein. Nicht umsonst leitet er sein Vorwort mit einem Zitat von Ludwig Wittgenstein ein, das besagt, dass "man manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen muß, ihn zum Reinigen geben, – und ihn dann wieder in den Verkehr einführen kann" (S. 7). Wie dieses Verfahren zur Reinigung von Begriffen aussieht, zeigt sich nirgendwo besser als am titelgebenden Begriff "Hollywood". Seels Vorschlag, "Hollywood" bei der Theoriebildung zum Film zu ignorieren, will den Begriff von zumindest drei historisch unzulänglichen Modellierungen befreien: Erstens von der Auffassung der Avantgarde, die das Hollywood-Kino als kommerzielles Gegenteil der Filmkunst ablehnte, zweitens von der Auffassung all jener, vorwiegend US-amerikanischer Autoren, die das Hollywood-Kino als Standardfall des Kinos betrachteten, schließlich drittens von der in Kontinentaleuropa vorherrschenden Tendenz, das Autorenkino "als paradigmatisch für die 'Kunst' des Kinos" (S. 15) zu behandeln. Schon richtig. Das Problem dabei ist nur, dass Seel mit seinem Vorschlag offene Türen einrennt. Gehört doch die Überlegung, dass "eine theoretische Privilegierung oder Sonderbehandlung des Hollywoodfilms den Blick für seine ästhetische Position trübt" (S. 18), zu den gut abgehangenen Gemeinplätzen der Filmwissenschaft.

Das im Vorwort angekündigte Verfahren zur Reinigung der Begriffe von den Schlacken, die sich durch die Begriffsverwendung angelagert haben, erweist sich bei näherem Hinsehen demnach als Wiederholung von Grundüberzeugungen, die im Feld der Theorieproduktion zu Film und Kino mehrheitlich geteilt werden. Das hat auf der anderen Seite aber auch sein Gutes, eignen sich die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze dadurch nämlich in besonderer Weise als Einführung in Problemstellungen, die von der Theoriebildung historisch an den Film herangetragen wurden. Neben dem Begriff "Hollywood" betrifft das auch Konzepte wie "Kino-Anthropologie", "Unzuverlässigkeit", "Gerechtigkeit" oder "das Kunstschöne". Seels Ausführungen zeigen an, wo die Grundlinie des wissenschaftlichen bzw. philosophischen Verständnisses von Film verläuft und lassen auf diese Weise genügend Raum für weiterführende Fragestellungen.

Autor/innen-Biografie

Vrääth Öhner

ist Film-, Medien- und Kulturwissenschaftler. Von 2011 bis 2017 war er Universitätsassistent (PostDoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Theorie, Ästhetik und Geschichte von Film und Fernsehen, von Medien- und Populärkultur.

Publikationen:

Sichtbarmachen. Politiken des Dokumentarfilms (Hg. gem. mit Elisabeth Büttner, Lena Stölzl), Berlin 2017

Abenteuer Alltag. Zur Archäologie des Amateurfilms, Wien 2015 (Hg. gem. mit Siegfried Mattl, Carina Lesky, Ingo Zechner)

Veröffentlicht

2018-05-15

Ausgabe

Rubrik

Film

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