Claudia Dillmann/Olaf Möller (Hg.): Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963.

Frankfurt am Main: Deutsches Filminstitut 2016. ISBN: 978-3-88799-089-3. 415 S. Preis: € 24,80.

Autor/innen

  • Christian Cargnelli

Abstract

Der westdeutsche Film der 1950er Jahre hatte lange Zeit keinen guten Ruf. Schon 1961 stellte ihm Joe Hembus in seinem einflussreichen Buch Der deutsche Film kann gar nicht besser sein ein vernichtendes Zeugnis aus: "Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben." Hembus befand sich damit durchaus im Mainstream der veröffentlichten Meinung – und sein Befund muss jedenfalls im Kontext der frühen 1960er Jahre und konkreter historischer Bezüge gelesen werden: Niedergang bzw. Zusammenbruch der bundesrepublikanischen Filmindustrie, Anfänge seriöser filmjournalistischer Auseinandersetzung im Vor- und Umfeld der Zeitschrift Filmkritik und erste Aufbrüche zu neuen (gesellschaftskritischen) filmischen Formen, die ins Oberhausener Manifest von 1962 mündeten, das von 26 deutschen Filmemachern unterzeichnet wurde und das Ende von "Papas Kino" ausrief: "Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen."

Der vorliegende Band, entstanden als Begleitbuch zur gleichnamigen Retrospektive des Filmfestivals Locarno 2016, enthält 33 Texte von 34 AutorInnen (nur sechs davon sind Frauen) und schickt sich an, dieses Bild zurecht zu rücken. Er soll freilich, wie Co-Herausgeber Olaf Möller einleitend anmerkt, mehr sein "als eine bloße filmhistorische Revision", denn: "Die Qualität dieses Schaffens zeigt sich auch darin, dass es immer noch Antworten bereithält." (S. 25) Co-Herausgeberin Claudia Dillmann skizziert den kommerziellen Erfolg des westdeutschen Films der 1950er Jahre und endet mit einer teilweise kryptischen Conclusio: "[Das Kinopublikum] entschied sich millionenfach für Komödien und eine Tragikomödie, für das Lachen und Weinen, seine Stars und Lieblinge. Und bescherte damit dem deutschen Film seinen höchsten Marktanteil seit langem." (S 37) Welche Tragikomödie? Im Zuge ihrer Ehrenrettung führt Dillmann auch vier Oscar-Nominierungen (1956–1959) und vier Golden Globes-Gewinner (zwischen 1955 und 1959) an: diese "widerlegen in ihrer Häufung das Verdikt, der bundesdeutsche Film der 1950er Jahre sei international nicht anerkannt gewesen" (S. 36). Das mag für ein bestimmtes Zeitfenster durchaus zutreffen, allerdings gewann im Berichtszeitraum des Bandes lediglich ein einziger deutscher Film den Hauptpreis an einem der drei wichtigen internationalen Filmfestivals (Berlin, Cannes, Venedig), nämlich Die Ratten von Robert Siodmak (Berlinale 1955). Und schaut man sich filmkulturelle Leitmedien der Jahre 1949–1963 aus England und den USA durch (Sight and Sound, Hollywood Quarterly, Quarterly of Film, Radio, and Television/Film Quarterly), finden sich darin ausführliche Auseinandersetzungen mit dem französischen, italienischen, japanischen, sowjetischen und indischen Film, ebenso Analysen des schwedischen und polnischen Kinos, während der deutsche Film als nationales Filmschaffen praktisch nicht verhandelt wird – und wenn, dann von vereinzelten positiven Filmkritiken abgesehen, bedauernd bis sehr kritisch: "West Germany sent a creaky old operetta" ist etwa David Robinsons einzige Anmerkung in seinem Cannes-Bericht in Sight and Sound (Summer 1958).

Nun ist die Neubewertung des westdeutschen Nachkriegskinos so neu nun auch wieder nicht. Bereits 1993 setzte sich Fritz Göttler im Standardwerk Geschichte des deutschen Films dafür ein.[1] Etliche weitere Untersuchungen folgten, genannt seien stellvertretend Johannes von Moltkes No Place Like Home (2005) und die Sammelbände Framing the Fifties (2007) und zuletzt Reflexionen des beschädigten Lebens? (2015). Alle diese Werke, in denen mitunter sehr differenziert und präzise argumentiert wird, bleiben im vorliegenden Band ebenso ausgeblendet wie die scharfsinnigen Analysen von Klaus Kreimeier und Georg Seeßlen im Pionierband Zwischen Gestern und Morgen.[2]

Sieht man von dieser, für ein filmhistorisches Buch doch eher skurril anmutenden Ahistorizität ab, bleibt eine Vielzahl von Texten höchst unterschiedlicher Qualität. Manche sind so kurz, dass in ihnen kaum Argumente entwickelt werden (können). In Fritz Taubers "Heimatfilm. Versuch der Systematisierung eines Phänomens" etwa erfährt man auf knapp fünf Seiten absolut nichts Neues – außer dass Sonja Ziemann und Rudolf Prack "in einem guten Dutzend Filmen miteinander" (S. 106) aufgetreten wären. Es waren genau fünf. Dem ungemein produktiven Regisseur Michael Pfleghar wiederum werden gerade einmal vier Seiten gewidmet ("Verführer im System" von Thorsten Krämer). Und Miguel Marias' "Die Transluzenz des deutschen Kinos", in dem Helmut Käutners Ludwig II. (1955) thematisiert wird, vermag seinem anspruchsvollen Titel bedauerlicherweise auf einer Länge von nur drei Seiten nicht gerecht zu werden.

Leider haben sich etliche historische und inhaltliche Fehler in den Band eingeschlichen. So wird das Jahr 1937 in den Zweiten Weltkrieg verlegt (S. 111); G. W. Pabsts Es geschah am Juli (1955) basiert nicht auf einer Novelle von Remarque (S. 278); amerikanische Films Noirs gelangten sehr oft nicht "kurz nach dem jeweiligen US-Start auch in bundesdeutsche Kinos" (S. 258); der Journalist und Drehbuchautor Axel Eggebrecht war nicht im britischen Exil (S. 360); und Peter Lorre aufgrund seines kurzen Aufenthalts in der BRD als "Remigranten" zu bezeichnen, erscheint doch einigermaßen gewagt (S. 190).

Gleichwohl lassen sich einige Texte in diesem Band durchaus mit Gewinn lesen. Werner Sudendorf analysiert pointiert und präzise den "Gottesdienst der Tränen" (S. 171), also die Tiefen und Untiefen des deutschen Nachkriegsmelodrams. Sein Beitrag endet mit Veit Harlans Unsterbliche Geliebte (1950) und bringt dessen ideologisches, durchaus verallgemeinerbares Projekt auf den Punkt: "Mit dem der Novelle widersprechenden Ende duckte sich (...) Harlan weg von der Konsequenz, die das Melodram fordert. Das hat einen Beigeschmack; als plädierte Harlan hier mit der Konstruktion des gottesfürchtigen Hausfreundes auch in eigener Sache für Vergebung und Versöhnung. Das war Wunschdenken; die Schuld, 'dieses schreckliche Wort', blieb." (S. 187)

Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen beleuchten in ihrem Aufsatz "Gestalter nützlicher Bilder" die Arbeit von vier vergessenen Regisseuren im Grenzbereich zwischen Dokumentar- und Spielfilm, insbesondere jene von Rudolf Werner Kipp und Herbert Viktor. Hervé Dumont widmet sich den deutschen Nachkriegsfilmen und der "Heimkehr" des 1933 vertriebenen Regisseurs Robert Siodmak, Norbert Pfaffenbichler ebenso kenntnisreich dem "in vielerlei Hinsicht beeindruckend[en] und singulär[en]" Werk des Avantgardefilmers Franz Schömbs. Stefanie Mathilde Frank schließlich vergleicht in ihrer präzisen kleinteiligen Analyse zwei 1950er-Jahre-Remakes von Komödien mit ihren "Originalen": Das haut hin (1957) mit Peter Alexander mit Der Mann, von dem man spricht (1937); und Der Haustyrann (1959) mit Heinz Erhardt mit Das Ekel (1939).

Zwei sehr aufschlussreiche und informative Beiträge nähern sich den Wechselbeziehungen zwischen dem west- und dem ostdeutschen Kino. Ralf Schenk untersucht die (politisch) spannende Geschichte deutsch-deutscher Koproduktionsversuche im Kalten Krieg, Andreas Goldstein jene "knapp zwei Dutzend Filme" der DEFA, "die ganz oder teilweise in der Bundesrepublik spielen" (S. 343). Von besonderem Interesse ist einer der Höhepunkte des vorliegenden Bandes, Rudolf Worschechs "Das Neue im Alten", eine ausgezeichnete, wenn auch leider etwas knappe, Analyse der Kameraarbeit in westdeutschen Produktionen der 1950er Jahre, die im "Nachspüren der Wirklichkeit" (S. 99) eine Qualität ausmacht, die das westdeutsche Kino nur hie und da auf die Leinwand zu bringen vermochte.

Fazit: Der Sammelband Geliebt und verdrängt versammelt eine Vielzahl an Beiträgen höchst unterschiedlicher Schreibstile und Qualität. Ob sich das Interesse der HerausgeberInnen am "Ungenauen", wie Olaf Möller es mit Bezug auf Heinrich Böll – der die Bundesrepublik 1960 in seinem Essay "Hierzulande" (1960) als "ungenau" titulierte –, bezeichnet, in der Zusammenschau der Texte tatsächlich manifestiert, bleibe dahingestellt. Sorgfältigere editorische Arbeit hätte der Publikation jedenfalls sicherlich zum Vorteil gereicht.

 

[1] Vgl. Fritz Göttler: "Westdeutscher Nachkriegsfilm". In: Geschichte des deutschen Films. Hg. v. Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler. Stuttgart 1993, S. 171–210.

[2] Vgl. Johannes von Moltke: No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema. Berkeley/Los Angeles/London 2005; Framing the Fifties. Hg. v. John Davidson/Sabine Hake. New York/Oxford 2007; Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962. Hg. v. Bastian Blachut/Imme Klages/Sebastian Kuhn. München 2015 [Offenlegung: Ich bin in diesem Band mit einem Aufsatz vertreten]; Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946 – 1962. Hg. v. Hilmar Hoffmann/Walter Schobert. Frankfurt am Main 1989.

Autor/innen-Biografie

Christian Cargnelli

Studium der Theater- und Filmwissenschaft in Wien und Southampton (UK). Langjährige Tätigkeit als Journalist (Falter, Meteor, Ray, Filmbulletin, epd Film etc.). Kurator von Filmschauen (Viennale, Diagonale, Österreichisches Filmmuseum). Lehrbeauftragter an der Universität Wien seit 1998. Konzeption und Organisation von internationalen filmwissenschaftlichen Symposien. Seit Anfang der 1990er-Jahre intensive Beschäftigung mit Filmexil und Exilfilm, etwa 2004–2007 im Forschungsprojekt German-speaking Emigrés in British Cinema, 1925–1950 an der University of Southampton. 2004 und 2006 nominiert für den Willy Haas-Preis (beste Publikation zum deutschsprachigen Film). Präsident der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen. Betriebsrat (Ersatzmitglied) an der Universität Wien.

Publikationen: (Auswahl)

"Stanley Kramer got me off the blacklist". Christian Cargnelli in conversation with Charles Korvin. In: SYNEMA. Charles Korvin. Erinnerungen eines Hollywoodstars aus Ungarn. Wien: SYNEMA 2012.

–, Tim Bergfelder (Hg.): Destination London. German-speaking Emigrés and British Cinema 1925-1950. Oxford/New York: Berghahn 2008.

– (Hg.): Gustav Machaty. Ein Filmregisseur zwischen Prag und Hollywood. Wien: SYNEMA 2005.

–, Michael Omasta/Brigitte Mayr (Hg.): Carl Mayer. Scenar[t]ist. Wien: SYNEMA 2003.

–, Michael Omasta (Hg.): Schatten. Exil. Europäische Emigranten im Film noir. Wien: PVS 1997.

–, Michael Omasta (Hg.): Aufbruch ins Ungewisse. Österreichische Filmschaffende in der Emigration vor 1945. Wien: Wespennest 1993.

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Veröffentlicht

2018-11-15

Ausgabe

Rubrik

Film