Nicolas Oxen: Instabile Bildlichkeit. Eine Prozess- und Medienphilosophie digitaler Bildkulturen.

Bielefeld: Transcript 2021, ISBN: 978-3-8376-5817-0, 248 Seiten, Preis: € 45,00.

Autor/innen

  • Elisa Linseisen

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-16

Abstract

Das Buch von Nicolas Oxen zur Untersuchung von digitalen Bildern beginnt beim CCD-Chip. In einer durch Technik bedingten Fortschrittserzählung kann mit dem 9 cm2 großen Sensor ein 'glorreiches Kapitel' der Entwicklung von Digitalbildern zusammengefasst werden; auch weil eines seiner ersten Einsatzgebiete ein millionenschweres Vorzeigeprojekt war: Einer der frühesten bildgebenden Chips wurde im Hubble Space Telescope verbaut. Hubble wurde im April 1990 in Betrieb genommen und sendete bald schon hochaufgelöste Digitalbilder aus dem Weltraum. Der außergewöhnliche Einsatzort und die kontrastreichen Darstellungen des Kosmos promoteten gewissermaßen die Verbreitung des lichtempfindlichen Sensors in geerdeten, genügsameren Kamera- und Videosystemen und bürgte aus dem Orbit für die allgegenwärtige Durchsetzung digitaler Bildtechnik.

Obwohl Hubbles hochaufgelöste Galaxie-Ansichten von CCD-Chips aufgenommen wurden, konzentriert sich Oxen in seiner Analyse ausschließlich auf das bildästhetische Gegenteil vom "kontrollierten, hochauflösenden Einerlei der HD-Ästhetik" (S. 178): "In dieser Arbeit werden instabile Bildformen wie Bildstörungen, Qualitätsverluste und Kompressionsartefakte als Ausdruck […] [einer] prozessualen Existenzweise digitaler Bilder verstanden" (S. 7). Der CCD-Chip, der Licht in Daten umwandelt, mache im besonderen Maße deutlich, so schließt Oxen an Pias (2003) und Hagen (2002) an, dass digitale Bilder instabile, weil prozessierte Bilder sind. Dieser technische Befund – so die Hauptthese des Buches – veranlasst den Autor, sie als genuin zeitlich auszuweisen: "Digitale Bilder sind in besonders intensiver Weise zeitliche Bilder" (S. 7). Instabile Bilder, d. h. solche, die als "flüchtige und zeitliche Phänomene [erscheinen], wie eine leichte Unschärfe, die sich für einen Moment über das Bild legt, oder eine Störung, die plötzlich und ereignishaft auftritt" (S. 19), würden die zeitliche Prozessierung nun über ästhetische Effekte produktiv für ein philosophisches Nachdenken über sie machen: "Die technische Prozessierung digitaler Bilder ist […] keine bloße Datenverarbeitung, sondern ein transformativer, ästhetischer Formungsprozess" (S. 8). Auch wenn Oxen dies nicht explizit darlegt, greift er auf ein breit eingesetztes medienästhetisches Argument (unter anderem Krämer 1998, 2008 in Anschluss an Serres 2014, Rautzenberger/Wolfsteiner 2010, Schröter 2013, ECR-Forschungsgruppe Principle of Disruption 2013-2017, kritisch hierzu Moskatova 2013) zurück, welches Medien zuallererst über Störungen (reflexiv) sicht- und erfahrbar werden lässt. Eine Medienästhetik der Störung erlaube "ein Aufbrechen gewohnter Funktionsweisen" von Technik und damit experimentelle Positionen, einerseits gegen Fortschrittsnarrative, wie ich sie mit Hubbles HD-Bildern aufgerufen habe, aber auch gegen einen unkritischen Technikdeterminismus, den Oxen vor allem  den Arbeiten Friedrich Kittlers vorwirft (vgl. S. 169-178).

Die ästhetischen Formprozesse instabiler Digitalbildlichkeit, die der Autor in technikzentrierten Analysen vermisst, gelten für ihn als Initiationsmoment für medienphilosophische Lektüren, mit welchen eine Strukturähnlichkeit zutage tritt: Prozessphilosophien von Deleuze, Bergson, James und Whitehead zu Zeitlichkeit, Prozessualität, Erfahrung und Bildern korreliert Oxen mit den instabilen Digitalbildphänomenen, die er für seine Arbeit aussucht. Ziel der Arbeit ist es, "eine Medienphilosophie instabiler Bildformen und der prozessualen Zeitlichkeit des Digitalen zu entwickeln, die sich, einem medienphilosophischen Denkstil folgend, zwischen philosophischen Konzepten und konkreten Bildern entwickeln soll" (S. 12).

Der argumentative Aufbau des Buches folgt dieser Vorgabe: Nach dem einleitenden Kapitel, welches die prekäre Existenz digitaler als prozessierte Bilder ausflaggt, folgt ein 20-seitiger Überblick zu bekannten Wortgeber*innen der deutschsprachigen Medienphilosophie (Engell, Siegert, Voss, Krämer, Mersch, Hörl, Gumbrecht). Aktuellere medienphilosophische Arbeiten zu digitalen Bildern, welche oft sogar dieselben Referenzen, Gegenstände und Themen berücksichtigen (u. a. zum Beispiel Seibel 2015, Åkervall 2018, Bee 2018, Handel 2019 sowie der breite Diskurs um das Post-Cinema, exemplarisch Denson/Leyda 2016) bleiben, bis auf Otto (2020) (vgl. S. 205) und Rothöhler (2018) (vgl. S. 136) in der Arbeit unerwähnt. Nach der Wiedergabe eines nicht ganz aktuellen Forschungsstandes folgen die Analysen von fünf Film- und Videoarbeiten (vgl. Kapitel 3 und 5) in zwei mit digitalbildlichen Phänomenen überschriebenen Teilen: Glitch und Stream (vgl. Kapitel 2 und 4). Die bildtechnischen und -ästhetischen Ausführungen funktionieren in diesen den Analysen vorgelagerten Kapiteln generisch-heuristisch und helfen, philosophische Thesen zu überprüfen. Im Glitch-Kapitel geht es um Deleuzes Zeitphilosophie und im Stream-Kapitel um James radikal-empiristischen Erfahrungsbegriff. Das von Deleuze im Zeitbild (Deleuze 1997, S. 55) entwickelte Konzept der "abweichenden Bewegung" geht den im Analysekapitel untersuchten drop-outs (Signalausfällen, die zu weißen Artefakten im Bild führen) in Vladimir Tomics Flotel Europa (Dänemark, Serbien 2015, VHS) und den verwackelten Smartphone-Videos aus der WDR-Serie Meine Flucht (Deutschland 2016, DCP) voraus. Die Denkfigur für eine Darlegung von James’ Konzept des „Stream of Thought“ bilden Zirkulationsbewegungen von digitalen Bildern. Darauf folgt die Analyse von Bill Morrisons Decasia: The State of Decay (USA 2002, 35mm) sowie Gravity (Belgien 2007, Video) und Long live the New Flesh (Belgien 2009, Video) von Nicolas Provost. Wie die Auswahl der Gegenstände und vor allem ihre Formate zeigen, entscheidet sich Oxen dafür, bei der Untersuchung instabiler digitaler Bildformen auch vor-digitale Film- und Videoformate heranzuziehen.

Interessant ist dieser Ansatz im dritten Kapitel, wo anhand der von geflüchteten Personen gedrehten und als Videobotschaften an die Verwandten in Serbien versendeten VHS-Videos, die von Vladimir Tomic in Flotel Europe kompiliert wurden, ein Diskurs um Smartphones und Flucht vordigital eingeholt wird. Die breite Verwendung des VHS-Formats im Heimgebrauch zur Aufzeichnung (familiärer, persönlicher) Erinnerungen nimmt Oxen zum Anlass, um über Heimat und Zuhause (home) in Exil- und Fluchterfahrungen zu reflektieren. Gerade störende Artefakte im Bild liest der Autor dabei als ins elektromagnetische Material eingeschriebenen Ausdruck prekärer Erinnerung (vgl. S. 70-74). Weniger aufschlussreich erscheint mir das Herausarbeiten instabiler digitaler Bildästhetiken jedoch anhand von Bill Morrisons Decasia (vgl. Kapitel 5.2). Die sehr genaue und filmästhetisch bereichernde Analyse der sich überlagernden Zeitlichkeiten des 35mm-Found-Footage-Zusammenschnitts verliert ihren argumentativen Wert, wenn es darum geht, den Film, der das Zelluloidmaterial exponierend zelebriert, auf algorithmische Bildbewegungen (vgl. S. 144) und in den vergleichenden Zusammenhang mit datamoshing zu bringen (vgl. S. 157-168). Das letzte Kapitel untersucht Whiteheads Konzept der "Prehesion" und dessen Relevanz für medienökologische Fragestellungen. Dabei wird punktuell auf glitches und datamoshing Bezug genommen. Oxens Analyse instabiler Digitalbilder endet mit einer Perspektive auf die Zukunft als zentralen zeitlichen Modus in der Auseinandersetzung mit digitalen Medien.

Das Buch ist zugänglich geschrieben und zeichnet etablierte medienphilosophische Positionen in weiten Teilen verständlich und konzise nach. Gerade in der Rekapitulation der Konzepte von Deleuze, James und Whitehead liegt eine große Leistung der Arbeit und die Aufbereitung eignet sich als ein- wie weiterführende Lektüre. Die gründliche Theoriearbeit geschieht an manchen Stellen zulasten der Gegenstände, die den philosophischen Konzepten oft zu problemlos anbei gestellt werden. So instabil sie sein sollen, so stabil und mühelos schmiegen sich die beschriebenen, durchaus hoch interessanten Bildphänomene an die Lektüre. Eine medienphilosophische Spannung zwischen Philosophie und Bildern bleibt an vielen Stellen aus. Durch die ausführliche und präzise Darstellung eines film- und medienphilosophischen Diskurses, ist der innovative Einsatz des Buches manchmal überfrachtet und die Stimme des Autors wenig präsent. Erwähnenswert erscheint mir, dass zu Beginn darauf hingewiesen wird, dass aus Gründen der gendergerechten Schreibweise die "aleatorische Verwendung der weiblichen Form" (S. 18) als Irritation des generischen Maskulinums genutzt wird, ich im Text aber keine einzige weibliche Form finden konnte.

Aus meinem eigenen Forschungsinteresse heraus, welches die Lektüre des Buches unumgänglich mitprägt, frage ich mich, ob es produktiv wäre, Oxens Kategorie anhand der Phänomene zu testen, die im Buch den Analysen instabiler Bilder kontradiktorisch entgegenzustehen scheinen. Dazu möchte ich nochmal zum Beginn des Textes und zu Hubble zurückkehren bzw. zu seiner Obsoleszenz. Am 12. Juli 2022 wurden die ersten Galaxiefotografien des Webb Space Telescopes veröffentlicht, die Hubbles Ansichten plötzlich ihren Status der Hochauflösung einbüßen lassen. Sie wirken im Vergleich gleichermaßen instabil – auch durch die Historizität der Bewertung dessen, was ein instabiles und was ein stabiles Bild sein könnte. In der produktiven Reibung zwischen Stabilität und Instabilität sehe ich Anschlüsse an und Anwendungsbereiche von Oxens Konzept, zum Beispiel bei der Frage ob instabile Bilder hochaufgelösten Bildern immer entgegenstehen müssen. Ein weiterer anschlussfähiger Diskurs könnten die forensischen Fragen sein, die unlängst von Susan Schuppli mit ihrer Arbeit zu Material Witness (2020) präsentiert wurden und die Untersuchung von über die Jahre stabil und resistent ins Material eingeschrieben instabilen Bildartefakten und Störungen.

Quellenverzeichnis

Åkervall, Lisa: Kinematographische Affekte. Die Transformation der Kinoerfahrung. Paderborn: Fink 2018.

Bee, Julia: Gefüge des Zuschauens. Begehren, Macht und Differenz in Film- und Fernsehwahrnehmung. Bielefeld: transcript 2018.

Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

Denson, Shane/Leyda, Julia (Hg.): Post-Cinema: Theorizing 21st-Century Film. Falmer: REFRAME 2016.

Hagen, Wolfgang: "Es gibt kein digitales Bild. Eine medienepistemologische Anmerkung". In: Archiv für Mediengeschichte. Licht und Leitung. 2. 2002, S. 103-113.

Handel, Lisa: Ontomedialität. Eine medienphilosophische Perspektive auf die aktuelle Neuverhandlung der Ontologie. Bielefeld: transcript 2019.

Krämer, Sybille: Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.

Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Moskatova, Olga: "Was ist eine Störung?". In: Film- und Fernsichten. Hg. v. Katharina Klung/Susie Trenka/Geesa Marie Tuch, Marburg: Schüren 2013, S. 282-292.

O.A.: "Principles of Disruption". http://principleofdisruption.eu/, zuletzt abgerufen am 13.09.2022.

Otto, Isabell: Prozess und Zeitordnung. Temporalität unter der Bedingung digitaler Vernetzung. Konstanz: Konstanz University Press 2020.

Pias, Claus: "Das digitale Bild gibt es nicht: Über das (Nicht-)Wissen der Bilder und die informatische Illusion". In: Zeitblicke 2.1. 2003, o.S.

Rautzenberger, Markus/Wolfsteiner, Andreas (Hg.): Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität. Paderborn: Fink 2010.

Rothöhler: Das verteilte Bild. Stream – Archiv – Ambiente. Paderborn: Fink 2018.

Schröter, Jens: "Medienästhetik, Simulation und 'Neue Medien'". In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft. 8, 2013, S. 88-100. https://zfmedienwissenschaft.de/heft/text/medienaesthetik-simulation-und-neue-medien, abgerufen am 13.09.2022.

Schuppli, Susan: Material Witness. Media, Forensics, Evidence. Cambridge MA, London: MIT Press 2020.

Seibel, Sven: Relationsbilder: Zum Verhältnis von Ethik, Politik und Medienästhetik in den (post-)kinematografischen Anordnungen von Omer Fast, Harun Farocki, Hito Steyerl und Aernout Mik. Dissertation, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2015.

Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014 [vierte Auflage].

Autor/innen-Biografie

Elisa Linseisen

Elisa Linseisen ist Juniorprofessorin für Medienwissenschaften, insbesondere digitale audiovisuelle Medien an der Universität Hamburg. Stationen als Gastprofessorin an der Universität Wien, Gastwissenschaftlerin an der Bauhaus-Universität Weimar sowie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn und Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Techniken und Praktiken des Applizierens, Post Cinema, Digitale Kulturen, Medien- und Technikphilosophie, Formattheorie und Videoessayismus.


Publikationen (Auswahl):

High Definition. Medienphilosophisches Image Processing (2020, meson.press), Re/Dissolving Mimesis. (2020, Brill/Fink, gemeinsam mit S. Althoff, M.-L. Müller, F. Wagner), 3D. Filmisches Denken einer Unmöglichkeit (2014, Königshausen & Neumann).

Cover: Instabile Bildlichkeit

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Medien