Alexander Kluge: Zirkus / Kommentar.
Berlin: Suhrkamp 2021. ISBN: 9783518430231. 176 Seiten, Preis: € 28,00.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-09Abstract
In dem Ende 2021 beim Suhrkamp-Verlag erschienen Buch Zirkus / Kommentar nimmt Alexander Kluge die Auswirkungen der Corona-Pandemie sowie die zu deren Bekämpfung eingesetzten Maßnahmen zum Anlass, sich erneut einem Herzensthema, dem Zirkus, zuzuwenden. Formal bleibt Kluge seinem Montageprinzip treu, der Zirkus / Kommentar lässt sich kaum als "Buch" im klassischen Sinn definieren. Hierbei handelt es sich vielmehr um eine experimentelle, multimediale Bild-Text-Film-Montage, die vom ästhetischen Gesamteindruck her stark an Kluges Filme erinnert. Die Filmbestandteile fließen mittels QR-Codes direkt in die Buch-Collage ein.
Als programmatischen ersten Satz setzt Kluge "WIR ARTISTEN GEBEN UNSER LEBEN FÜR ETWAS, DAS SEINE TOTEN WERT IST" unter den Titel seines Kommentars. Der Begriff der Artisten ist dabei weit gefasst und geht über den Bereich des Zirkus hinaus: "Wir Artisten an der Werkbank, in den Zentren der Wissenschaft, in Liebesdingen, in den Lebensläufen und in der Politik" (S. 9). Melancholisch beschreibt er das Aussterben der letzten kleinen Wanderzirkusse, wenn er ausgehend von der prekären Situation des Zirkus heute in dem kurzen Text "Warum ich in den Zirkus als Thema meiner Filme vernarrt bin" sehnsüchtig auf seine eigenen frühen Zirkuserfahrungen zurückblickt:
"Ich war fünfeinhalb Jahre alt. Auf dem Burchardi-Anger: Herbstzirkus. In die Manege wird auf Rädern ein riesenhaftes Aquarium hereingefahren. Vor unseren Augen wird der durchsichtige Behälter mit Wasser gefüllt. Aus Bodenklappen tauchen im Unterwasserbassin Robben auf, durchschwimmen den Pool. Eine Dompteuse […] ordnet die Robben zu einer Reihe, ähnlich einer Form von Flugzeugen, die eine Übung am Himmel durchführen. Himmel, Wasser, Manege – die Elemente verwirren sich. Ich kann mich für die korrekte Zeugenschaft meiner fünfeinhalbjährigen Augen nicht verbürgen." (S. 23)
Die detaillierten Kindheitserinnerungen lassen Kluges Faszination sowohl für die technische Finesse als auch für die Magie der fantastischen Zirkusnummern deutlich werden, die bis heute etliche seiner Arbeiten beeinflusst. "Das war die ALLMACHT JENER TAGE“ schreibt er rückblickend über die "Wassernummer". Erinnerungen wie diese, die er bis heute in sich trage, bieten Kluge einen Rückzugsort "wenn der Shutdown lang wird" (S. 23).
Kluge ist einerseits zutiefst beeindruckt vom Zirkus und erkennt dessen subversives Potential, weist andererseits kritisch auf dessen autoritäre und naturbeherrschenden Elemente hin, die etwa in Form der Tierdressur fixer Bestandteil vieler Zirkusprogramme war. In Kongs große Stunde (2015) ironisiert er die Tierdressur, indem er vom undressierbaren Gorilla Kong berichtet, der selbst den erfahrenen russischen Dompteur Durow zur Verzweiflung treibt. Kong bekommt auch seinen Platz im Zirkus / Kommentar; neben einigen Bildern fingiert Kluge ein "Gespräch mit Kong über das menschliche Herz" (S. 52f.). Ebenso geht Kluge auf die Entstehung seiner zwei Zirkusfilme, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968) und dessen Fortführung Die unbezähmbare Leni Peickert (1970), sowie auf deren historischen Kontext – die Studierendenproteste 1968 – ein (vgl. S. 25). Leni Peickert, die Protagonistin seiner Artisten-Filme, sieht den unreflektierten Umgang mit der Natur – vor allem mit den Tieren – im klassischen Zirkus und versucht aus diesem Grund einen Reformzirkus zu gründen. Raubtierdressuren sollen aus dem Zirkusprogramm gestrichen werden. Sie wünscht sich ein nicht-entfremdetes, versöhntes Verhältnis zwischen Mensch und Tier, in dem es für Kinder gefahrlos möglich wäre mit den Zirkustieren zu spielen und zu interagieren. Dieser Wunsch findet sich im Zirkus / Kommentar wieder, wenn Kluge den Zirkus mit einem Bild vergleicht, in dem ein Kind einem Löwen "einen Dorn aus der Tatze gezogen hatte und deshalb […] eng ans Raubtier gelehnt sich in Sicherheit fühlte" (S. 45). Neben das Kind-Löwen-Dornen-Bild gesellt sich jenes, "auf dem Raubtiere und Gazellen an einem Fluss einträchtig einander gegenüberstanden und aus diesem Fließwasser tranken" (S. 45). Diese utopischen Momente überträgt Kluge in Kapitel 3 "Arbeit / Können! Zirkus / Kunst" auf das Verhältnis zwischen Kunst, Artistik und Arbeit. Kluge kritisiert darin in verspielter Art und Weise die Überhöhung und Fetischisierung von Arbeit durch eine Liste von "Worte, die nicht unter den Begriff Arbeit fallen": "spielen, gähnen, beten, schlafen, grübeln, hassen, würgen, rauben, trocknen, Witze erzählen, […]" (S. 70).
Kluge bezieht sich in seinem "Kommentar" immer wieder auf Walter Benjamin, dem zufolge es im Zirkus zum "Friedensschluss der Klassen unter der Zirkuskuppel" käme (S. 44). Antagonistische Klassenverhältnisse wie jenes zwischen den Arbeitsleuten, den Clowns und den Herrenreitern würden im Zirkus überwunden werden (vgl. ebd.). Ein weiterer Bezug auf Benjamin besteht in Kluges Emphase für die "Rettende Tat" (S. 91). Man denke an Benjamins Bilder vom "Griff nach der Notbremse" und dem Durchschneiden der "brennenden Zündschnur" bevor der "Funke an das Dynamit kommt" (Benjamin 1991, GS I, S. 1232 und GS IV, S. 122). Benjamin ist begeistert von der gesteigerten Lebensgefahr im Zirkus. Ihm zufolge sei das Zirkuspublikum in eine aktive und aufmerksame Haltung versetzt und daher "weit respektvoller als das irgend welcher Theater oder Konzertsäle." Ihm zufolge sei es "immer noch eher denkbar, daß während Hamlet den Polonius totsticht, ein Herr im Publikum den Nachbar um das Programm bittet als während der Akrobat von der Kuppel den doppelten Salto mortale macht" (Benjamin 1991, GS III S. 70). Damit der salto nicht im mortale ende, benötige es Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart, zwei Fähigkeiten, die für Benjamin auch in Bezug auf gesellschaftliche Veränderung unabdingbar sind. Ebenso für Kluge. Im Zirkus / Kommentar montiert er Bilder der lebensgefährlichen Zirkusakrobatik mit der Geschichte "Überlistung der Schwerkraft" zusammen, die von einem lebensrettenden Eingriff während eines Arbeitseinsatzes auf einem 130 Meter hohen Starkstrommast berichtet (S. 76). Kluge gelingt es dadurch, die subversiven, kairologischen Elemente des Zirkus in die Alltags- und Arbeitswelt zu übersetzen.
Die zentrale Figur für Kluges Auseinandersetzung mit dem Zirkus ist der Elefant. Dieser steht stellvertretend für die unterdrückten Lebewesen der Geschichte, er richtet sich mit seinem Elefantengedächtnis gegen das Vergessen und repräsentiert mit seiner dicken Haut die Unerschütterlichkeit. Bilder von Elefanten tauchen in etlichen Arbeiten Kluges, so auch im Zirkus / Kommentar, auf. Im abschließenden 7. Kapitel "Er rettete das Liebste, was er besass, und zugleich eine Nachhut von zwölf Elefanten" präsentiert Kluge zahlreiche Bilder und Textstellen zum Thema sowie einen QR-Code, der zum Kurzfilm "Elefanten ohne Vaterland vereinigt euch zu Gruppen!" (2017) weiterleitet, einer Filmcollage, die einige den Elefanten gewidmeten Stellen aus seinen Filmen versammelt. Der Elefant ist bei Kluge eine dialektische Figur, er steht einerseits für Autorität, andererseits steckt in ihm das Potential zur Überwindung von Autorität und Herrschaft. Im Zirkus / Kommentar zitiert Kluge die Geschichte vom "Brand des Elefantenhauses in Chicago" sowie den darauffolgenden Schwur der Elefanten. Während die Elefanten das Feuer und die dadurch präsente Lebensgefahr erkennen, versucht der Zirkusdirektor sie zu täuschen, indem er die Katastrophe als Übung kaschiert und das Feuer als Schein bezeichnet.
"Die Dickhäuter, die das Feuer auf ihrer Haut spüren, sind verzweifelt. Freiheit, sagt einer der Elefanten, bedeutet das Wagnis des Lebens, nicht weil sie die Befreiung von der Knechtschaft bedeutet, sondern weil das Wesen der menschlichen Freiheit in sich durch die gegenseitige, negative Beziehung zum anderen definiert ist. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Leipzig, 1912, S. 120)" (S. 152 sowie Kluge 1968, S. 15).
Die Elefanten zitieren Hegel, berichten vom Durchbrechen des Scheins und initiieren ihre Selbstbefreiung. Nach ihrer Befreiung folgt der Schwur der Elefanten, der sowohl als Akt der Selbstermächtigung als auch als Mahnung verstanden werden soll:
"Die Dickhäuter schwören: Wir vergessen nichts.
Das werden wir den Feuerlöschern nicht vergessen,
und dem Direktor, der uns gerufen hat,
es war nur Schein!
Das war kein Schein,
oder vielmehr, das war Feuerschein.
Die Faschisten, welche brennen,
müssen wir in Kisten packen
und in tiefe See versenken.
Die nicht brennen, aber auch nicht löschen,
sind wie jene, welche brennen,
müssen wir in Kisten packen und in tiefe See versenken.
Unsere Erinnerungen an die Schmerzen
und das Feuer müssen wir in Kisten packen
und in tiefe See versenken.
Oder aber, Rache, Rache!
Aber der wird totgeschossen,
der bei Rache wird getroffen.
Lieber schießen als vergessen.
Lieber in die See versenken."
(S. 153f. sowie Kluge 1968, S. 15f.)
Kluges Elefanten werden zu Partisan*innen, die gegen das Unrecht, den Schein und das Vergessen ankämpfen. Die Elefanten gleichen dabei der Figur des undressierbaren, eigensinnigen Gorillas Kong.
Mit dem Zirkus / Kommentar hat Kluge eine kurzweilige Einstiegsmöglichkeit in einen Themenkomplex geschaffen, der sein gesamtes Oeuvre durchzieht. Akrobatisch, assoziativ, artistisch und ästhetisch äußerst ansprechend regt der Zirkus / Kommentar den Appetit nach mehr Kluge'scher Artistik an. Dank der zahlreichen Verweise und Verlinkungen mittels QR-Codes lässt sich dieses Bedürfnis auch unverzüglich stillen.
Literatur:
Benjamin, Walter: "Anmerkungen zu 'Über den Begriff der Geschichte'". In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 1223-1266.
Benjamin, Walter: "Einbahnstraße". In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band IV. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 83-149.
Benjamin, Walter: "Roman Gomez de la Serna, Le cirque. Paris: Simon Kra 1927". In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band III. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 70-72.
Kluge, Alexander: Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015.
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2022 Daniel Gönitzer
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.