Julia Freytag/Astrid Hackel/Alexandra Tacke (Hg.): Gegen die Wand. Subversive Positionierungen von Autorinnen und Künstlerinnen.
Berlin: Neofelis 2021. ISBN 978-3-95808-255-7. 344 S., 6 Farb- u. 100 S/W-Abbildungen, Preis: € 28,--.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-02Abstract
Julia Freytag/Astrid Hackel/Alexandra Tacke (Hg.): Gegen die Wand. Subversive Positionierungen von Autorinnen und Künstlerinnen. Berlin: Neofelis 2021. ISBN: 978-3-95808-255-7 . 344 S., Preis: € 28,00.
Rezensiert von Svea Bräunert
"Der Ort der Frauen ist aber die Wand selbst." (Freytag/Hackel/Tacke, S. 21) Dieser Satz umreißt das Programm für den von Julia Freytag, Astrid Hackel und Alexandra Tacke herausgegebenen Sammelband Gegen die Wand. Subversive Positionierungen von Autorinnen und Künstlerinnen, der sich in 13 Beiträgen mit der Wand als feministischem Anliegen, Movens und Gestaltungselement in europäischer und nordamerikanischer Kunst und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts auseinandersetzt. Die Analysen, die sich auf exemplarische Lektüren und Betrachtungen beziehen, zeigen die Wand als ebenso komplexen wie teils paradoxen Gegenstand auf, der zugleich eine Geschichte weiblicher Bild- und Textproduktion erzählt. Oder wie die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung feststellen: "Die subversive Strategie, sich zu vermauern, um sich dadurch überhaupt erst einen Freiraum und freien Blick zu erobern, haben erstaunlicherweise viele Künstlerinnen und Autorinnen parallel verfolgt, ohne voneinander zu wissen." (S. 10) Über die mit dem Topos der Wand eng verbundenen Textbeispielen von Virginia Woolfs A Room of One’s Own (1929), Marlen Haushofers Die Wand (1963) und Ingeborg Bachmanns Malina (1971) hinaus, wird ein Korpus vorgestellt, der eine Linie feministischer Positionierungen nachvollzieht, die nicht zuletzt auch den Feminismus selbst und dessen Verhältnis zu Kunst und Wissenschaft betrifft.
Dabei geht es nicht nur um die im Mittelpunkt der Lektüren stehenden Arbeiten aus Literatur und Kunst, die erfreulich breit ausgewählt sind und neben den bereits erwähnten bekannten Positionen auch Neues und Überraschendes beinhalten, so etwa Überlegungen zu Neil Gaimans und Dave McKeans Graphic Novel The Wolves in the Walls (2003) (Boog-Kaminski), zu feministischen und queeren Graffiti an den Wänden des von finanziellen Krisen gezeichneten Athens der Gegenwart (Tulke) oder zum Arsengehalt in den ornamentalen Tapeten der Jahrhundertwende, der den Aufenthalt in den Wänden bürgerlicher Wohnungen auch jenseits geschlechtsspezifischer Festsetzungen im Innenraum gefährlich werden ließ (Tacke); sondern es geht auch um die Möglichkeiten und Variationen feministischer Wissenschaft und deren Methoden. Denn auch wenn mit der Fokussierung auf Subversive Positionierungen von Autorinnen und Künstlerinnen zunächst einmal eine Setzung auf zwei Medien, nämlich Literatur und Kunst, vorgenommen wird, ist die Vielfalt innerhalb dieser künstlerischen Praktiken ebenso groß wie die an sie herangetragenen Methoden, zu denen Diskurs- und Psychoanalyse, Queer und Gender Studies, Kunst- und Medienwissenschaft sowie Tanz- und Theaterwissenschaft zählen. Die Sammlung der Aufsätze lässt sich so nicht nur als Positionsbestimmung künstlerisch-literarischen Arbeitens in Anbetracht des Topos Wand begreifen, sondern sie zeigt auch mögliche Schreibweisen einer feministisch situierten Wissenschaft im deutschsprachigen Raum über mehrere Generationen hinweg auf.
Ohne Frage kann jeder Beitrag für sich stehen und werden die unterschiedlichen Texte ihre interessierten Leser*innen finden. Was an dem Band aber besonders besticht und für mich eine seiner Qualitäten ausmacht, ist, dass die Texte zueinander sprechen, teils indirekt aufeinander antworten, Themen aufgreifen und weiterschreiben und so die Wand in ihren Lesarten als literarisch-künstlerischen Topos modulieren. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Fotografien, die Francesca Woodman in den 1970er-Jahren von ruinösen Hauskörpern gemacht hat, aus deren Wänden Frauenkörper teils hervorkommen, teils von Tapeten und Putz überzogen werden (Mirčev); sie treten hier in einen Dialog mit den Malereien von Édouard Vuillard aus dem späten 19. Jahrhundert, in denen Frauenkörper optisch im bürgerlichen Interieur von Tapeten(-türen) verschwinden (Tacke). In beiden Fällen figuriert "die Wand […] als der genuine Ort der Repräsentation, der die Subjektivierung ermöglicht. Gleichzeitig aber generiert die Wand einen Schauplatz, der das Verschwinden bzw. die Entsubjektivierung vorantreibt." (Mirčev, S. 237) Retrospektive Analogien wie diese werden nicht zuletzt dadurch sicht- und nachvollziehbar, dass der gesamte Band mit 100 Abbildungen reich ausgestattet ist, wobei die visuellen Elemente von den Autor*innen als Zitate und Argumente eingesetzt werden.
Neben den Korrespondenzen zwischen den besprochenen Materialien sind es vor allem wiederkehrende Themen und Denkbewegungen, die mir als Leserin die Komplexität der Wand nahegebracht und von Text zu Text entfaltet haben. Zu ihnen gehören räumliche Vorstellungen und Gestaltungen, die die Aufteilung der Lebenswelt in Innen- und Außenräume ebenso betreffen wie das Seelenleben, das sich in den Raum projiziert und in beziehungsweise auf der Wand seinen Ausdruck findet. Die Flächigkeit der Wand macht diese zu einer Leinwand: zu einem Ort der Projektion, Diffraktion und Filterung, bisweilen sogar zu einem Spiegel. Letzteren thematisiert Kerstin Roose in ihrem Beitrag zu Bachmanns Malina, wobei die von ihr attestierte Spannung von "Transparenz und Intransparenz" (Roose, S. 97) zugleich zu Astrid Hackels Beitrag spricht, der sich mit einer Reihe von Künstlerinnen aus staatssozialistischen Ländern beschäftigt, die gläserne Wände als screens eingesetzt und damit Fragen nach Bedingungen von Sichtbarkeit und Sichtbarmachung gestellt haben. Es ist eine Kunst, die oftmals nicht öffentlich ausgestellt werden konnte und die anhand von gläsernen Wänden "mediengeschichtlich, ästhetisch und politisch fundierte Sichtbarkeiten" thematisiert, die einhergehen (können) mit Praktiken des "Ausschlusses, aber auch der physischen oder psychischen Deformationen." (S. 186)
Diese visuell-diskursive Spannung wird vielleicht nirgends so deutlich wie in Haushofers Setzung einer transparenten Wand, die die Erzählerin zwar optisch, nicht aber physisch durchdringen kann. Julia Freytag widmet sich in ihrem Beitrag Haushofers Oeuvre und macht dabei deutlich, wie persistent sich das Motiv der Wand durch deren Schreiben zieht. Die von ihr getroffene Beobachtung, wonach "die Wände in Haushofers Erzählungen und Romanen […] äußere und innere Barrieren [markieren], aber auch Rückzugsräume [sind], die Sehnsuchts- und Schreckensorte gleichermaßen sind und die zu schöpferischen Möglichkeitsräumen erwachsen," (S. 65) gilt für eine Vielzahl der behandelten Positionen.
Ihnen dient "die Wand als Motiv und Metapher, um sich mit Fragen weiblichen Schreibens" (Stephan, S. 47) und weiblicher Bildproduktion auseinanderzusetzen. Informiert sind solche Setzungen einerseits durch die mythisch-historischen Vorbilder von Platons Höhlengleichnis und von Debutades, die das Schattenprofil ihres Geliebten an der Wand umreißt, womit seit dem 18. Jahrhundert der Beginn der Kunst assoziiert wird (Diagne). Andererseits geht es, wie Inge Stephan in ihrem Beitrag zeigt, um die Schrift auf der Wand, die auf das Buch Daniel im Alten Testament zurückgeht und die von Autorinnen und Künstlerinnen als Verschränkung von Text, Körper und Wand weitergedacht wird, wobei es um "'Ermächtigung' und 'Deutungshoheit'" (S. 51) geht. Diese Dynamik wird explizit in Verbindungen des textlichen und leiblichen Korpus und dem Einschreiben in und auf einen Körper und eine Wand.
Gemeinsam bilden Text, Bild und Körper eine Triangulation, die die Wand als Kategorie des Dritten aufscheinen lässt. Sie ist sichtbar und unsichtbar, an- und abwesend, schließt ein und aus, schützt und bedroht. Zudem — und das ist wesentlich — fungiert sie als Sehanordnung, die zugleich Leseanleitung ist. Die Wand betrifft Bild und Text gleichermaßen, und so ist die Konzentration auf Literatur und Kunst äußerst klug von den Herausgeberinnen gewählt. Nicht wenige der Autor*innen des Bandes beziehen sich auf ihr Material sowohl als Sehende als auch als Lesende und unterlaufen so "Lessings Trennung von 'Zeitkunst' (Literatur) und 'Raumkunst' (bildende Kunst)," nach der "das unmittelbare, sinnliche Erkennen von Bildern dem sukzessiven Verstehen von Schrift immer wieder entgegengesetzt" (Boog-Kaminski, S. 134) wird. Ein Beispiel hierfür ist Julia Boog-Kaminskis Analyse der Graphic Novel The Wolves in the Walls, die schon aufgrund der medialen Spezifik des All-Age Bilderbuchs Text und Bild zusammenbringt, darüber hinaus aufgrund der Anlehnung an den Kubismus aber auch ein spannendes Angebot macht, wie sich multiple Perspektiven jenseits der Ausrichtung auf das einzelne (und einäugige) Subjekt der Zentralperspektive denken lassen. Steht doch die kubistische Collage als "Ausdrucksmittel einer zersplitterten und heterogen wahrgenommenen Wirklichkeit" für einen "grundsätzliche[n] Wandel im Verhältnis von Bild und Umwelt" ein. (S. 136)
Ähnlich verfährt auch Julia Prager in ihrer Lesart von Elfriede Jelineks V. Prinzessinnendrama (Die Wand), wobei auch hier bereits der Text selbst als Meta-Narration weiblicher Selbstversicherungsversuche ob der Wand fungiert. Jelinek schreibt mit den Aussagen und Regieanweisungen für die Figuren Sylvia, Ingeborg und Therese/Marlen genau jene Versuche weiblicher Subjektkonstitution aus, wie der Band sie versammelt. Indem der Theatertext sie auf die Oberfläche (der Wand) bringt, lässt er sie reflexiv werden und über sich selbst nachdenken. Anschließend an dieses Textverfahren schlägt Prager für den Umgang mit demselben eine Methode des "diffraktive[n] Lesens" (S. 114) vor, das "unterschiedliche Texte und intellektuelle Traditionen 'durch einander hindurch' zu lesen [versucht] und dabei kreative wie unerwartete Ergebnisse […] produzier[t]. Differenzen in Bezug auf Kontexte, Stile und Lesarten bleiben bestehen, sicht- und verhandelbar." (S. 115)
Beim Lesen der unterschiedlichen Beiträge des Bandes stellt sich der Eindruck eben solcher Diffraktionen ein — und zwar nicht nur in Bezug auf die behandelten Gegenstände, sondern eben auch auf die Schreib- und Argumentationsweisen der Autor*innen. Die durch die Wand motivierten Denkbewegungen haben Texte hervorgebracht, die überwiegend gut lesbar und mit großer Aufmerksamkeit für das Material geschrieben sind. Sie machen Zusammenhänge auf, die teils bekannt sein dürften, bisher aber noch nicht in dieser interdisziplinären Breite in einem Band zusammengeführt wurden. Sie zeigen, "dass gegen eine Wand angehen, in ihr verschwinden, selbst zu einer werden zu wollen, […] ganz unterschiedliche Motivationen haben kann. Es kann der Wunsch sein, sich zu verstecken, sich zu tarnen, anderswo und anders zu sein oder auch das Gegenteil: gerade im Verschwinden sichtbar zu werden, endlich so gesehen zu werden, wie man ist, unmaskiert." (Freytag/Hackel/Tacke, S. 11) In der Gesamtschau lassen die Beiträge die Wand als räumlichen, psychischen und ästhetischen Topos aufscheinen, der in der Triangulation von Bild, Text und Körper zu einer Kategorie des Dritten wird und so Denkanstöße bietet, die, ganz auf die Wand bezogen, über diese hinausgehen.
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