Genevieve Yue: Girl Head. Feminism and Film Materiality.

NY: Fordham University Press 2020. ISBN: 9780823289561. 240 Seiten, 31 Abb., 32,00 €.

Autor/innen

  • Vanessa Scharrer

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-18

Abstract

Der Ausgangspunkt von Genevieve Yues Girl Head. Feminism and Film Materiality ist wie der Titel bereits sagt das China Girl– auch Girl Head genannt. Es wird seit den 1920er Jahren als Referenzbild für die Farbbestimmung während einer professionellen Filmaufnahme und während des Kopierprozesses in Filmlaboren verwendet. Es ist vor allem für Farbfilm wichtig um menschliche Hautfarbe korrekt festzuhalten. Auffällig ist nun, dass in den meisten Fällen für diesen Zweck eine Frau mit heller Hautfarbe herangezogen wurde, um in dem Referenzbild zu posieren. Dieses Phänomen findet sich auch in der Fotografie, hier heißt sie Shirley (dazu Lorna Roth: Looking at Shirley)Lena heißt sie dann für die Referenz bei JPEG Kompressionen und Jennifer in Paradise ist das Beispiel in einem Schnittprogramm von Photoshop. Das Phänomen ist also nicht begrenzt auf das bewegte Bild. Diese phänomenologische scheinbare Zufälligkeit wird nun zum Ausgangspunkt für Yues Analyse, die um die Frage zirkuliert, wie Realität sich auf dem Filmmaterial abbildet.

Yue entscheidet sich zunächst dafür, ihre Arbeit in die Tradition einer feministischen Filmtheorie zu stellen. Seit den 70er Jahren wird vor allem der narrativen Repräsentation von Frauen in Filmen Aufmerksamkeit geschenkt. Yue möchte diese Perspektive um den materiellen Aspekt des Films ergänzen. Das bedeutet, sie widmet sich den industriellen Prozessen hinter dem China Girl, die vor allem in Filmlaboren und Schneideräumen stattfinden, sowie den Filmarchiven, wo sich viele dieser Materialien heute befinden. Diese Herangehensweise ist nachvollziehbar, jedoch klären sich dadurch viele Fragen nicht, vor allem der Einbezug des Filmmaterials scheint sehr oberflächlich. Es ist daher auch schwer zu argumentieren, warum sie den New Materialism ablehnt, könnte dieser doch eine Bereicherung sein: "My approach emphasizes the interaction between the material of film and its social and cultural determinations. This is what distinguishes it from recent feminist scholarship on 'new materialism'. In departing from social and linguistic determinants, new materialism offers significant queer and feminist potential in recognizing that matter, especially the body, is not only 'passive stuff … raw, brute, or inert', to be molded by culture. Rather, 'matter, nature, life, production, and reproduction'have a substantial reality apart from discourse and subjective conceptualization." (S. 14)

Sie möchte den Aspekt, dass das China Girl auf Filmmaterial seinen Ursprung fand miteinbeziehen in ihre Analyse, dabei jedoch das Material nicht isoliert behandeln, denn sie hält es für wichtig den Kontext seiner Produktionsbedingungen und Verwendung miteinzubeziehen. Der New Materialism könnte eine wichtige Ergänzung darstellen, Yue entscheidet sich jedoch dagegen damit zu argumentieren. Es könnte eine scheinbare Neutralität und Objektivität des Materials infrage gestellt werden. Jedoch geht Yue in eine andere Richtung: "This book argues that the material aspects of the filmstrip are gendered, even if they do not immediately present that way." (S. 7)

Es lässt sich allgemein sagen, dass der Materialaspekt nicht ausreichend beleuchtet wird und damit vor allem eine medientheoretische Diskussion fehlt. So kristallisiert sich immer mehr heraus, dass sich Yue mehr auf die Orte, an denen sich das Filmmaterial befindet, konzentriert sowie darauf, wie mit dem Material umgegangen wird, und weniger auf das Material selbst.

Yue beginnt ihre Reise auf der Suche nach der Ursache für das China Girl im Filmlabor. Sie führte viele Gespräche mit ehemaligen Mitarbeiter*innen und versuchte auch die Modelle ausfindig zu machen. Schriftlich findet sich dann lediglich eine kleine Notiz von Kodak, warum der Standard mit dem Gesicht einer hellhäutigen Frau festgelegt wurde: einfach weil es so üblich sei. Das ist nicht wirklich überraschend, denn warum sollten sich Labore selbstreflexiv im Bezug auf ihre Sexismen zeigen? Hinzu kommt, dass sich zu diesem Sexismus auch der Rassismus gesellt, denn die ideale Ausleuchtung und Entwicklung von Film wird auf Weiße Hautfarbe ausgerichtet. Es wurde schon immer priorisiert helle Haut im Film besser aussehen zu lassen, deshalb haben sich die Materialien und die Industrie danach ausgerichtet hellere Haut weißer abzubilden als dunklere Haut; erst wenn das gelungen war, sprach man von einer korrekten Beleuchtung. Richard Dyer weist in White auf jenen inhärenten Rassismus hin – ebenso wie Kalpana Seshadri-Crooks in Desiring Whiteness. Soweit bietet Yue einen guten Überblick über die bisherige Forschung. Sie bringt die Materialität wieder ins Spiel, als sie einige Experimentalfilme wie Michelle Silvas China Girls, Timoleon Silkins MM und Barbara Hammers Sanctus nennt, die das China Girl in ihren Filmen verwenden um sie sichtbar zu machen, damit ist sie nicht mehr nur ein Referenzbild, sie wird für die Zusehenden im Kino sichtbar.

Yues Interesse verlagert sich im Laufe des Buches darauf, wie Frauen im Film verschwinden bzw. sichtbar gemacht werden. Bisher ist die Analyse über das Filmmaterial wenig erkenntnisreich verlaufen, daher folgt jetzt ein Blick auf die narrative Ebene. Es wird zunächst das Motiv der verschwundenen Frau betrachtet. Dabei zeigt die Autorin überzeugend eine historische Kontinuität auf, die darin besteht, dass die Frau im Film stets zurechtgeschnitten und in Form gebracht werde. Sie erwähnt Karen Redrobes Vanishing Women. Magic, Film and Feminism und eine neue Filmgeschichte, die die Rolle von Frauen in der Filmproduktion neu beleuchtet. Das China Girl ist eine gute Ergänzung dieser Forschung, denn die Frauen, die dafür posierten sind zwar äußerst präsent, jedoch wird auch dafür gesorgt, dass ihre Identität verborgen bleibt. Yue stellt eine Verbindung her zum Vergleich von Medusa und Perseus. Der Mythos wurde bereits von Siegfried Kracauer herangenommen, für die Beziehung zwischen Realität und Kinodispositiv (vgl. S. 21). Das China Girl ist die körperlose Frau, die als Referenz für die Realität dient und gleichzeitig zum Schild vor der Realität wird. Perseus ist die Macht, die Ordnung in das Chaos bringt und auf die Seite des Chaos gehört das Weibliche, d. h. die reale Frau und nicht das China Girl. Die wortwörtliche Beschneidung der Frau wird dann von Yue weiter ausgeweitet auf den Filmschnitt.

Für ihre Analyse etabliert Yue den Begriff der escamontage. Sie beschreibt damit eine spezielle Montage, die Bedeutung durch Verschleierung konstruiert. Es handelt sich dabei nicht um Montage, die Tricks verbergen soll, sondern vor allem narrativ wirkt und nahtlose Übergänge erzeugen soll. Sie nennt dafür das Filmbeispiel Execution. Representing the Beheading of Mary, Queen of Scots – A Realistic Reproduction of an Historic Scene. Hier wird die zu köpfende Mary kurz vor der Enthauptung durch eine Puppe ersetzt, deshalb gibt es im Film nur einen Schnitt, der zwischen den beiden Szenen liegt. Die escamontage wird nicht als Teil eines Tricks angesehen, sondern als die Manipulation der Erscheinung des weiblichen Körpers, vor allem um eine Narration voranzubringen. Ein anderes Beispiel ist Gone Girl von David Fincher. Er schafft es in diesem Film die Montage komplett zu verbergen. Er kreiert die Hauptperson Amy auf problematische Weise als eine mysteriöse Figur, die mehr Erscheinung als reale Person ist, genauso wie das China Girl (vgl. S. 96).

Yue argumentiert dann, dass der Begriff des Schnitts nicht nur auf den Filmschnitt, sondern auch auf die tatsächliche Zerschneidung von Frauen im Film ausgeweitet werden kann, in Filmen wie Salvador Dalis Un Chien Andalou. Die Aneignung vor allem von Filmemacherinnen, die nicht verletzt werden, sondern verletzten wie in Yoko Onos Cut Piesce oder Jennifer Montgomerys Transitional Objects ist eine Gegenreaktion darauf.

Nachdem Yue dann alle Definitionen des Schnitts mit Frauen in einem materiellen und nicht-materiellen Schnitt durchexerziert hat, widmet sie sich der verschwindenden Frau in Archiven: der wahrscheinlich interessanteste Teil. Sie referiert dazu Bill Morrisons The Film of Her. Dabei geht es um die Paper Print Collection in der Library of Congress und wie Howard L. Walls 6000 Filme durchsucht, auf der Suche nach dem Bild einer Frau, an das er sich aus seiner Kindheit erinnern kann. Wenn das Archiv als Ort der Erinnerung verstanden wird, dann wird bevorzugt eine Erinnerung fortgeschrieben, die schon in der Filmproduktion angefangen hat. Das bedeutet, dass Frauen, die als China Girl posiert haben und damals keine Identität bekommen haben, diese im Archiv auch nicht bekommen werden und verschollen bleiben. Damit wird die verschwindende Frau im Archiv nicht wieder auftauchen. Yue ergänzt Jacques Derridas Archive Fever: A Freudian Impression um diese verschwundene Frauenfigur. Sie weist auf die Unterscheidung zwischen der realen Frau aus Fleisch und Blut und der Abbildung der Frau im von Derrida sog. Patriarchive hin. Yue möchte besser verstehen wie Archive nach einer Gender-Logik der Materialität funktionieren (vgl. S. 105).

Wenn man das Archiv dahingehend analysiert, wie es mit Frauenfiguren umgeht und wie sie repräsentiert werden, dann wird das Bild der Frau vor allem zu einer nostalgischen Erscheinung, was das Beispiel mit Howard L. Walls zeigt. Die reale Frau wird zerstört und zerschnitten in einem mehr oder weniger wörtlichen Sinne, um dann im Archiv mystifiziert zu werden (vgl. S. 114). Yue bringt als ein weiteres Beispiel für diese Suche den Film The Watermelon Womanvon Cheryl Dunye. Die Geschichte rückt eine dunkelhäutige Frau in den Mittelpunkt und Cheryl, eine dunkelhäutige lesbische Filmemacherin, die herausfinden will, wer diese Watermelon Woman ist, die sie in einigen Stummfilmen gefunden hat und nur im Nachspann als Watermelon Woman angeführt wurde. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer Identität. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass es sich nicht um eine Dokumentation handelt – das Szenario ist erfunden. Yue kommt zu dem Schluss, dass, selbst wenn die Frau als Referenzbild dient wie beim China Girl, ihre Erscheinung dann zusätzlich noch manipuliert wird, damit sie einer bestimmten Vorstellung entspricht. Diese Manipulation zieht sich dann fort in der Darstellung der Frau im Film und im Archiv. Yue kann eine Manipulation dahingehend deutlich machen und bringt dafür vielfältige Beispiele, die Materialität des Films gerät dabei immer weiter in den Hintergrund, obwohl die Materialität eigentlich der Ausgangspunkt war. 

Trotz dieses uneingelösten Anspruchs ist es Yue mit ihrer Monographie gelungen, eine fundierte feministische Repräsentationskritik vorzulegen. Insbesondere die Analyse von Sichtbarkeit und Zerschneidung des Bilds der Frau in audiovisuellen ästhetischen Inszenierungen und Archiven liest sich wie ein Krimi, den man dringlich weiterempfehlen will.

Autor/innen-Biografie

Vanessa Scharrer

Studium der Deutschen Philologie und Theater,- Film-, und Medienwissenschaft an der Universität Wien mit einer Masterarbeit zu Affekttheorie und Farbe im Film. Ihre Forschung bezieht sich auf historisches Filmmaterial, Farbtheorie und Archivtheorie. Tätig als Archivarin beim Österreichischen Filmmuseum. Lebt und arbeitet in Wien.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Medien