Vera Brandner: Generative Bildarbeit. Zum transformativen Potential fotografischer Praxis.

Bielefeld: transcript 2020. ISBN: 978-3-8376-5008-2. 274 S., Preis: € 39,00.

Autor/innen

  • Nadja Köffler

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-13

Abstract

Möchte man adäquat auf Vera Brandners geistreiches wie unkonventionelles Werk antworten, dann müsste die vorliegende Rezension dem Duktus der Arbeit folgend wohl in Form eines Dialogs verfasst sein. Nur so würde im Rahmen der Begegnung von Autorin und Rezensentin im Text- und Bilduniversum der vorliegenden Arbeit ausreichend gelingen, Dissonanzen wie auch Gleichklang an den Grenzen der jeweiligen Wissens- und Erkenntniskulturen ausfindig zu machen, auszuverhandeln und eventuell gar neu definieren zu können. Genau darin liegt nämlich das zentrale Anliegen von Brandners Arbeit begründet, die darum bemüht ist unter Anwendung der Generativen Bildarbeit, – einer von Brandner selbst entwickelten und über Jahre erprobten visuell ausgerichteten Methode – "an den Grenzen des Eigenen und des Anderen geteilte Phänomene und Problemstellungen zugänglich, beforschbar und transformierbar" (S. 28) zu machen.

Das Produzieren, Präsentieren, Rezipieren und Interpretieren von Fotografien und das Bekleiden bzw. Einnehmen variierender Rollen und Perspektiven im fotografischen Prozess (z.B. operator, spectator, spectrum) sind dabei zentral für ihren Zugang. Die fotografische Praxis soll nach Brandner, die seit ihrer Jugend selbst leidenschaftlich fotografiert, in Situationen kultureller Differenz "neue Weisen des Sehens, Wahrnehmens, Erfahrens und Erkennens im Gruppenprozess" (S. 14) ermöglichen. Brandner wehrt sich damit gegen eine reduktionistische Betrachtung des fotografischen Mediums als Substitut des Realen und seine in (natur-)wissenschaftlichen Kontexten häufig zur Beglaubigung der Wirklichkeit herangezogene Verwendungsweise und hebt im Stil der Roland Bartheschen Wesensbeschreibung der Fotografie in Die helle Kammer(1980) an mehreren Stellen seine beziehungshafte, ambivalente und undisziplinierte Kraft hervor.

Anhand einer multiplen Fallstudie untersucht die Autorin unter Anwendung der Reflexiven Grounded Theory das transformative Potenzial ihres selbst entwickelten methodischen Instruments, das sie beispielsweise in der universitären Lehre sowie im Kontext der interkulturellen Dialog- und Bildungsarbeit des von ihr initiierten Vereins ipsum in Cacuaco, Lahore, Soro, Kabul, Haifa, Berlin, Wien u.a. über Jahre erfolgreich zur Anwendung gebracht hat. Brandner liefert damit wichtige Einblicke in die Hintergründe, die konzeptionellen Entwicklungsschritte, Verfahrensweisen und Einsatzmöglichkeiten der Generativen Bildarbeit, die sich, wie Brandner anhand ihrer Studienergebnisse veranschaulicht, als besonders geeignet für transdisziplinäre Bildungs- und Forschungssettings herausstellt.

Den Ausgangspunkt von Brandners Studie bilden in Kapitel 1 methodologische und erkenntnistheoretische Überlegungen, die als Grundgerüst der Forschungsarbeit eine Auseinandersetzung mit dem von Brandner herangezogenen Kulturbegriff (z.B. Homi K. Bhabhas Konzept der kulturellen Differenz), dem Forschungsstil der Grounded Theory und dem Konzept des Forschenden Lernens auseinandersetzt. Als besonderes Highlight der Arbeit erweist sich, inspiriert von Pierre Bourdieus (2002) praxeologischem Dreischritt, Brandners selbstreflexive Auseinandersetzung mit ihren eigenen apriorischen Sichtweisen und Haltungen in Kapitel 2. Biografische Eindrücke aus Brandners Kindheit und Jugend, wegweisende Reiseimpressionen und ihre beruflichen Erfahrungen als Wissenschaftlerin, Fotografin, Vermittlerin und Vereinsleiterin gehen hier eine spannende Symbiose mit Auszügen aus Klassikern von Homi K. Bhabha (1994), Paulo Freire (1978), Pierre Bourdieu (1998) und Roland Barthes (1980) ein. Bereichert wird diese äußerst plastisch dargestellte und literarisch ansprechend verfasste Lebensgeschichte mit einem Fotoessay, der wichtige Stationen und Episoden in Brandners Biografie schlaglichtartig einwirft. Text und Bild verschränken sich hier zu einem kraftvollen Gesamtkunstwerk. Changierend zwischen Brandners intimer Perspektive auf ihr Leben, den Worten großer Namen und diversen Einzelbildern und Fotocollagen bewegt sich der*die Leser*in im Dazwischen – einem Zustand, in dem sich die Autorin nach eigener Aussage selbst zeitlebens wiederfindet und schlussendlich auch dort verortet. Spätestens ab dem praxeologischen Selbstversuch in Kapitel 2 wird klar, dass Brandners Arbeit weder gefallen möchte noch lege artis den akademischen Gepflogenheiten folgt. Kokettierend wie konsequent hinterfragt Brandner wissenschaftlich etablierte Wissensgrenzen, widerstrebt sich einem Entweder-Oder-Prinzip und übt ausgehend von Freires Gedanken zum Bankierskonzept der Erziehung Kritik an der Verwertungslogik und Homogenisierung von Wissen im ökonomisch ausgerichteten Hochschulbetrieb.

Durch diese Herangehensweise beschreitet Brandner einen Grenzgang, der sich auch an der Art und Weise ihres Umgangs mit dem theoretischen Fundament ihrer Arbeit niederschlägt. Brandner beschreibt sich selbst als Wilderin in den verschiedenen Theoriebeständen, die sich aufgrund ihrer "undisziplinierten […] Sozialisierung" (S. 168) "keiner expliziten Wissenschaftsdisziplin" (S. 22) zugehörig fühlt und bearbeitet in dem 274 Seiten starken Werk ein buntes Potpourri an verschiedenen Konzepten unterschiedlicher Denkschulen – von fotohistorischen Positionen, Einflüssen aus der Nachhaltigkeits- und Entwicklungsforschung bis zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugängen unter besonderer Berücksichtigung postkolonialer und emanzipatorischer Ansätze. Nun könnte man Brandner disziplinäre Orientierungslosigkeit, Beliebigkeit oder fehlende Präzision vorwerfen. Man könnte aber auch einwerfen, dass dieses Pendeln zwischen den Stühlen geschmeidig hält, vielfältig und multiperspektivisch sehen und erkennen und damit flexibel und dynamisch denken und argumentieren lässt. Transdisziplinarität ist bei Brandner kein rhetorisches Stilmittel, ihr Text kein oberflächliches Abklappern eines En-vogue-Themas, das in akademischen Gefilden mittlerweile zum guten Ton gehört. Transdisziplinarität kommt durch Brandners integrativen Zugang Zeile für Zeile und Bild für Bild zur vollen Entfaltung. Man könnte Brandners Werk kaum treffender beschreiben, als es Martin Jäggle, langjähriger Mentor und Kollege der Autorin, in dem Vorwort zu ihrer Arbeit tut: Brandners Werk gleicht "angesichts der vielen einbezogenen Fäden unterschiedlicher Fachdiskurse einem feingliedrigen Textil" (S. 11). Schritt für Schritt kommt man der Qualität und Haptik dieses Textils im Fortgang der Arbeit näher, Schicht für Schicht eröffnet sich dem*der Leser*in der weite Horizont und die feinfühlige Gedankenwelt der Autorin.

Wer sich eine konkrete methodische Anleitung und Handlungsempfehlungen zum Einsatz des fotografischen Mediums in Bildungs- und Forschungskontexten wünscht, wird mit diesem Band nicht enttäuscht werden. Kapitel 3 liefert neben der Gegenüberstellung und kritischen Bewertung fotografisch-visueller Methoden aus den Sozialwissenschaften eine äußerst detaillierte und zugängliche Beschreibung der zentralen Charakteristika der Generativen Bildarbeit. Diese zeichnet sich vor allem durch die vier Hauptphasen (a) Impulsgebung, (b) Fotografieren, (c) Bilddialog und (d) Mapping aus, welche, folgt man der Empfehlung der Autorin, beliebig oft, aber mindestens zwei Mal innerhalb eines Arbeitsprozesses wiederholt werden sollten. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den ethischen Herausforderungen des Fotografierens und Fotografiert-Werdens und den Fallstricken der öffentlichen Präsentation und Verwendung fotografischer Bilder rundet das Kapitel ab (z.B. informierte Zustimmung, Anonymität, Copyright etc.). Nach der Lektüre dieses Abschnittes ist man gleichermaßen imstande wie motiviert, Brandners selbst entwickelte Methode auszuprobieren und in diversen Kontexten zur Anwendung zu bringen.

Etwas aus der Reihe tanzt Kapitel 5, das zwar grafisch ansprechend und nachvollziehbar zentrale Ergebnisse der Studie darlegt, jedoch weniger feinmaschig daherkommt wie beispielsweise die äußerst ausführlichen Erläuterungen zum komplexen Forschungsdesign in Kapitel 4. Brandner stellt hier vordergründig Schlüsselkategorien z.B. im Kontext des Schlüsselphänomens "Menschen fotografieren Menschen" vor und nähert sich der Gefühls- und Gedankenwelt der Untersuchungsteilnehmer*innen und ihren beschriebenen Herausforderungen und erlebten Ambivalenzen beim Fotografieren von Menschen. Verknüpfungen und Verbindungen (z.B. Bedingungen, Ursachen, Wechselwirkungen, Handlungs- und interaktionalen Strategien) innerhalb dieses Kategoriensystems, wie es das axiale Kodieren vorsieht, werden in Brandners Ausführungen nur bedingt sichtbar. Brandner hat hier wohl zur besseren Übersicht der Ergebnisse und auf Kosten der Nachvollziehbarkeit auf die Darstellung verschiedener Abstraktionsniveaus und die Verflechtung der unterschiedlichen Schlüsselkategorien verzichtet.

Dies tut der Qualität der Arbeit jedoch keinen Abbruch, die mit einer frischen Stimme einleuchtend und mit Umsicht argumentiert und eine überaus anregende Lektüre auch für Nicht-Akademiker*innen bietet. Immer wieder und gerade auch im finalen Diskussionsteil bringt Brandner den*die Leser*in auf charmante Art und Weise dazu, den eigenen Standpunkt zu reflektieren und subjektive Denkschablonen zu hinterfragen, um gemeinsam im Zwischenraum dieser Arbeit unter "Rückbezug auf sich selbst zu einem größeren Ganzen zu gelangen" (S. 93). Brandner begreift sich nämlich selbst als forschend Lernende und lernend Forschende und möchte durch ihren selbstreflexiven Zugang, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Arbeit zieht, "in permanenter Auseinandersetzung mit dem Eigenen […] dem Anderen in angemessener Weise begegnen" (S. 16).

Summa summarum: Mit dem vorliegenden Werk kommt Brandner ihrer am Ende des Buches geäußerten "Forschungsutopie" (S. 255) einen bedeutenden Schritt näher und legt den Grundstein für weitere Arbeiten ähnlicher Couleur, die die Hoffnung hegen, dass Forscher*innen "trotz der eigenen Habitusgebundenheit" (S. 255) irgendwann bereit sind, aus "dem sicheren universitären bzw. institutionellen Rahmen mit spontaner und epistemologischer Neugier […] hinauszutreten und tatsächlich gemeinsam mit den unterschiedlichsten Menschen im Feld zu forschen" (S. 256). Brandner hat diesen pionierhaften Schritt gewagt, das beweist die vorliegende Arbeit auf unmissverständliche wie eindrückliche Art und Weise.  

Literatur:

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980.

Bhabha, Homi K.: The location of culture. London: Routledge 1994.

Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002.

Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.

Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg 1978. 

Autor/innen-Biografie

Nadja Köffler

Prof. Dr. Nadja Köffler MA ist Professorin für Bildungswissenschaften und Kulturelle Bildung an der KPH Edith Stein und Mitglied der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. Köffler war Post-Doc an der Universität Innsbruck, Gastdozentin an der Faculty of Arts am Beit Berl College (Israel) und Gastwissenschaftlerin an der Hebrew University (Israel), der KU University (Südkorea) und der Concordia University (Kanada). Ihre wissenschaftliche Karriere wurde mehrfach gefördert und ausgezeichnet, wie u.a. mit dem Emerging Scholar Award des Image Research Networks an der Hong Kong Baptist University (Hongkong). Neben ihrer akademischen Laufbahn ist sie freie Journalistin und (Bild-)Redakteurin für diverse Medienunternehmen sowie Mitarbeiterin beim Deutschen Jugendfotopreis.

Publikationen: 

Nadja Köffler (in Vorbereitung): "Destabilizing the Myth of the Nanny Photographer. Vivian Maier's Self-Portraits as a Feminist Counter-Voice to Her Public Depiction". In: Studies in Theory and History of Photography, Hg. v. Bettina Gockel. Berlin 2020. 

– "Junge Grenzgänger*innen – Fotografische Durchquerungen sozialer Räume und Orte". In: Zoom'20. Hg. v. Deutscher Jugendfotopreis. München 2020, S. 82-89. 

– "Seeing What We Have Learned to See. The Cultural Imprint on Our Vision and the Role of Photography". In:  New York Edited – In Limbo. Hg. v. Ostkreuzschule für Fotografie. München 2020, S. 32-33.

Vivian Maier und der gespiegelte Blick. Fotografische Positionen zu Frauenbildern im Selbstporträt. Bielefeld 2019, S. 250.

– "Leid im Bild. Medienethische Impulse zur Notwendigkeit ikonografisch hervorgebrachten Mitgefühls im Kontext des Kriegsjournalismus". In: Bildung und Liebe. Interdisziplinäre Perspektiven. Hg. v. Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger. Bielefeld 2018, S. 323-350. 

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Veröffentlicht

2020-11-18

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Medien