Cock Dieleman/Ricarda Franzen/Veronika Zangl/Henk Danner: Dramaturgy. An Introduction.
Amsterdam: Amsterdam University Press 2021. ISBN 9789048554645. 190 S., Preis: € 22,99.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-01Abstract
Der Masterstudiengang Dramaturgie an der Universiteit van Amsterdam kann wahlweise mit niederländischer oder mit internationaler Ausrichtung absolviert werden. Daher ist es passend, dass die von vier Dozierenden des Instituts verfasste Einführung in die Dramaturgie, die 2020 zunächst auf Niederländisch erschienen ist, nun auch in einer englischsprachigen Version vorliegt, wobei die Übersetzung von den Autor*innen selbst vorgenommen wurde. Mit Dramaturgy. An Introduction ergänzen die Verfasser*innen das (relativ überschaubare) Feld an dramaturgischen Einführungswerken um einen Band, der den Fokus dezidiert nicht auf klassische Textdramaturgie legt, sondern auf den Entwicklungsprozess von einem Ausgangsmaterial (und dies kann ein Theatertext, aber auch eine andere Quelle oder eine Idee sein) hin zu einer Aufführung.
Dramaturgie betreffe dabei alle Aspekte einer Inszenierung, und sei daher auch nicht auf den Aufgabenbereich eines*einer Dramaturg*in zu verengen, sondern schließe als Prozess alle Beteiligten ein (vgl. S. 9). Insofern blickt diese Einleitung auch nicht nur auf Sprechtheater, sondern ebenso auf Tanz, Musiktheater und Performance-Formate. Dieser weite Blick ist repräsentativ für die Theaterszene in den Niederlanden und Flandern, wo der westliche Dramenkanon seit langem eine weit weniger wichtige Stellung einnimmt als im deutschsprachigen Raum. Der explizite Fokus auf diese beiden Länder wurde auch für die englischsprachige Ausgabe beibehalten, was sich nicht nur in den Aufführungsbeispielen bemerkbar macht, sondern beispielsweise auch in einem Unterkapitel zur Theaterfinanzierung in den Niederlanden oder in der Verwendung niederländischer theaterwissenschaftlicher Forschung (die deutsch- und englischsprachigen Leser*innen freilich selten zur weiteren Lektüre zugänglich sein dürfte). Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch auf grundsätzlichen dramaturgischen Fragen, die sich bei der Entwicklung von Inszenierungen ergeben, und die eine Vielzahl von Theaterformen und -systemen betreffen. So ist Dramaturgy. An Introduction auch für Leser*innen aus anderen Ländern interessant.
Das Buch gliedert sich in vier Kapitel und ein Glossar, das prägnante Erläuterungen zu rund 80 dramaturgischen Begriffen versammelt. Im Übrigen handelt es sich nicht um einen Sammelband, dessen Kapitel den einzelnen Autor*innen zugeordnet sind, sondern die vier Verfasser*innen verfolgten explizit das Ziel, "to write a book with a coherent structure as a result of a joint effort." (S. 142) Dennoch drohen die Kapitel zuweilen, in ihre Unterabschnitte zu zerfallen, deren Anordnung nicht immer nachvollziehbar ist. Andererseits macht gerade diese Eigenständigkeit der Unterkapitel es als Einführung – auch für den Unterricht – besonders nützlich.
Das erste Kapitel ist überschrieben mit der Frage "What is dramaturgy?", möchte aber programmatisch keine definitive und abschließende Antwort liefern. Im Schnelldurchgang wird zunächst die Geschichte der (westlichen) Dramaturgie vorgestellt (Kap. 1.2), wobei als übergreifende Entwicklung ein Wechsel "from (text) material to transformation of that material" (S. 20) ausgemacht wird. Des Weiteren werden verschiedene Perspektiven auf Dramaturgie erörtert, dabei greifen die Autor*innen die Unterscheidung zwischen 'Schreibtisch-Dramaturgie' (desk dramaturgy) und Produktionsdramaturgie (vgl. S. 24) ebenso auf wie Marianne van Kerkhovens Gedanken zur 'permanenten Dramaturgie' (vgl. S. 25). Auf die – für die niederländische und flämische Theaterszene überaus wichtige – belgische Dramaturgin van Kerkhoven nimmt die Publikation übrigens laufend Bezug und erschließt ihre Überlegungen zur Dramaturgie somit auch einem englischsprachigen Publikum.
Die Kapitel zwei bis vier folgen in gewisser Weise dem dramaturgischen Entwicklungsprozess: Kapitel zwei beschäftigt sich mit dem Ausgangsmaterial, das die Theatermacher*innen zu einer Aufführung formen (Kap. 3) und schließlich dem Publikum zeigen (Kap. 4). Trotz der Bekräftigung, dass der Ausgangspunkt für eine Theaterproduktion keineswegs ein dramatischer Text sein muss, legt das zweite Kapitel den Fokus zunächst ganz klassisch auf Theatertexte. Äußerst knapp und mit einigen Sprüngen wird ihre Entwicklung von der antiken Tragödie (Kap. 2.2) bis zur postdramatischen Gegenwart (Kap. 2.10) skizziert. Zumindest hingewiesen wird aber auch auf Formen von "non-text-based theatre" (S. 45) wie Commedia dell’Arte; dramatisches Theater wird also historisch als nur eine Form von Theater positioniert. Zwischen die historischen Kapitel sind immer wieder Abschnitte eingeschoben, in denen analytische Herangehensweisen an Theatertexte vorgestellt werden. Zu diesen gehören Peter Szondis Begriff des 'absoluten Dramas' (Kap. 2.4), Grundsätze der Dramenanalyse (Kap. 2.5), Montagetechniken (Kap. 2.9) und schließlich Überlegungen dazu, wie "theatre as a means of investigating reality" funktionieren könne (Kap. 2.11). Auch wenn sie eine gute Übersicht über dramaturgisches Handwerkszeug darstellen, unterbrechen diese Kapitel den Fluss der historischen Darstellung. Im schlimmsten Fall könnte die Anordnung sogar den Eindruck vermitteln, bestimmte Herangehensweisen eigneten sich ausschließlich für bestimmte Epochen. Hier wäre eine Aufteilung in ein historisches und ein methodisches Kapitel meines Erachtens ratsamer gewesen.
Konzise beschriebene Inszenierungsbeispiele verdeutlichen die Argumente des Textes: So wird anhand zweier unterschiedlicher Inszenierungen von Aeschylus' Persern – 1963 durch De Nieuwe Komedie und 1994 durch Theatergroep Hollandia – aufgezeigt, wie sich unterschiedliche Perspektiven auf ein und denselben kanonischen Text inszenatorisch niederschlagen können (vgl. S. 39–43). Guy Cassiers' Inszenierung von Jelineks Schutzbefohlenen, Coda und Appendix unter dem Titel Grensgeval, 2017 am Toneelhuis in Antwerpen entstanden, dient wiederum als Beispiel für den Umgang mit postdramatischen Texten (vgl. S. 72–74).
Das dritte Kapitel behandelt den Prozess vom Ausgangsmaterial zur Aufführung ("From material to performance", S. 79), der vor allem als ein Übersetzungsprozess beschrieben wird. Diesen Gedanken entfalten die Autor*innen anhand der Performance By Heart des portugiesischen Theatermachers Tiago Rodrigues, in der ausgewählte Zuschauer*innen aufgefordert wurden, während der Dauer der Aufführung ein Shakespeare-Sonett auswendig zu lernen. "Until the collective recitation of the poem as a culmination of the performance, the text undergoes transformations, translations if you will, into theatrical material." (S. 81) Wichtig sei bei einem solchen Prozess nicht nur, was übersetzt wird, sondern auch, wie übersetzt wird, weshalb immer auf den örtlichen und zeitlichen Kontext eingegangen werden müsse – nicht nur des Ausgangsmaterials, sondern auch der anvisierten Aufführung (vgl. S. 82f.). Auch accessibility in Form von Übertiteln oder Audio-Deskription wird in diesem Zuge thematisiert (vgl. S. 84f.). Außerdem betonen die Autor*innen die Parallelen zwischen dramaturgischer und wissenschaftlicher Arbeit, da "Research and interpretation" (S. 86) für beide Bereiche eine zentrale Rolle spiele und das für Dramaturg*innen unerlässliche Abstraktionsvermögen gerade hier geschult werden könne. Die beiden folgenden Unterkapitel beleuchten schließlich den Entwicklungsprozess und das damit einhergehende "dramaturgical thinking" (S. 89) noch einmal beispielhaft anhand zweier Bereiche, nämlich auditiver und visueller Gestaltung (zwei Forschungsschwerpunkte der Autor*innen, vgl. S. 79). Die zentrale These des Buches, wonach dramaturgische Fragen eine Vielzahl von Bereichen der Theaterarbeit durchdringen, wird hier plastisch untermauert. Zu erwähnen ist allerdings, dass die angeführten Inszenierungsbeispiele aus aufführungsanalytischer Sicht geschildert werden und Erfahrungsberichte aus der Probenpraxis, wie man sie angesichts der Kapitelüberschrift erwarten könnte, nicht vorkommen.
Im vierten Kapitel wird nun abschließend das Publikum unter die Lupe genommen. Als 'erste*r Zuschauer*in' repräsentiere der*die Dramaturg*in im Probenprozess das Publikum, mit dem die Künstler*innen in Kontakt kommen möchten (vgl. S. 111). Ausgehend davon positionieren die Autor*innen den*die Dramaturg*in als "intermediary between the artistic core, the artistic mission and/or the (political) message […] on the one hand, and the audience on the other." (S. 117) Dies treffe nicht nur auf die individuelle Produktion zu, sondern auch auf das Theater an sich, wie unter Rückgriff auf van Kerkhovens 'kleine und große Dramaturgie' argumentiert wird: kleine Dramaturgie (minor dramaturgy) bezeichnet hierbei die Dramaturgie einer einzelnen Theaterproduktion, große Dramaturgie (major dramaturgy) dagegen, wie die allgemeine Beziehung des Theaters zur Welt aufgefasst und ausgestaltet wird (vgl. S. 113). Dementsprechend befasst sich auch ein Unterkapitel mit dem politischen Theater in der Nachfolge von Bertolt Brecht und Augusto Boal (Kap. 4.4). Auch dem Kinder- und Jugendtheater und der damit einhergehenden Theaterpädagogik wird ein längeres Unterkapitel gewidmet, womit der im Vergleich zu Deutschland deutlich größeren Bedeutung dieses Bereichs in den Niederlanden und Flandern Rechnung getragen wird.
Dramaturgy. An Introduction bietet in kompakter Form eine Einführung in eine Vielzahl von Aspekten des dramaturgischen Prozesses. In ihrer Ausrichtung auf ein performatives Aufführungsverständnis komplementiert sie 'klassische', eher auf Textdramaturgie ausgerichtete Einführungsbände und ist auch für ein Publikum jenseits der Niederlande interessant. Durch ihre akademische Grundierung ist die Publikation sicherlich gut geeignet, Studierende nicht nur der Dramaturgie, sondern auch der Theaterwissenschaft an dramaturgische Arbeit unter postdramatischen Vorzeichen heranzuführen.
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