Peter Podrez: Urbane Visionen. Filmische Entwürfe der Zukunftsstadt.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. ISBN: 978-3-8260-6699-3. 694 S., Preis: € 74,--.

Autor/innen

  • Denis Newiak

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-10

Abstract

Mit seiner fast 700-seitigen Abhandlung zu kinematographischen Vorstellungen zukünftiger Urbanität hat Peter Podrez ein Werk vorgelegt, das allein schon mit seinem monolithischen Erscheinungsbild Eindruck macht und den eigenen hohen Anspruch markiert. Der Band mit einem fünf Zentimeter starken Rücken signalisiert schon durch seine massive Aufmachung, dass er sich als nicht weniger verstehen möchte als ein umfassendes Standardwerk zu einem Gegenstand, der kaum mutiger gewählt sein könnte: Über Zukunftsstädte im Film wurde, wie der Autor selbst treffend in der Einleitung bemerkt (S. 14), schon viel geschrieben – auch wenn nicht immer klar ist, ob damit bisher immer ein entsprechender Erkenntnisgewinn abgefallen ist. Es ist auffällig, dass sich die bisherige Forschung zu lange den wenigen hoch- und runterkanonisierten (meist westlichen) Genre-Klassikern wie Metropolis oder Blade Runner zugewendet und dabei die stilistische, erzählerische und kulturelle Vielfalt der unzähligen filmischen Zukunftsstädte weitgehend aus dem Blick verdrängt hat. Auch entsteht im Diskurs zu oft der Eindruck, die filmischen Stadtbilder würden sich in der Repräsentation und Extrapolation 'realer' städtischer Ansichten erschöpfen. Dabei haben die filmischen Zukunftsstädte selbst längst unsere Vorstellung vom Urbanen durch eigene kinematographische Imaginationen entscheidend mitgeprägt, was sicherlich auch auf die reale Stadtplanung und -gestaltung zurückstrahlt. Von daher ist das Anliegen von Peter Podrez, mit einer geweiteten Perspektive die ausgetretenen Pfade zu verlassen, noch vor dem Aufschlagen des Buches anzuerkennen.

Podrez macht von Anfang an deutlich, dass er an den Zukunftsfilmstädten nicht nur aus einem rein filmwissenschaftlichen Antrieb heraus interessiert ist, und begründet seine Themenwahl u.a. mit der wachsenden gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Urbanen, das für immer mehr Menschen weltweit zum Lebensraum wird: Mehr als die Hälfte der Menschen wohnt inzwischen in Städten, zum Teil in (für sich schon futuristisch anmutenden) aus allen Nähten platzenden Megacities (die nicht grundlos häufig auch als Drehort für Zukunftsfilme herangezogen werden) und wuchernden Ballungsräumen mit dutzenden Millionen Einwohner*innen. Als makrosozialer Seismograf hat sich auch das Kino schon immer dem Urbanen zugewandt, die Stadt als Kulisse, Requisite und Akteurin vom Film Noir bis zum Science-Fiction-Film auftreten lassen und dabei eine genuine filmisch geprägte Vorstellung des Städtischen etabliert. Zugleich muss auch die Filmgeschichte selbst im Kontext der Modernisierungs- und Urbanisierungsgeschichte gesehen werden. Allein schon diese Vielfalt an Verbindungen zwischen Kino und Stadt könnte dem Autoren viel Respekt gegenüber dem gewählten – trotz der Reduktion auf das Futuristische immer noch beängstigend umfangreichen – Untersuchungskontext eingeflößt haben, in dem es leicht wäre, den Durch- und Überblick zu verlieren.

Der Blick ins Buch hingegen zerstreut diese Befürchtung: Dank der funktionalen Struktur der Arbeit – beginnend mit einer sozial- und kulturtheoretisch informierten Kontextualisierung (Kap. III) und literatur- und architekturhistorischen Basics (IV) über filmtheoretische und -methodische Überlegungen zur Räumlichkeit der Filmstädte (V) hin zu den Detailbetrachtungen der 'irdischen' (VI), postapokalyptischen (VII) und 'außerirdischen' Stadtvisionen (VIII) – fällt es leicht, den für eine*n selbst erkenntnisbringenden Abschnitt ausfindig zu machen. Podrez führt den Nachweis, dass sich "im Lauf der Filmgeschichte stabile spatiale, narrative, ästhetische und semantische Muster gebildet haben" (S. 16) – oder böser formuliert: Die phantastischen Zukunftsstädte im Film sind in der Gesamtbetrachtung zuweilen erstaunlich phantasielos. Kreativer hingegen erscheint Podrez' eigener Ansatz, die filmischen Visionen der Zukunftsstadt nicht, wie es Qualifikationsschriften im Fach sonst gern tun, rein aus einer repräsentationalen Logik, also aus der Bildlichkeit und Anschaulichkeit des Städtischen herzuleiten, sondern dass bei ihm "die urbanen Funktionen die Beobachtungshorizonte für die Analyse" bilden (S. 17): Welche spezifischen Ästhetiken finden die Filmwerke für das Wohnen, Handeln, Verkehren, Regieren, für das Erholen, Herrschen, Produzieren, Forschen – und für den filmischen Genuss in der Stadt selbst? Mit diesem Blick auf die räumlichen und architektonischen Erscheinungsformen des Urbanen als "Manifestationen" städtischer Funktionen und ihre Dysfunktionen (S. 58) vermeidet der Autor eine von urbanen 'Äußerlichkeiten' getriebene Lesart der Filme und öffnet die Disziplin für soziologische, politologische und ökologische Anknüpfungspunkte.

Für die theoretische Fortentwicklung der Filmwissenschaft dürften insbesondere die überblicksartigen Ausführungen zur Bedeutung von Räumlichkeit als eigenständige Kategorie in der Filmtheorie selbst von besonderer Nützlichkeit sein (V.2 und V.3). Denn hier war der Spatial Turn schon lange angekommen, bevor er überhaupt als solcher in den Kultur- und Sozialwissenschaften identifiziert wurde – selten aber findet man eine so umfassende und zugleich effiziente Zusammenführung dieser Diskurslinien vor einem sachlich so ergiebigen Hintergrund. Hier könnte das eigentliche Forschungsanliegen (also die zukünftige Urbanität im Film) etwas deutlicher herausgearbeitet sein, zumal es Podrez als offenkundigen Experten leicht fallen würde, die theoretischen Kontexte mit mehr Beispielen aus seinem großen Filmrepertoire zu illustrieren. Andererseits dienen die hier nachvollzogenen Diskurslinien vor allem als 'Operationsbesteck' für die später im eigentlichen Hauptteil folgenden Betrachtungen der filmischen Zukunftsstädte, sodass die an dieser Stelle auffallende textliche Sparsamkeit durchaus nachvollziehbar ist, trotzdem aber Appetit auf mehr macht, der dann im weiteren Verlauf der Kapitel VI, VII und VIII auch gestillt wird. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen Produktions- und Sehpräferenzen dürften vor allem die Ausführungen zur zerstörten Stadt und den in ihr herrschenden Einsamkeitserfahrungen (VII.2.2) von besonderem Interesse sein. Von einer aufmerksamen Lektüre des Kapitels zu den außerirdischen Stadtwelten (VIII) mit all ihren Funktionen und Dysfunktionen dürfte auch ein angrenzendes Fachpublikum – von Stadtsoziolog*innen bis zu Stadtplaner*innen – profitieren.

Sicherlich gehört ein solches Buch nicht zu den Abhandlungen, die mit Genuss von vorn bis hinten durchgelesen werden, schließlich hat es mit seinem impliziten Anspruch auf Vollständigkeit fast schon Lexikoncharakter. Dissertationen schleppen oft das Problem mit sich herum, dass in ihnen die Anwärter*innen möglichst alle gemachten Erkenntnisse eines langen Forschungsprozesses untergebracht sehen möchten, wodurch die Betrachtungen an Schärfe und Genauigkeiten verlieren können. Sicherlich wäre auch in diesem Buch die eine oder andere liebgewonnene Beobachtung einsparbar gewesen, vielleicht hätte es auch nicht 256 Abbildungen gebraucht, um die Erkenntnisse anschaulich zu machen. Andererseits profitieren all die Leser*innen von dem Buch, die Analysen und Anmerkungen zu einem der fast 300 besprochenen und bisher sonst im Forschungsdiskurs weniger berücksichtigten Filmen suchen. Mit Aufregung darf man sich auf anschließende Forschungsbemühungen freuen, die sich noch spezifischere Fragestellungen aus dem Themenkomplex herausgreifen, beispielweise nach den angedeuteten Besonderheiten afrikanischer und orientalischer Urbanität im (Zukunfts-)Film.

Da das Buch zum Zeitpunkt der Rezension nicht digital erschienen war und der Verlag grundsätzlich noch einigen Nachholbedarf bei der digitalen Bereitstellung seiner Publikationen hat, sodass die Möglichkeit einer Volltextsuche wegfällt, wäre ein Index sehr hilfreich gewesen, um die über die Kapitel verteilten Gedanken zu den einzelnen Filmwerken zügig ausfindig machen zu können. Zugleich ist es auch horizonterweiternd, sich von der vielfältigen Auswahl an untersuchten Filmen beim linearen Durchlesen inspirieren zu lassen. Selbst die größten Kenner*innen dürften hier immer wieder auf Unbekanntes und Neues stoßen. Wer an Zukunftsstädten und dem Urbanen im Film interessiert ist, kommt um diesen sehr lesens- und empfehlenswerten Koloss nicht herum.

Autor/innen-Biografie

Denis Newiak

Denis Newiak (Dr. des.) studierte Medien- und Filmwissenschaft, Promotion zu Fragen der Vereinsamung in der Spätmoderne und zu televisuellen Ausdruckformen moderner Einsamkeit. Er forscht zu den dynamischen Prozessen der Wissens- und Informationsvermittlung zwischen Fernsehen und Gesellschaft. Aktuelle Forschungsschwerpunkte liegen auf den von Fernsehserien initiierten gemeinschaftsstiftenden Prozessen sowie auf dem Zukunfts- und Handlungswissen in Katastrophenfilmen und -serien. Er lehrt Medien-, Kommunikations-, Film- und Fernsehtheorie.

Aktuelle Publikationen

Urbane Zukünfte im Science-Fiction-Film: Was wir vom Kino für die Stadt von morgen lernen können, Herausgeberschaft zusammen mit Anke Steinborn. Berlin: Springer Spektrum 2020. doi.org/10.1007/978-3-662-61037-4

Einsamkeit in Serie. Televisuelle Ausdrucksformen moderner Vereinsamung. Zweiter Band der zweiteiligen Dissertation. Wiesbaden: Springer VS 2022. doi.org/10.1007/978-3-658-35809-9

Im Erscheinen: Blackout – Nichts geht mehr: Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können. Marburg: Schüren 2022.

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Veröffentlicht

2022-05-18

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Rubrik

Film