Timo Rouget: Filmische Leseszenen. Ausdruck und Wahrnehmung ästhetischer Erfahrung.

Berlin/Boston: De Gruyter 2021. ISBN: 9783110726787. 487 Seiten, 109,95 €. DOI: 10.1515/9783110728590.

Autor/innen

  • Lukas Kosch

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-09

Abstract

Die filmische Inszenierung von Szenen des Lesens, einer Tätigkeit, die von außen betrachtet kaum Rückschlüsse über die inneren Vorgänge zulässt, scheint auf den ersten Blick nicht sehr vielversprechend zu sein. Nichtsdestotrotz, so das dem hier besprochenen Buch vorangestellte Motto, sind für Jean-Luc Godard das Außergewöhnlichste, was es zu filmen gibt, Menschen, die lesen (vgl. S. 1). Mit Filmische Leseszenen: Ausdruck und Wahrnehmung ästhetischer Erfahrung legt Timo Rouget nicht nur eine der ersten umfangreichen Arbeiten zum Lesen im Film vor, sondern darüber hinaus eine präzise und systematische Analyse der Darstellung von ästhetischer Erfahrung im Medium Film. Die These, dass durch die medial selbstreflexive Darstellung eines ästhetischen Rezeptionsprozesses bei den Zusehenden selbst eine ästhetische Erfahrung und in diesem konkreten Fall eine Reflexion des eigenen Leseverhaltens hervorgerufen wird, steht am Beginn dieser gut strukturierten Auseinandersetzung. Dabei sind drei Fragen, welche die Gliederung der Arbeit vorgeben, zentral: Wie ist literarisch-ästhetisches Lesen im Film darstellbar? Welche Funktionen erfüllen filmische Leseszenen? Und inwiefern kann eine literarisch-ästhetische Leseszene eine ästhetische Erfahrung bei den Zuschauenden evozieren?

Da kaum systematische Untersuchungen zu Leseakten im Film vorliegen, ist es das selbsterklärte Ziel, basierend auf Erkenntnissen der Filmphänomenologie und der Körpertheorie von Vivian Sobchack Ordnungsprinzipien für diesen Forschungsgegenstand zu definieren. Indem die Arbeit medienwissenschaftliche und lesesoziologische Forschungsdiskurse miteinander in Beziehung setzt, wird nicht nur ein interdisziplinärer Ansatz konsequent verfolgt, sondern auch der Inszenierung des Lesens als multidimensionalem Phänomen Rechnung getragen. Auch wenn in der zu Beginn ausgeführten theoretischen Grundlage die zentralen Begriffsbestimmungen des literarisch-ästhetischen Lesens und der ästhetischen Erfahrung etwas kursorisch anmuten, stellt sich rasch heraus, dass der Forschungskontext für das verfolgte Ziel damit ausreichend umrissen und eine fundierte Basis für die systematische Bestimmung der Funktionsweisen von filmischen Leseszenen gelegt ist. Unter Bezug auf den Begriff der cues, womit im Sinne des Neoformalismus Hinweisreize im Film verstanden werden, entwickelt die Arbeit eine Terminologie für die Inszenierungsmöglichkeiten von Leseszenen, die auf unterschiedlichen filmischen Ebenen vorliegen können und anhand von vier Konstituenten analysiert werden. So besteht eine Leseszene aus einem Leseobjekt, einem Lesesubjekt, einer Lesesituation und einer Lesekommunikation: "Als Darstellung des literarisch-ästhetischen Lesens im Film gelten solche Szenen, in denen ein Buch (Leseobjekt) von einer Figur (Lesesubjekt) in einer filmisch sicht- und/oder hörbaren sowie zeitlich begrenzten Interaktion (Lesesituation) gelesen wird, wobei das – und/oder über das – Gelesene kommuniziert wird (Lesekommunikation)" (S. 83). Damit sind auch die Kriterien des Untersuchungskorpus festgelegt und Filmszenen, in denen zwar allgemein über das Lesen oder Literatur gesprochen wird, aber kein Leseobjekt zu sehen ist, ausgeschlossen.

Das entwickelte vierteilige Modell von literarisch-ästhetischen Leseszenen trägt nicht nur zu einer Präzisierung und Kategorisierung des Forschungsgegenstandes bei, sondern erschließt auch die wechselseitigen Beziehungsverhältnisse der Konstituenten zueinander. So leistet beispielsweise die Analyse der kinematographischen Perspektivierung, d. h. der Einstellungsgröße, der Distanz zum Sichtobjekt, der Kameraperspektive oder des Betrachtungswinkels im Verhältnis zur Kameraposition, eine detaillierte Beschreibung des Erscheinungsbildes des Leseobjekts und werden Schlussfolgerungen möglich wie: "Je weiter die Distanz zwischen Sichtpunkt, Buch, und Kamera ist, desto weniger liegt der Fokus auf dem Text" (S. 111). Indem nicht das Leseobjekt, sondern das Lesesubjekt ins Zentrum der Inszenierung tritt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom Text auf die Figuren. Diese werden mit Attributen versehen, die mit der symbolischen Bedeutung des Buches zusammenhängen: "Eine häufige Funktion von Leseszenen liegt darin, die Figur durch das Lesen schlaglichtartig zu charakterisieren: Filmische LeserInnen können je nach Kontext durch eine einzige Einstellung, in der sie lesend abgebildet sind, als besonders intelligent, introvertiert, sinnlich, weltfremd usw. erscheinen" (S. 159). Dass Leseszenen im Film darüber hinaus noch eine Vielzahl an anderen Funktionen erfüllen, wird im Laufe der Arbeit an unzähligen Filmbeispielen gezeigt. Bemerkenswert sind dabei nicht nur die Verweise auf an die 100 unterschiedliche Filme, sondern auch die zahlreichen fotografischen Abbildungen der betreffenden Filmsequenzen. Der Menge an Leseszenen in Filmen ist es geschuldet, dass der getroffenen Auswahl der Beispiele eine gewisse Zufälligkeit attestiert werden kann. Jedoch sind die Prämissen für die Erstellung des Untersuchungskorpus klar formuliert und eine systematische und kategoriengeleitete Auswahl der Filme eindeutig erkennbar. Die Analysen der filmischen Leseszenen sind nach filmspezifischen Topoi strukturiert und so wird das Lesen als stille Lektüre (Kapitel 9), in Verbindung mit Liebe und Sex (Kapitel 10), als mediale Selbstreflexion (Kapitel 11) und als Enkulturation (Kapitel 12) untersucht. Darüber hinaus werden zwei Sonderformen des Lesens in Filmen in den Blick genommen und lesende Roboter in Science-Fiction-Filmen (Kapitel 13) sowie Lesedarstellungen im Horrorfilm (Kapitel 14) analysiert. Die letzte der drei zentralen Forschungsfragen, wie die filmische Darstellung von Leseszenen eine ästhetische Erfahrung bei den Zusehenden auszulösen vermag, wird in einem abschließenden Kapitel anhand der Filme Nocturnal Animals (2016), Prospero's Books (1991) und Die andere Heimat (2013) exemplarisch beantwortet.

Indem die Arbeit von Rouget weniger auf die narrative Einbettung einer Leseszene beziehungsweise ihren kausallogischen Stellenwert im Film fokussiert als auf die durch das filmische Medium ausgelöste Mehrfachcodierung und die synästhetische Wahrnehmung auf der rezipierenden Seite, gelingt es, die folgende Formel anhand unzähliger Beispiele zu bestätigen: "Je filmästhetisch dichter eine Leseszene inszeniert ist – Changieren von Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven, die Kombination mit Musik und/oder die Benutzung tradierter Motive in filmsprachlicher Spezifik –, desto eher können die Zuschauenden die Leseerfahrung der Figuren spüren" (S. 429). Das Besondere an der Inszenierung von Leseszenen, die, wie anfangs erwähnt, nicht sehr vielversprechend erscheint und in der die Textrealität für die Zusehenden eigentlich nicht sicht- oder hörbar ist, besteht genau darin, dass sie das Lesen erfahrbar machen. Denn im Vergleich zur filmischen Inszenierung anderer Kunstformen, wie der Darstellung von bildender Kunst oder Tanz, steht nicht das Kunstobjekt im Vordergrund, sondern die ästhetische Erfahrung der Filmfigur. Somit, so das Fazit von Rouget, liegt die Schönheit von Leseszenen "im filmisch bedeutungsoffen inszenierten Akt der Lektüre, der den ZuschauerInnen Freiraum zur Imagination lässt" (S. 433).

Timo Rougets Dissertation gelingt es auf bemerkenswerte Weise, sowohl die Forschungslücke hinsichtlich der Analyse von Leseszenen in Filmen systematisch und mit einer interdisziplinären Perspektive zu schließen als auch eine inspirierende und fokussierte Lektüre eines besonderen Aspekts der Filmgeschichte vorzulegen. Mit einem umfangreichen Anhang, bestehend aus einem Sach-, Personen- und Filmregister sowie einer – vor allem für ein lese- und literaturwissenschaftlich interessiertes Publikum besonders nützlichen – Liste der in Filmen gelesenen Texte, wird diese Arbeit darüber hinaus zu einem Referenzwerk in Sachen ästhetisches Lesen und Bücher im Film.

Autor/innen-Biografie

Lukas Kosch

Mag. Lukas Kosch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim FWF-Projekt "Listening to Literature: Experiencing Literary Audiobooks" am Institut für Germanistik der Universität Wien. Er studierte Germanistik und Geschichte und forscht zu den Prozessen des literarischen Lesens aus einer rezeptionstheoretischen Perspektive und zur deutschsprachigen Nachkriegs-Literatur und -Philosophie. Aktuelle Forschungsbereiche sind die Konsequenzen der Digitalisierung und materiellen Transformationen von literarischen Texten (Projekt "Books on Screen: Zur Digitalisierung des Lesens") sowie die empirische Untersuchung der Differenzen zwischen der auditiven und visuellen Rezeption von Literatur.

Website: https://www.germ.univie.ac.at/lukas-kosch/

Cover: Filmische Leseszenen

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Veröffentlicht

2023-05-10

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Rubrik

Film