Marie-Luise Angerer/Naomie Gramlich (Hg.): Feministisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten.

Berlin: Kadmos 2020. ISBN: 978-3-86599-446-2, 240 S., 14 Abb., Preis: € 19,90.

Autor/innen

  • Yvonne Sobotka

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-2-11

Abstract

Das Fortschrittsnarrativ des tötenden (weißen) Helden, die gewaltsam fortdrängende "killer story"[1] kommt notwendigerweise an ein Ende. Queer-feministische, dekoloniale Gegen- oder Re-Narrationen folgen aus dem kritisch-politischen Potenzial des Spekulierens, Fabulierens und Imaginierens. Der Sammelband Feministisches Spekulieren, herausgegebenen von Marie-Luise Angerer und Naomie Gramlich, fasst situierte Formen des Neu-(Er)Findens als konstitutiv für feministisches Theoretisieren/Praktizieren und unternimmt "eine spekulative Öffnung und Pluralisierung" (S. 10). Konkret bedeutet das ein Wiederlesen feministischer Theorien hinsichtlich ihrer spekulativ-fabulativen Dispositionen.

Angerer und Gramlich sammeln Beiträge, die auf gegenhegemoniale und ästhetische Strategien hinarbeiten. Ihr Buch ist in vier Kapitel gegliedert: Zu Anfang wird Ursula K. Le Guins "Tragetaschentheorie der Fiktion" wiedererzählt (beziehungsweise ins Deutsche übersetzt). Le Guin fasst "SF",[2] Wissenschaft und Technologie als kulturelle Tragetasche, als Behälter voller (notwendiger) lebendiger und veränderlicher Elemente für Fortsetzungsgeschichten. "Ein Buch hält Wörter. Wörter halten Dinge. Sie tragen Bedeutungen" (S. 38). Und Feministisches Spekulieren 'trägt' "Mikrovisionen" (S. 27), Geschichten mit "mehr-als-menschlichen" (S. 12) Begegnungen und Allianzen. Im zweiten, genealogisch ausgerichteten Teil treffen die Leser*innen auf NaturKulturen (Donna Haraway), die den Dualismus von Materie/Diskurs herausfordern (möchten). Katrin Thiele entwickelt die "Diffraktion" als figuratives Werkzeug feministischer Kritik, um zu einem anderen (relationalen) Denken von Welt zu kommen. Sie erläutert in Anlehnung an Rosi Braidotti die – für den Sammelband zentrale – Rolle der Figur. Figurieren als perspektivverschiebende, bedeutungsproduzierende (aber nicht unschuldige) Praxis macht auf Erwartungsnormen aufmerksam; Figuren können das Denken, Sehen und Handeln "queeren" (S. 46). Feministisches Spekulieren wird von der Cyborg (Haraway), der Göttin (René Descartes) und der Cyborg-Göttin* (Friederike Nastold), von der Plantage (Anna Lowenhaupt Tsing), dem Anthropozän und dem Engel (Luce Irigaray) durchquert.

Das dritte Kapitel enthält Fragen nach der (Über-)Lebensfähigkeit im Anthropozän oder "Plantagozän" (S. 12),[3] nach dem Verhältnis von Natur/Kultur und der Unterscheidung von Leben/Nicht-Leben(swert). Julia Grillmayr liest vier literarische (SF-)Visionen zusammen (u. a. von Margaret Atwoods und Jeff VanderMeer), die jeweils Taxonomie und Repräsentation als patriarchale/gewaltsame Praxis bloßlegen. Die Lektüren öffnen Proberäume für Multispezies-Welten, für ein re-aktualisiertes Konzept einer transkorporalen (Stacy Alaimo) "Wildnis" (S. 152). Spekulative Fiktionen ermöglichen "eine Myriade von Geschichten und Perspektiven" (S. 160), und erzählen nicht von der "Einen-Welt-Welt" (S. 27) oder der Einen-Ursprungsgeschichte. Sie erproben andere Körper diesseits eines binären Modells. Georg Dickmann befasst sich mit Paul B. Preciados Testo Junkie, dessen Selbst-Intoxikation mit Testosteron und Analyse der bio-technologischen/pharmakologischen Subjektivierungsweisen. Das Testosteron wirkt nicht nur im Körper, sondern materialisiert sich im geschriebenen Text. Hier wird Spekulieren als "sprachlich-materielle Assemblage mitdurch und in Körpern" (S. 21) am deutlichsten. Dickmann spricht von einer "Text-Körper-Spekulation" (S. 192) und stellt Preciados Schreiben als somatische und relationale Praxis heraus. Feministisches Spekulieren reflektiert über Schreibhaltungen/-praxen, die unterdrückte Realitäten vergegenwärtigen, und versucht eine programmatische Umsetzung. Unstimmig scheint, dass im Wesentlichen der feministische 'Kanon' des Globalen Nordens wiedergelesen wird. (Etwa sind Irigarays antiessentialistischen und Haraways ökofeministischen Überlegungen für viele Beiträge grundlegend.)

Das letzte Kapitel umfasst Fabulationen über Zeitlichkeiten aus einer dekolonialen und afrofeministischen Perspektive. Naomie Gramlich verweist mit dem Science-Fiction Film Annihilation und dem darin inszenierten, mutativ wirkenden "Schimmer" auf die zeitlichen und unartikulierten Verflechtungen von Anthropozän und rassistisch-kolonialer Gewalt. Diese Gewalt hinterlässt Leerstellen im historischen (Kolonial-)Archiv; fehlende Aufzeichnungen und darum unmögliche Erzählungen der Zum-Schweigen-Gebrachten. Saidiya Hartmans "kritisch[e] Fabulation" (S. 209) exponiert ebendiese radikalen Auslassungen der Historiografie. Ihre Methode – so schließt Laura Moisi in ihrem Text – verdeutlicht koloniale Kontinuitäten im "Hier und Jetzt" (S. 218) sowie die Unvereinbarkeit zwischen gelebter (Sklav*innen-)Erfahrung und offizieller Geschichte. Feministisches Spekulieren kritisiert Wissenschafts- und Wissensproduktionen und positioniert sich gegen 'objektive Wahrheiten' (vgl. S. 9). Statt allgemeingültigen Definitionen finden sich Annäherungsversuche – auch an das Spekulative selbst.

Jüngste klimawandelbedingte Naturkatastrophen, ökologische wie geologische Entwicklungen signalisieren die Dringlichkeit anderer, vor allem nicht-anthropozentrischer Ansätze. Es geht weniger um ein 'Spekulieren über' als vielmehr ein 'Spekulieren mit' (vgl. S. 17). Die Modi des Spekulierens bieten Möglichkeiten von veränderten Praktiken des In-der-Welt-Seins und "In-Beziehung-Setzens" (S. 15). Dieses "Welt-Anders-Praktizieren" (S. 43) evoziert ein kollektives Tragen/Ausüben von Verantwortung – als (notwendige) Reaktion auf zerstörte Welten. Feministisches Spekulieren ist eine Empfehlung an Leser*innen, die sich ihrer Situierung und Verantwortung bewusst(er) werden möchten und eignet sich sowohl als Einstiegs- als auch Vertiefungslektüre zu Fragen von anderen Vergangenheiten, unruhigen Gegenwarten und möglichen Post-gender/race-Zukünften. Die 13 Beiträge mit ihren vielfältigen medialen (Film-, Video- und Roman-)Bezügen knüpfen Verbindungsfäden zwischen feministischen Theorien/Praktiken und bieten zugleich äußerst anregende lose Enden für weitere "Fadenspiele".

 

[1] Siehe in der deutschen Übersetzung die "Geschichte des Mörders" (Ursual K. Le Guin: "Die Tragetasche der Fiktion", in: Feministisches Spekulieren, S. 33-39, hier S. 37).

[2] "SF" steht für Donna Haraways methodisches Vorgehen. Statt einer definitorischen Erklärung, gibt es eine Liste von unterschiedlichsten Übersetzungen: SF kann beispielsweise Science-Fiction, spekulative Fabulation oder Science Fact bedeuten (vgl. Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2018, S. 11; oder im Sammelband Feministisches SpekulierenS. 12).

[3] Das Plantagozän verweist auf das Plantagensystem als Motor der Veränderung (siehe Anna Lowenhaupt Tsing in diesem Sammelband). 

Autor/innen-Biografie

Yvonne Sobotka

Yvonne Sobotka ist Masterstudentin und (seit 2019) studentische Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Sie schloss ihren Bachelor im selben Fach, einen weiteren in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (Universität Wien) ab. Ihre Forschungsinteressen umfassen (queer-)feministische Theorien, Gender Media Studies, Affekttheorie(n), New Materialism. 

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Veröffentlicht

2021-11-30

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Medien