Sylvie Lindeperg/Ania Szczepanska: Who Owns the Image?
Lüneburg: meson press 2021. ISBN: 978-3-95796-014-6. DOI: 10.14619/0146. 143 Seiten, open access/free download.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-08Abstract
Unter dem Motto "seltenes, unveröffentlichtes Bildmaterial" werden derzeit zahlreiche Dokumentarfilme mit historischen Themen angepriesen, bei denen das Zurückgreifen auf Archivmaterial zu einem der Hauptverkaufsargumente geworden ist. Die Verwendung von Archivmaterial soll Vertrauen beim Publikum erwecken, denn dadurch wird suggeriert, dass eine langjährige und akribische Recherche betrieben wurde, um die filmische Darstellung der Vergangenheit als glaubhafte historische Wahrheit abzusegnen.
Während die Verwendung von Footage schon immer eine gängige Filmpraxis war – man denke an Filmemacher*innen der Avantgarde, deren Material aus allen erdenklichen Quellen stammt –, scheint sich in den letzten beiden Jahrzehnten ein neuer Trend entwickelt zu haben, bei dem es um die Verwendung von Archivmaterial geht.
Diesen Trend, mit dem sich auch schon Jamie Baron in seiner 2014 veröffentlichten Monografie The Archive Effect auseinandergesetzt hat, nehmen die beiden Autorinnen Sylvie Lindeperg und Ania Szczepanska zum Anlass, um in ihrer 2021 in englischer Übersetzung erschienenen Publikation Who Owns The Images? über die Frage nachzudenken, wem die Bilder gehören, die sich in audiovisuellen Archiven befinden und ob sich der Begriff des Eigentums überhaupt auf (filmische) Bilder anwenden lässt. Die Publikation, die bereits 2017 als französische Originalfassung veröffentlicht wurde, ist Teil der Open-Access-Buchreihe Configurations of Film und kann bei meson press kostenlos als pdf heruntergeladen werden. Lindeperg und Szczepanska sammeln in ihrem Buch die Ergebnisse einer Forschungsgruppe, die unter der Schirmherrschaft des Labex création art et patrimoine (CAP) entstanden ist.
Das handliche Buch unterteilt sich in insgesamt vier Teile, wobei die ersten beiden Kapitel als theoretischer Unterbau dienen, um über Archive und den Stellenwert von audiovisuellen Bildern im Allgemeinen nachzudenken. Neben einem theoretischen Einstieg in das Themenfeld des Archivs bietet die Publikation auch einen Einblick in unterschiedliche Positionen zum Umgang mit Archivmaterialien, die die beiden Autorinnen durch insgesamt sechs Interviews ermöglichen. Die Interviews nehmen mit dem dritten Kapitel den größten Teil des Buches ein und bilden sein Kernstück. In dem vierten und letzten Kapitel werden anhand von Schlagwörtern noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse aus den Interviews zusammengefasst. Dabei wird schnell deutlich, dass die Vorstellungen darüber, was erlaubt ist mit Archivmaterial und was nicht, teilweise weit auseinander gehen. Die Publikation kann daher auch als Aufforderung gelesen werden, ein einheitliches Regelwerk aufzustellen, das moralische und ethische Grenzen für den Umgang mit Archivmaterial klar absteckt. Der Wunsch nach einheitlichen Richtlinien für die (Nach-)Bearbeitung von historischem Filmmaterial ist durchaus berechtigt und insbesondere im Kontext der Filmrestaurierung finden sich bereits zahlreiche Publikationen, wie beispielsweise von Ross Lipman oder Marco Pescetelli, die darauf hinweisen, dass Archivar*innen sich gezwungenermaßen in einer Grauzone bewegen.
Das Buch beginnt mit grundlegenden Überlegungen zu dem Begriff Archiv und bindet dafür immer wieder Texte von Jacques Derrida und Walter Benjamin mit ein. Die beiden Autorinnen betonen, dass Archive noch nie neutrale Orte einer bloßen Konservierung von Materialien waren, sondern schon immer als "tools of knowledge and progress" auf der einen Seite und als "instruments of control" (S. 24) auf der anderen Seite bezeichnet werden können. Zum einen bewahren sie ein kulturelles Erbe, zum anderen formen sie durch diese Tätigkeit auch unser Verständnis der Vergangenheit. Gleichzeitig ist es Lindeperg und Szczepanska wichtig darauf hinzuweisen, dass audiovisuelle Quellen nicht als unanfechtbare Wahrheiten interpretiert werden dürfen, da Filme auch immer der Ausdruck eines Standpunktes sind. Die subjektive Rahmung und Verortung eines Bildes, die zurückzuführen sind auf die Personen, die am Filmprozess beteiligt sind, führen die beiden Autorinnen zu ihrer eigentlichen Frage zurück, nämlich wem die Bilder in Archiven gehören.
Diese Frage lässt sich auch nach der Lektüre dieses Buches nicht so einfach beantworten, was allerdings keine inhaltliche Schwäche ist, sondern schlichtweg daran liegt, dass es in dem Buch um viel mehr geht als die juristische Frage danach, wem ein materielles Objekt gehört. Who Owns The Images? dreht sich um die Problematik des geistigen Eigentums und des Urheberrechts, durch das filmische Werke und deren Verbreitung geschützt sind. Personen erwerben meist nur eine Lizenz, die sie dazu befähigt, einen Film oder Teile eines Filmes für einen bestimmten Zeitraum zu nutzen. Ob ein Film durch das Urheberrecht geschützt ist, hängt allerdings davon ab, ob er als "persönlich-geistige Schöpfung" angesehen wird oder nicht, wobei auch diese Einstufung nicht immer nachvollziehbaren Entscheidungen folgen muss. Hierbei geht es um Zuschreibungen, die klassifizieren wie ein Werk entstanden ist und ob es die persönliche Handschrift der Autor*innen trägt oder nicht. Dies kann bedeuten, dass spontane Aufnahmen, die nicht inszeniert scheinen, nicht als geistige Schöpfung eingeordnet werden, was häufig dazu führt, dass dokumentarische Archivaufnahmen nicht durch das Urheberrecht geschützt sind.
Dieses Dilemma führt zu dem, was Lindeperg in dem zweiten Kapitel "The Strange Fate of Archival Images" thematisiert. Anhand der französischen Dokumentarfilmserie Apocalypse la 2ème Guerre mondiale (Der Zweite Weltkrieg – Apokalypse der Moderne) wird die Überarbeitung von Archivmaterialen aus kommerziellen Interessen thematisiert. Die für die Serie verwendeten Archivaufnahmen stammen aus dem Zweiten Weltkrieg und wurden teilweise nachkoloriert, um, so argumentieren die Produzent*innen der Serie Isabelle Clarke und Daniel Costelle, die technischen Unzulänglichkeiten der damaligen Zeit auszugleichen. Unter dem Vorwand, dass Kameraleute und Filmemacher*innen die Welt damals in Farbe sahen, wurden die ursprünglichen Schwarz-Weiß-Bilder ausgebessert, Lindeperg und Szczepanska würden sagen 'manipuliert', um die verwendeten Aufnahmen dadurch 'wahrer', 'echter' zu machen (vgl. S. 43). Diese Anpassung an heutige Sehgewohnheiten, die von den beiden Autorinnen auch als "cosmetic makeover" (S. 45) betitelt wird, ist aus vielerlei Hinsicht fragwürdig. Nicht nur wird hier eine bestimmte Narration verfolgt, die die historischen Dokumente verfälscht, die Manipulation folgt eigentlich einem ganz bestimmten Zweck, nämlich dem der Gewinnmaximierung.
Wie Personen, die mit filmischen Bildern arbeiten, diese Überarbeitung von Archivaufnahmen einschätzen und wo für sie die Grenzen liegen im Schutz von Archivmaterial, wird in dem dritten Kapitel "The Archives in Disarray" thematisiert. Durch die Interviews mit einer Rechtsanwältin, einem Archivar und einer Archivarin, einem Produzenten, einem Filmemacher und einer Philosophin, wird klar, dass es Meinungsverschiedenheiten und Spannungen gibt, wenn es darum geht, wie Archivbilder ethisch genutzt werden können und wie gleichzeitig eine nachhaltige Beziehung geschaffen werden kann zwischen einer Öffentlichkeit, Institutionen und Forschenden. Alle interviewten Personen stammen aus Frankreich und sind auch dort tätig, weswegen der Fokus der Interviews auf Frankreich, seinen politischen Strukturen und seiner öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft liegt. Nicht immer können die beschriebenen Phänomene deckungsgleich auf andere Länder übertragen werden, was man beim Lesen im Hinterkopf behalten sollte.
Den spannendsten Gedanken entwickelt die Philosophin Marie-José Mondzain, indem sie die Frage um das Urheberrecht umdreht und auf die Notwendigkeit verweist, dass jedes Bild unabhängig von seinem rechtlichen Status die gleichen Rechte genießen sollte. Ihr geht es darum, das Bild aus der Passivität des Besitzes zu befreien und dessen Integrität zu schützen, indem dessen immaterielle Werte berücksichtigt werden. Die Freiheit der Nutzung und die Achtung vor dem zu bewahrenden Objekt stehen sich dabei allerdings immer gegenüber, weswegen Mondzain dafür plädiert eine Charta zu erstellen, die genau festlegt für welche Zwecke Bilder aus Archiven verwendet werden sollten und unter welchen Bedingungen eine Nutzung akzeptiert werden kann.
Dieser Anstoß wird auch in dem letzten Kapitel "The Words of the 'Dispute'" noch einmal aufgegriffen, wobei es bei dem von Mondzain geforderten Regelwerk nicht um eine Einordnung in gut/schlecht gehen soll. Eine Charta soll vielmehr einen Raum eröffnen, der es ermöglicht über die am Originaldokument vorgenommenen Veränderungen zu diskutieren. Bemerkenswert ist, dass an dieser Stelle die Empfehlungen der FIAF (International Federation of Film Archives) im Umgang mit Archivmaterial keine Erwähnung finden. Erst letztes Jahr hat die FIAF ihr mittlerweile drittes Statement veröffentlicht, das klare rote Linien absteckt, wenn es um die digitale Bearbeitung von filmischem Archivmaterial geht. Auch wenn sich das Statement hauptsächlich auf die Filmrestaurierung bezieht, so geht es dort ebenfalls um ethische Grundsätze. Die Nachkolorierung von Schwarz-Weiß-Filmen wird beispielsweise in Kontext einer Restaurierung als Akt des Vandalismus verstanden.
Fest steht, da sind sich beide Autorinnen einig und das betont Szczepanska noch einmal in dem letzten Kapitel, dass das Gesetz allein nicht ausreicht, um die Integrität von Archivbildern zu schützen. Gleichzeitig sollten die audiovisuellen Bilder, die in Archiven bewahrt werden, als Gemeingut genutzt werden können und für alle gleichermaßen zugänglich sein. Archive finanzieren sich allerdings häufig durch den Verkauf von Archivmaterial, was einen uneingeschränkten Zugang nicht lukrativ macht.
Damit thematisiert das Buch etwas, das in der Debatte um Filmarchive häufig im Verborgenen bleibt, nämlich die zahllosen Verdienstmöglichkeiten unter dem Deckmantel des Eigentumsrechts, und die Frage danach, welcher Auftrag einem Staat eigentlich zukommt, wenn es um die Erhaltung von kulturellem Erbe geht, was unausweichlich mit enormen Kosten verbunden ist. Das Potenzial des Buches liegt darin die Herausforderungen und kollektiven Ängste der Archivierung nicht einfach nur anzusprechen, sondern auch konkrete Vorschläge zu unterbreiten, die dabei helfen können die Problemfelder des öffentlichen Wissens, des Urheberrechts, der Digitalisierung, der Verbreitung und der Nutzungsethik von audiovisuellen Quellen in Einklang zu bringen. Damit dies auch langfristig gelingt, laden die Autorinnen dazu ein, politische und kapitalistische Strukturen zu überdenken und Formen der Geschichtsschreibung zu hinterfragen.
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