Gerda Baumbach (Hg.): Clowns. Theaterfiguren und ihr Hinterland. Aufsätze.

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2021. (Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung Band 9) ISBN: 978-3-96023-428-9. 330 Seiten, Preis: € 29,00.

Autor/innen

  • Lena Sharma

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-01

Abstract

Wenn sich Clowns durch eines definieren lassen, dann dadurch, dass sie sich nicht ausreichend definieren lassen, um die Frage "Was ist der Clown?" zufriedenstellend zu beantworten. Sie sind geprägt durch komplementäre Gegensätze, erscheinen als dumm und weise, bösartig und liebenswert, körperlich geschickt und ungeschickt. Nichts ist vor ihrem Spiel sicher: auch nicht der Tod, der Teufel und andere Schrecken. Die Aufsätze in Clowns. Theaterfiguren und ihr Hinterland betrachten Clowns – und clownartige Figuren im weitesten Sinne – in den ihnen seit Jahrhunderten eigenen Sphären wie Fest- und Theaterpraxis, Tanztraditionen, am Jahrmarkt und in kollektiv erinnerten Mythen und Geschichten. In acht Beiträgen unternimmt der Sammelband eine Spurensuche unter anderem zu Harlekin und Narren, englischen Clowns des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, zu russischen Clown-Duos, Charlie Chaplin und Hanswurst. Der Band ist der international renommierten Schweizer "Clownerin" Gardi Hutter und dem 40. Jubiläum ihrer Clown-Figur Hanna gewidmet (sowie der Ernennung Hutters zur Bertolt-Brecht-Gastprofessorin der Stadt Leipzig im Jahr 2021). Hutters grotesk-körperliche, "üppig-unwirsche" (S. 250) Hanna und ihr heilsames Spiel mit dem Tabu des Todes flechten diverse Beiträge in die Untersuchungen ein.

Gleich der erste Beitrag – Gerda Baumbachs "Woher kommen Clowns? Buffoni sacri, heilige Clowns" – offenbart, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich die Aufstellung eines "Stammbaum[s] des Clowns" (S. 19) ist, präsentiert sich dabei doch ein chaotisches Hinter- und Nebeneinander ähnlicher Typen, Charakterisierungen und Spielmodi. Baumbach offeriert hierfür das von Charles Darwin geliehene Gleichnis der Koralle, um das genealogische Typenchaos darzustellen: unregelmäßig wuchernd, auseinander- und wieder zusammenlaufend, brüchig. Mittels eines dichten Abrisses von Typen, literarisch-historischer Ereignisse wie die Querelle arlecchinesca, etymologischer Entwirrungsversuche und theoretischer Erklärungsmodelle wie der Strukturfigur nach D’Arco Silvio Avalle (struttura-personaggio) liefert Baumbach einen inhaltlichen Querschnitt der darauffolgenden Beiträge. Gleichzeitig veranschaulicht der Beitrag, wie christlich-humanistischer Reformeifer und die wachsende Dominanz der Schriftkultur die popularkulturelle, leibliche Praxis – und deren Unkontrollierbarkeit – bis in die Neuzeit hinein zu einem "Minderheiten-Charakter" (S. 22) werden ließen. Prozesse der Verteufelung – im wörtlichen Sinn – werden durch die Tatsache erleichtert, dass hinter den Kunstfiguren der Comödianten, etwa des Harlequin, mythische Figuren des Dämonen- und Aberglaubens (Hexen, Dämonen, Kobolde und Geister) stehen. Jene verleihen den Akteuren eine "Autorität, die das für gewöhnlich Unsichtbare sehen macht, indem sie uns Menschen aus einem anderen Blickwinkel behandelt und verhandelt". (S. 26, Herv. i.O.)

Mehrere Beiträge in Clowns erproben Avalles Strukturfigur als Erklärungsmodell für die "historische Varianz" bei einer gleichzeitigen "relativen strukturellen Invarianz" (Baumbach, S. 36). In "Clowns erforschen: Versuch über Chaplins Charlie und Hutters Hanna" stellt Ronja Flick unter Einbeziehung der Strukturfigur die Hypothese einer Verwandtschaft zwischen Chaplins Kunstfigur Charlie und Gardi Hutters Hanna in den Raum. Strukturfiguren seien insbesondere an folgenden Faktoren festzumachen: Struktur komplementär vereinter Gegensätze, Reisefähigkeit (etwa zwischen Diesseits und Jenseits), Potenzial zur Vervielfältigung von Rollen und Degradation (Zerfall in unterschiedliche Figuren, Abspaltung und Verdrängung von Figureneigenschaften). Am Ende widerlegt Flick die Verwandtschaft gemäß Strukturfigur zwar, fördert unterwegs allerdings Erkenntnisse darüber zutage, wie kollektive kulturelle Erinnerungen, Inspiration und leibpraktische Experimente die Genese sowohl von Charlie als auch Hanna beeinflussten.

Wie Baumbach nähert sich Ulrike Kahl in ihrem Beitrag dem gesellschaftlichen Bedeutungswandel der Figuren über eine etymologische Analyse der Figurenbezeichnungen und fokussiert dabei auf englische Clowntraditionen. Sie stellt fest, dass sich die Wortbedeutung von comical im englischen Sprachraum vom 16. bis ins späte 17. Jahrhundert von "comödiantisch/schauspielerisch über lustig/heiter zu niedrig/abscheulich" (S. 44) wandelte. Auch in England stand dieser Wandel im Zeichen der zunehmend institutionalisierten Berufsschauspielkunst sowie der Errichtung fester Spielstätten. Im Gegensatz zum aufstrebenden und an Ansehen gewinnenden actor sei den reisenden (common) players und ihrem leibbetonten, improvisierenden Spiel ein "gefährliches Potenzial" (S. 44) zugeschrieben worden. Sie seien – im Gegensatz zur Berufsschauspielkunst/Berufsschauspieler*innen – "'Vagabunden' und 'Schurken', 'Diebe[]' und 'Bettler[]'". (S. 53ff.) Dass sich die Neuverhandlung traditioneller Akteure und ihrer Spielverfahren am Clown als Projektionsfläche abgearbeitet hat, zeigt Kahl am Beispiel der zwei wohl bekanntesten Clown-Akteure des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Englands, Richard Tarlton und William Kemp. Quellen wie die Tarlton Jests und Berichte über Kemps morris dance liefern wichtige Hinweise auf die Kunstfiguren im Kontext der zu jener Zeit vorherrschenden Theaterfeindlichkeit.

Prozesse der Ausgrenzung und Diabolisierung stellen ein wirksames Mittel dar, um das vermeintliche Gefahrenpotential traditioneller, leiblich-komischer und improvisierender Spielkunst einzudämmen. Diese Rückgriffe auf Bewertungen des Dämonischen/Teuflischen verdeutlicht Normen Alt im Beitrag "Harlequin und die Tradition der buffonesken Jenseitsreise" am Beispiel der Querelle arlecchinesca, welche die Erscheinung des Harlequin auf den Pariser Theaterbühnen begleiteten. Die Querelle verweisen auf einen von Delia Gambelli so zusammengefassten Streit, der ab 1585 anhand einiger anonymer Flugschriften in Paris ausgetragen wurde. Ob dieser Konflikt "fingiert oder wahrhaftig ausgetragen" (S. 203) worden war, sei heute nicht festzustellen. In den Druckschriften reist Harlequin ins Jenseits und zurück, wobei sich "Elemente aus den römisch-griechischen Mythen mit christlichen Jenseitsvorstellungen" (S. 202) vermischen. Normen Alt beschreibt die kulturelle Praxis der Reise in die Welt der Toten detailreich und ordnet die Geschichten historisch in die soziokulturelle Atmosphäre des Paris des späten 16. Jahrhunderts ein – einer Zeit, in der das Pariser Théâtre de l’Hôtel de Bourgogne aufgrund des gegenreformatorischen Verbots "sakral-christlicher Inhalte" (S. 187) seine Räume an italienische Schauspieler-Compagnien wie die Comici Gelosi vermietet habe. Die Reisefähigkeit des Harlequin beruhe auf dessen "mythobiographischen Hintergrund" (S. 206) in vermutlich keltisch-germanischen, mündlich überlieferten Bräuchen rund um die Wilde Jagd unter der Führung des "archaisch-tricksterhaften Totenkönigs" (S. 206) Herlekin (bzw. Hellekin, Hellequin). Mit der Jenseitsreise habe der Harlequin der Querelle sich der zu jener Zeit aufholenden Dämonisierung widersetzt; er drehe "den Spieß der Dämonisierung und Verteufelung um" (S. 210) – aus der Höllenfurcht wird eine Lachen machende, befreiende Erzählung.

Das Motiv der Wilden Jagd bzw. des "Wütenden Heeres" (oder chasse sauvage, die mesnie Hellequin), der "gefährliche[n] marodierende[n] Geisterschar", die in den Raunächten durch die Lüfte zieht, gehört zu den wiederkehrenden Mythologemen, die die Texte des Sammelbandes kontextualisieren. Beispielhaft lässt sich daran demonstrieren, wie ursprünglich lebensbejahende Vorstellungen "von Sättigung und materiellem Überfluss als Gegenbild zur alltäglichen Erfahrung von Mangel" (S. 207) moralisierend abgewertet und ausgegrenzt werden. Gardi Hutters körperlich-praktische Auseinandersetzung mit dem Tod als "elementares Lebensereignis" (S. 243) nimmt Katy Schlegel in "Auf den Spuren weiblicher Clowns" zum Anlass, die keinesfalls stringenten "weiblichen Traditionslinien" (S. 251) in der Clownerie herauszuarbeiten. Mittels Untersuchung der weiblichen Maskenfiguren Zagna/Fantesca/Franceschina der Frühphase der Commedia all’improvviso füllt Schlegels Abhandlung einige wissenschaftliche Lücken und holt die Zagne aus dem Bereich vermeintlicher Randerscheinungen vor den Vorhang. Die schriftlichen Handlungsgerüste der Scenari geben dabei wenig Einblick in die Spielpraxis weiblicher Clowns, weshalb Schlegel ikonographische Erzeugnisse miteinbezieht. Diese zeichnen ein "Profil erdenschwerer, deftiger Figuren", die "eng mit dem Leiblichen" (S. 256) und mit Assoziationen von Gewalt, Ausscheidung, ambivalentem Lachen und Frivolität verbunden scheinen. Die "buffoneske und parodierende Behandlung von existenziellen Themen wie Hunger, Tod, Eheschließung, Zukunfts- und Anderweltvorstellung" (S. 260) führt Schlegel mit wiederkehrenden Motiven oralkultureller Überlieferung eng, wie dem der "Männer fressenden Kreatur(en)" (S. 269) im Kontext nächtlicher Flüge, der Cuccagna und der Wilden Jagd. Wenig überraschend wurden diese ursprünglich als Schutzgestalten auftretenden Figuren im Verlauf der Christianisierung als Hexen, Dämonen und Monster ausgewiesen. Ambivalent-grotesk vereinte Gegensätze seien durch theologisch-humanistische Bemühungen zunehmend verdrängt und anhand "modellhafte[r] Negativbilder" in Kategorien von Gut und Böse gezwängt worden. In bildlich-künstlerischen Darstellungen zeige sich dies etwa als Interpretation der "zügellosen, ausschweifenden" Tänzerin giollara im Gegensatz zur "ehrenwerte[n] Tänzerin" (S. 276) – eine Auslegung, welche die Ausgrenzung des spielerischen, ambivalenten Umgangs mit der Weiblichkeit weiter vorantrieb.

Der lange Zeitraum, über den hinweg sich clowneske Figuren unter dem Einfluss von mündlich überlieferten Spieltraditionen, Mythen, Christentum, Humanismus und Schriftkultur verändern, macht Zusammenhänge mitunter schwer erkennbar. Wiederholt zeigen die Beiträge in Clowns eine schwierige Quellenlage auf, die zu Mutmaßungen bei der Analyse zwingt. In Das Tanzen der Lucia begegnet Charlotte Gschwandtner dieser Problematik, indem sie "Berichte aus der höfischen Elitekultur, Theaterstücke (Commedie) protoprofessioneller Theatermacher, ikonographische Quellen wie Stiche und Drucke, Alltagsgegenstände, literarische Texte wie Epen und kleine Gedichte" (S. 307) miteinbezieht. Anhand dessen untersucht Gschwandtner die Tradition der moresca (zu Deutsch Moriskentanz), ein "Tanz heiligen Charakters" (S. 323), welcher in der Festkultur verschiedener Regionen Europas bis ins frühe 17. Jahrhundert in diversen Gesellschaftsschichten aufgeführt wurde. In Süditalien sei das kulturelle Wissen um diesen heiligen Tanz noch heute in Form der Pizzica/Tarantella erkennbar.

Gardi Hutter bezeichnet sich selbst als "Expertin für das fröhliche Sterben" (S. 173), lässt sie ihre Hanna doch in ihren Stücken immer wieder sterben und im darauffolgenden Auftritt wieder lebendig vor dem Publikum erscheinen. Diesem humorvollen Umgang mit dem Tod stellt Ingo Rekatzky in "Hanna, Hanswurst und der Tod. Vom Gelächter über die letzten Dinge" die europäische Theatertradition der Don-Juan-Comödie gegenüber. Der Mythos von Don Juan, der "infolge seiner Freveltaten leibhaftig während des Gastmahls mit dem Steinernen Gast in die Hölle fährt", war im späten 18. Jahrhundert bereits seit eineinhalb Jahrhunderten "eine der neuzeitlichen europäischen Theatererzählungen schlechthin" (S. 227) und wurde zum Totenfest alljährlich am Wiener Kärntnertortheater adaptiert. Sowohl die szenische Struktur als auch die Figurentrias (Don Juan/Hanswurst/Steinerner Gast) erwiesen sich dabei als relativ beständig und je nach regionalem und historischem Kontext gar austauschbar (auf anderen Bühnen hieß Hanswurst mitunter Arlecchino, Pulcinella oder Kaspar). Eine Auswahl von Adaptionen exemplarisch aneinanderreihend, zeigt der Beitrag, wie Reformversuche den Hanswurst wegen Verstößen gegen kausale Logiken der realistischen und wahrnehmbaren Welt als infantilen Spaßmacher degradierten. In einer Zeit der generellen Verdrängung des Todesthemas aus den Köpfen der Menschen (Verlegung der Friedhöfe an den Stadtrand oder die Verlängerung der Lebenserwartung durch moderne Medizin) sei die Donjuaniade an gängige reformatorische Ansprüche angepasst und das Gelächter über den Tod von den Wiener Theatern verdrängt worden.

Größtenteils konzentrieren sich die Beiträge des Sammelbandes auf kulturelle Manifestationen in Mitteleuropa. Maria Koch geht in ihrem Beitrag "Clown als Festmaske" darüber hinaus und macht Verwandte der mitteleuropäischen Clowns in großen städtischen Volksfesten Russlands und innerhalb der russischen Avantgarde ausfindig. Koch verweist auf den "Balagan-Alten", eine auf russischen Jahrmärkten des späten 19. Jahrhunderts typische Ausrufer-Figur, die sich die Bühne unter anderem mit Petruschka und dem bekannten Clown-Figurenpaar Foma und Erjoma teilte. Einige "Kultur- und Wissensmodi" (S. 88) aus dem russischen Fest seien in Klassiker der russischen Literatur, wie Gogol’ und Ostrovskij, eingeflossen und haben dort "Zufluchtsorte für mythische Wissensbestände" (S. 97) gefunden. An der Frage der Behandlung – oder Nicht-Behandlung – der russischen Klassiker und deren gesellschaftlicher und kultureller Relevanz entzündete sich in den nachrevolutionären Jahren ein Streit zwischen linken/avantgardistischen Positionen und konservativen Anhängern der "'akademischen' Theater". (S. 102) Zwar wurden die Klassiker am Theater adaptiert, doch Koch beschreibt am Beispiel von Ostrovskijs Komödie Les [Der Wald] und Wsewolod Meyerholds Inszenierung des Klassikers, dass das Stück – von Kritikern als "Markstein der Entwicklung des russischen Theaters im Ganzen" (S. 113) bewertet – keineswegs eindeutig zwischen linker und akademischer Kunst, zwischen agitatorischer und vermeintlich objektiver Kunst zu verorten ist.

Gerda Baumbach stellt eingangs die berechtigte Frage "Kann man Ordnung in diesem Wirrwarr schaffen?" (S. 19) Die Beiträge in Clowns liefern zwar keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Provenienz des Clowns, machen jedoch klar erkennbar, dass sich die Frage aufgrund von jahrhundertelangen Abspaltungen und Einflüssen womöglich gar nicht beantworten lässt. Die Einzelstudien des Sammelbands präsentieren dennoch detail- und aufschlussreich diejenigen historischen und mythischen Hintergründe, die das Fragezeichen in "Was ist der Clown?" nach der Lektüre sehr viel kleiner erscheinen lassen.

Autor/innen-Biografie

Lena Sharma

Lena Sharma ist PhD-Studentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. In ihrer Dissertation arbeitet sie zu clownesken Figurationen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, mit besonderem Schwerpunkt auf dem Phänomen des "bösen" Clowns und dessen Erscheinungen in Film und Serien, Aktionismus, Kunst und vielem mehr.

 

Publikation

—, Phänomen Evil Clown. Der Trickster-Archetyp seit der Postmoderne. In: Richard Weihe (Hg.), Über den Clown. Künstlerische und theoretische Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 243-264.

Cover: Clowns

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Theater