Rainer Stollmann/Alexander Kluge: Ferngespräche über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft.
Berlin: Vorwerk 8 2016. ISBN 978-3-9403-8476-8. 192 S., zahlr. Abb., Preis: € 19,-.
Abstract
In den 1960ern konnte man über das Telefon, war man nur bereit dazu, die hierfür anfallenden Mehrwertgebühren zu bezahlen, beliebig oft und jederzeit die neuesten Musik-Charts hören. Stollmann und Kluges neuer Band Ferngespräche verschränken die Medien (im weitesten Sinne) in vergleichbarer Weise: und zwar das Telefon mit dem Buch (anstatt der Musik). In ihren Ferngesprächen lauscht man einem Lobgesang auf die Macht der zärtlichen Kraft, Erläuterungen zum Prinzip der Montage, der Funktion der Metapher und zum Kapital im 21. Jahrhundert. "Gebühr" im Buchladen: 19 Euro.
Ein bereits verschwundenes Bildsymbol aus dem Kommunikationsalltag eröffnet den kürzlich erschienenen Band mit Gesprächen zwischen Kluge und Stollmann: Es zeigt in kantigen Flächen einen Mann am Telefonhörer, darunter in großen Lettern: "Öffentlicher Fernsprecher. Mit Geldeinwurf". Der aus dem öffentlichen Raum verschwundene Bildtext, von der Außenwand einer Telefonkabine an den Buchanfang des Gesprächbandes gestellt, entfaltet an diesem ungewohnten Ort eine neue Semantik und führt in Stollmann und Kluges Buchprojekt ein. Mit abgebildet werden hierdurch vor allem die medientechnischen Voraussetzungen und der öffentlichkeitsrelevante Charakter der Gespräche.
Im Mittelpunkt der Ferngespräche steht "ein Fall von Internet-Telefonie über den Himalaya hinweg" (S. 35–53), der eine Videokonferenz zwischen Alexander Kluge und dem Professor für chinesische Literatur, Wang Hui, dokumentiert. Das Gespräch fand nach einer neunstündigen Filmvorführung von Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike vor rund 600 Zuseherinnen und Zusehern in Peking statt. Moderiert wurde es von der Literatin Wang Ge. Rainer Stollmann, der sich unter den Zuseherinnen und Zusehern in Peking befand, vertieft in den darauffolgenden Telefongesprächen[1] die in der chinesischen Diskussion angesprochenen Themen. Auf konkrete Aussagen in der Diskussion in Peking wird an mehreren Stellen ausführlicher eingegangen. Was mit diesem Band in seinem Selbstverständnis, ausgedrückt durch das Bild des öffentlichen Fernsprechers, vorliegt, ist das Resultat eines öffentlich gemachten Vernunftgebrauchs unter den technischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts.
Stollmann und Kluges Ferngespräche haben zwei Vorgängerprojekte, die in vergleichbarer Weise den interviewerfahrenen Autor Kluge vor die Aufnahmegeräte bitten: die gemeinsam mit Christian Schulte geführte Verdeckte Ermittlung[2] und Die Entdeckung des Schönheitssinns aus dem Eis,[3] in denen Kluge vorrangig zu seinen Geschichten und seiner Schreibweise als literarischer Autor befragt wird. In den Ferngesprächen aber werden bis in die Buchgestaltung hinein die entfernten Sprecherpositionen und ihre fernmündliche Vermittlung in andernorts selten gesehener Weise ins Bild gerückt. Dass Kluge zu den telefonbegeisterten Intellektuellen der heutigen Zeit zählt, ist allen, die es aufgrund seiner Affinität zum mündlichen Gespräch nicht ohnehin schon erraten oder selbst erfahren haben, seit Georg Stanitzeks Aufsatz Mit Freunden telefonieren[4] bekannt. Stollmann und Kluge machen dies mit den Ferngesprächen noch einmal im Besonderen deutlich. Fälle, in denen das Telefon als literarisches Produktionsmittel genutzt wird und nicht bloß als literarisches Motiv auftaucht, haben Seltenheitswert.[5]
So viel zur durchaus bemerkenswerten medialen Rahmung des Buches. Thematisch kreisen die Gespräche zwischen Stollmann und Kluge in der Hauptsache um den Begriff der Montage, den Kluge im Anschluss an Sergej Eisenstein weiterentwickelt. Eisensteins Montagetechnik bricht laut Kluge den Pseudorealismus des unsichtbaren Schnitts und betont demgegenüber die Kontraste, die zwischen zwei autonomen Bildern entstehen. Kluge entwickelt diese Technik auf der Ebene ganzer Sequenzen weiter: "Nicht nur die einzelne Einstellung grenzt an die andere Einstellung, wodurch eine Sequenz entsteht, sondern die Sequenzen selber, die bereits eine montierte Geschichte erzählen und ein Netz bilden, die bilden wiederum ein Netz. […D]as nennt man KONSTELLATIVE MONTAGE" (S. 55).
Nicht Bilder oder Aussagen werden montiert, sondern ganze Geschichten und Themen, die sich durch "Erfahrungsschwerpunkte" mit "gravitative[n] Kräften" (S. 83) auszeichnen und in Folge wiederum anziehend oder abstoßend auf weitere Themen wirken. Kluge und Stollmann erläutern dies sehr anschaulich am Beispiel der Titanic und dem hiermit assoziierten Unfall der Costa Concordia, zwei Katastrophen, die beinahe genau 100 Jahre voneinander trennen. Nicht das nautische Szenario oder die Opferzahlen bilden den Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen, sondern "riskante Manöver" in Eile, "Nebel durch Alkohol", "momentane Absenz" und zu wenig Erfahrung im Umgang mit Rettungsbooten seien die gleichen Elemente, "die in verschiedenen Katastrophen, getrennt marschierend, zum gleichen Desaster führen" (S. 26f). Dieses Wiedererkennen elementarer Strukturen in der Geschichte zu aktuellen Anlässen geschieht hier aber nur zufällig in beiden Fällen auf hoher See. Auf das Politische angewendet könnte man mit Konzentration auf diese Elemente Gefahrensignale wahrnehmen, etwa wenn der am wenigsten erfahrende Politiker "am kühnsten auftritt" (S. 26).
Das technische, politische, gesellschaftliche Unglück bleibt verbunden mit der subjektiven Unterseite der Betroffenen, die Kluge auch in den Ferngesprächen stets bemüht ist mit zu erzählen. Hierdurch kommt die im Titel des Bandes angeführte, vielleicht auf den ersten Blick nicht zu Marx und dem Kapital gehörende Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft ins thematische Feld. Ergänzend zum technischen und navigatorischen Unglück der Titanic erzählt Kluge daher auch die Geschichte der Frauen, die durch den Tod der 72 beinahe sämtlich aus den Abruzzen stammenden Kellner um die ihnen versprochene Ehe gekommen waren. Die Sitte zwang sie dazu, nach dem Tod ihrer Verlobten alleine zu bleiben, worüber Luigi Nono ein Lamento für die Frauen der Kellner der Titanic schrieb, so Kluge (vgl. S. 38).
Stollmanns Redeanteile sind auch in diesem Band substantiell geringer als jene von Kluge, aber er erweist sich wiederum als profunder Stichwortgeber. Nicht nur das, er konzentriert Kluges manchmal abschweifenden Assoziationsstrom, hakt bei unverständlichen Formulierungen nach und scheut nicht davor, auch bereits häufig gestellt Fragen noch einmal zu stellen, wenn es darum geht, eine geflügelte Formulierung Kluges genau zu prüfen (vgl. z. B. S. 75 f). Hierin hat das Buch, verglichen etwa mit den unzähligen Interviews Kluges in den Feuilletons, seine Stärke: in der Ausführlichkeit, mit der die Themen behandelt werden, und im Gesprächspartner, der sich im Insistieren keine Blöße gibt, in theoretischem Diskurs und Werk Kluges bestens orientiert ist und daher an noch unsondierten Stellen genauer hinschauen kann. Darüber hinaus erweist sich Stollmann als genauer Leser Kluges, der mit dem Autor jene (auch im Buch abgedruckten) Geschichten bespricht, die ihn persönlich faszinieren. Hierdurch werden die Ferngespräche auch zu einem Florilegium, das man wie ein vom Autor kommentiertes Lesebuch gebrauchen kann.
Stollmanns Reisebericht aus China, der den Gesprächen samt eines Glossars anhängt, verstärkt den Eindruck, den bereits die Videokonferenz Kluges mit Wang Hui erweckte: dass die Problemfelder des globalen Kapitalismus innerhalb einer ebenso globalen Öffentlichkeit diskutiert werden und somit auch kulturelle Differenzen überbrückt werden müssen (Beginnend mit den Kopfhörern der Kinogäste in Peking, über die die Simultanübersetzung zu hören ist, bis hin zu der Telefonmuschel, über die das Gespräch übertragen und aufgezeichnet wird, ist das Buch durch und durch Resultat einer kulturellen Übersetzungsleistung). Es ist zu bedauern, dass diese Übersetzungsleistung nicht auch im Format des Buches – etwa durch eine zweisprachige Ausgabe – realisiert wurde. Man kann selbstverständlich auf eine Übersetzung warten. Sie aber nicht bereits in der Anlage des Buchprojektes forciert zu haben, scheint eine versäumte Gelegenheit zu sein. Angesichts der wiederholt geforderten Polyphonie wirkt die bloß deutschsprachige Ausgabe wie ein Klavierauszug zur Symphonie.
[1] Ein Gespräch fand bereits im Februar 2012 vor der Pekinger Videokonferenz statt.
[2] Vgl. Alexander Kluge, Christian Schulte, und Rainer Stollmann, Verdeckte Ermittlung: Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann (Berlin: Merve 2001).
[3] Vgl. Rainer Stollmann und Alexander Kluge, Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge, 1. Aufl. (Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005).
[4] Vgl. Georg Stanitzek, „Mit Freunden telefonieren. Alexander Kluges Netzwerke“, 2010.
[5] Vgl. Stefan Münker und Alexander Roesler, Hrsg., Telefonbuch: Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000).
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