Kai Merten/Lucia Krämer (Hg.): Postcolonial Studies Meets Media Studies. A Critical Encounter.
Bielefeld: transcript 2016. (Reihe: Postcolonial Studies Volume 23). ISBN 978-3-8376-3294-1. 262 S. Preis: € 29,99.
Abstract
In den letzten Jahren hat die interdependente Mobilität von Menschen, Objekten und Informationen zunehmende Beachtung in wissenschaftlichen und populären Diskursen gefunden. Damit gehen vermehrt auch Fragen nach Machstrukturen, Auswirkungen und Barrieren dieser Phänomene einher. Als Disziplinen, die sich mit medialen Praktiken, deren Akteur*innen, historisch gewachsenen Machtungleichgewichten und deren Folgen befassen, können Postkoloniale Studien und Medienwissenschaften einen wichtigen Beitrag liefern, um über derartige Entwicklungen nachzudenken. In diesem Kontext verspricht der von Kai Merten und Lucia Krämer herausgegebene Sammelband Postcolonial Studies Meets Media Studies. A Critical Encounter eine bereichernde Begegnung dieser zwei Disziplinen.
Erschienen in der Reihe "Postcolonial Studies", die Werke über (post)koloniale Kontexte sowie mit postkolonialen theoretischen Perspektiven auf diverse Forschungsgegenstände bzw. andere Disziplinen vereint, fügt sich der vorliegende Sammelband als Gesamtprojekt vor allem in letztere Kategorie ein. Die Zusammensetzung der Autor*innen zeigt ein leichtes Übergewicht an Beitragenden aus den Medienwissenschaften, wenngleich viele von ihnen postkoloniale Interessen in ihre Biographie integriert haben. Auf inhaltlicher Ebene wird zudem ersichtlich, dass die Beitragenden durchaus eine Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien und Konzepten praktizieren.
In ihrer Einleitung argumentieren Merten und Krämer, dass es eines vertieften Austauschs zwischen Postkolonialen Studien und Medienwissenschaften bedürfe. Aus Sicht der Medienwissenschaften sehen sie den möglichen Beitrag Postkolonialer Studien in einer transdisziplinären und kontext-sensitiven Perspektive auf Machtstrukturen in der globalen Medienlandschaft. Gerade diese Perspektive macht auch ein zentrales, verbindendes Element der Beiträge aus. Das Ziel der Herausgeber*innen ist somit, Autor*innen aus beiden Disziplinen zusammenzubringen, um eine gegenseitige Anwendung der jeweiligen Perspektiven zu fördern – ein Ausblick, der große Lust macht, tiefer in die einzelnen Kapitel einzusteigen.
In dem ersten Teil "Global Media" setzen sich die Beitragenden mit globalisierungstheoretischen Annahmen auseinander. Terry Flew und Bonnie Rui Liu zeigen mit ihrer kritischen Perspektive, dass ICT4D[1]-Projekte Ideen zu Medienkonvergenz mit modernisierungstheoretischen Paradigmen verbinden, indem sie den westlichen Umgang mit digitalen Medien als zu erreichende Norm darstellen und postkoloniale materielle Abhängigkeiten in der Medienindustrie verschärfen. Kai Hafez erklärt in seinem Beitrag anhand der Systemtheorie die Globalisierung von Massenkommunikation. Mit großer Aufmerksamkeit für diverse Einflussfaktoren und Widersprüche – aber leider mit wenig Berücksichtigung postkolonialer Fragestellungen – verweist er auf die Kontext-Abhängigkeit von internationaler Konnektivität und gesellschaftlichem Wandel durch Mediennutzung sowie auf Interdependenzen zwischen Mediensystemen und wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systemen. Brian Creech und Anandam Kavoori zeichnen die wandelnde Stellung der Person Wael Ghonim als Informant über den Arabischen Frühling nach. Durch eine postkoloniale Perspektive auf transkulturelle Subjektivität betonen sie dabei Möglichkeiten für hybridisierte Identitäten als Alternative zu einem territorialen Verständnis von Kultur in transkulturellen Medienwissenschaften. Uriya Shavit verdeutlicht mit den Figuren der "Lonely Sojourners" und der "Passive Transnationals" (S. 85), dass die Globalisierung der Massenmedienlandschaft nicht automatisch zu mehr Kohäsion diasporischer Gruppen oder mehr Engagement im sogenannten Herkunftsland führt, sondern zu diverseren Beziehungsmustern zwischen Individuen und den jeweiligen Gesellschaften.
Der Teil zu "Media Politics" eröffnet verschiedene Perspektiven auf politische Institutionen, deren Verbindung mit (post-)kolonialen Gesellschaftsstrukturen, oder deren Interaktion mit wirtschaftlichen Akteur*innen. Barbara Thomass beschreibt, wie postkoloniale Machtstrukturen zentrale Dimensionen der nationalen und internationalen Medienpolitik durchziehen. Diese reichen von der Bewertung und Regulierung von Mediensystemen, über die Berücksichtigung kultureller Diversität durch medienpolitische Akteur*innen bis hin zu der Integration von Belangen benachteiligter Gruppen in konkreten Medienpolitiken. Rinella Cere nutzt das Verständnis von Hegemonie nach Antonio Gramsci als verbindendes Element von Medienwissenschaften und Postkolonialen Studien. Sie zeigt, wie (gegen-)hegemoniale Repräsentationen und soziale Strukturen durch postkoloniale Konzepte (z.B. Subalternität) erklärt werden können. Sie verdeutlicht dies an deren Darstellung in Filmen von Claire Denis sowie in der stereotypisierenden Repräsentation von Akteur*innen des Globalen Südens in westlichen Medien. Monika Metha verbindet eine postkoloniale und Foucault’sche Perspektive auf Macht, um die gegenseitige Konstituierung von Globalisierung und Nationalstaat zu verdeutlichen. Sie erläutert einen vielschichtigen Analyserahmen, den sie für die Erforschung von Zensur in postkolonialen Kontexten entwickelt hat und erklärt am Beispiel des Films My Name is Khan (2010), wie dessen Inhalt, Produktions- und Rezeptionskontexte zusammenhängen.
Der dritte Teil "Media Industries" bringt postkoloniale Medienproduktion in Verbindung mit weitreichenderen ökonomischen Prozessen. Lars Eckstein zeigt, wie eine postkoloniale Perspektive auf Piraterie Eurozentrismen in aktuellen Debatten entlarven und gleichzeitig eine differenzierte Analyse von "cultures of copy" (S. 174) in postkolonialen Kontexten bieten kann. Anhand der Reproduktion von Kassetten in Indien und Nord-Nigeria erläutert er, wie diese Perspektive auch universalistische Verständnisse von (geistigem) Eigentum und dem Selbst als westlich positioniert entlarvt. Carla J. Maier wendet sich in ihrem Beitrag zu Sound Cultures gegen das Primat des Visuellen in westlichen Kulturen und zeigt am Beispiel von Bhangra-Musik und Piratensendern, wie Klang soziale und kulturelle Funktionen übernimmt und eine postkoloniale Perspektive essentialisierende und rassialisierende Kulturverständnisse unterminieren kann. Oliver Lindner verweist auf die neokolonialen Mechanismen Exotisierung, imperiale Nostalgie und inszenierte Marginalität in den Inhalten und Vermarktungsstrategien postkolonialer Kulturprodukte wie Taiye Selasis Roman Ghana Must Go (2013) oder dem Film Slumdog Millionaire (2009). Ana Christina Mendes nutzt die New Sociology of Literature, um kommerzielle Dynamiken in englischsprachiger Erzählliteratur südasiatischer Autor*innen zu untersuchen. Hierfür verwebt sie plausibel internationale wirtschaftspolitische Entwicklungen mit dem Inhalt der Werke und deren Erfolg durch kontextbedingte Erwartungshaltungen westlich verorteter Leser*innen.
Sven Werkmeister zeichnet schließlich im letzten Teil "Media History" die gegenseitige Bedingung von Imperialismus/Kolonialismus und der Stellung der Schriftsprache sowie das Auftreten von Gegenmomenten in dieser Entwicklung nach. Als Beispiele führt er die Erzählungen von ersten Begegnungen zwischen westlichen und nicht-westlichen Mächten an sowie die Versuche Carl Einsteins und Vertreter*innen des Dadaismus, nicht-westliche Kommunikationsformen in alphabetische Schrift zu konvertieren. Schließlich leitet er hieraus Implikationen für eine Postkoloniale Literaturwissenschaft und Mediengeschichte ab.
Mit diesen vier Teilen zu Globalisierung, Politik, Industrie und Geschichte deckt der Sammelband wichtige Bereiche der internationalen Medienlandschaft ab. Noch bedeutender aber ist das breite Spektrum, das die einzelnen Beiträge auffächern, von einer Bewertung der Schriftsprache als solche, über Praktiken wie dem Medienkonsum von diasporischen Akteur*innen oder der Vermarktung postkolonialer Medienprodukte bis hin zur Analyse diverser Medienformate wie Film, Literatur und Musik. Dabei verbinden die Autor*innen – teils innerhalb ihrer Beiträge, teils durch ihre jeweilige Perspektive auf ähnliche Phänomene – Problematiken von Repräsentation und Materialität in postkolonialen und neokolonialen Kontexten. So tragen sie zu einer Perspektive bei, die Komplexität und Kontingenz mitdenkt und sich gegen einen Determinismus sowohl in medialen Praktiken als auch in internationalen und interkulturellen Beziehungen wendet. Dies wird noch verstärkt durch eine ausführliche sozio-ökonomische und historische Kontextualisierung medialer Praktiken, die viele Autor*innen in ihre Beiträge einfließen lassen. In diesem Sinne leistet der Sammelband zum einen einen Beitrag zu Postkolonialen Studien, die postkoloniale und neokoloniale Mechanismen in Repräsentation und Materialität durch eine medienwissenschaftliche Perspektive auf Konzepte wie Kommerzialisierung besser sichtbar machen können. Zum anderen ermöglichen die hier vorgestellten postkolonialen Perspektiven es Medienwissenschaftler*innen, ihre Gegenstände und theoretischen Annahmen aufbauend auf intensivem Kontextverständnis in Fragen von Ungleichheit einzubetten.
Was den angekündigten Austausch zwischen Postkolonialen Studien und Medienwissenschaften angeht, so findet dieser also durchaus innerhalb der Beiträge statt. Allerdings hätte der Sammelband von mehr Interaktion zwischen ihnen profitiert. Auch wenn dies einen beträchtlichen Mehraufwand bedeutet, hätten mehr Bezüge und Dialog zwischen den Autor*innen dem Werk noch eine besondere Note gegeben. Zudem sind zentrale Begriffe wie 'postkolonial' oder 'Medien' in manchen Beiträgen ausführlich definiert, in anderen dagegen eher als gesetzt verwendet. In diesem Sinne wäre auch ein Index interessant, um beispielsweise Konzepte wie Orientalismus oder Eurozentrismus in ihrer jeweiligen Anwendung bei den verschiedenen Autor*innen nachschlagen zu können.
Im Hinblick auf den Untertitel A Critical Encounter bleibt vor allem nach Lektüre der Einleitung die Frage offen, worin konkret der kritische Aspekt des Aufeinandertreffens von Postkolonialen Studien und Medienwissenschaften besteht. Gerade in dem kritischen Element liegt meiner Meinung nach jedoch der besondere Wert dieses Sammelbandes. So beinhaltet er einerseits kritische Hinterfragungen medienwissenschaftlicher Ansätze, Postkolonialer Studien und deren Gegenstände. Andererseits formulieren diverse Autor*innen sozial- und wissenschaftspolitische Ansprüche an Medienpraktiken und deren Erforschung. Zusammenfassend macht Postcolonial Studies Meets Media Studies. A Critical Encounter durch diese kritische Beschäftigung mit multiplen Perspektiven und Gegenständen auf die zahlreichen Interaktionspotentiale von Postkolonialen Studien und Medienwissenschaften aufmerksam und inspiriert dazu, diese Bereiche auch weiterhin in Dialog miteinander zu bringen.
[1] Information and Communication Technology for Development
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