Lea-Sophie Schiel: Sex als Performance. Theaterwissenschaftliche Perspektiven auf die Inszenierung des Obszönen.

Bielefeld: Transcript 2020, ISBN: 978-3-8376-5148-5. 352 Seiten, Preis: € 50,00.

Autor/innen

  • Karina Rocktäschel

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-04

Abstract

Sex $ell$. Oder vielleicht auch nicht? In der Theaterwissenschaft jedenfalls kaum, wie die spärliche Bearbeitung der Relation von Sexualität und Theater deutlich macht. Die 2020 erschienene Studie Sex als Performance. Theaterwissenschaftliche Perspektiven auf die Inszenierung des Obszönen von Lea-Sophie Schiel nähert sich auf 350 Seiten diesem Thema an. Das Nachdenken über Sex als Performance entfaltet sie auf der Grundlage verschiedener theoretischer Ansätze (u. a. Psychoanalyse, Phänomenologie, Affect Studies, Diskursanalyse). Vier Analysebeispiele runden die theoretischen Gedanken schließlich ab. Der Fließtext ist in sechs Kapiteln eingeteilt, denen ein Vorwort vorausgeht. In diesem hebt die Autorin die stark affektiv geführte Debatte um Sex und Sexualität in der Gegenwart hervor, die sie als "Sex Trouble" (S. 8) bezeichnet.

Um Sex als Performance zu untersuchen, beschreibt die Autorin bereits in der Einleitung das Gefüge, in dem Sex als Praktik und Sexualität als Merkmal von Subjektivität eingebunden sind. Hierfür ist der Begriff des Obszönen für sie zentral. Denn dieser benennt und beschreibt die Performativität von Sex als Praktik und von Sexualität als Subjektivierungsweise: als Gegenteil dessen, was sicht- und wahrnehmbar, also on-scene, ist, findet das Obszöne außerhalb der Szene (lateinisch ob scenum) und damit in einer Spannung zwischen An- und Abwesenheit statt. Sex und Sexualität sind in dieser Spannung angesiedelt, werden hier als Praktiken und Subjektivierungsweisen hervorgebracht, als sich wiederholende Szenen, in denen Subjekte und Praktiken zugleich produziert und verworfen werden. Dieses performative Konzept von Sex und Sexualität bezeichnet Schiel als "Theater des Obszönen", was das theoretisch-konzeptuelle Herzstück der Arbeit bildet. Hiermit beschreibt sie ein normierendes Ordnungssystem, das jegliche Sex-Performances durchzieht. Das Konzept des "Theaters des Obszönen" ermöglicht daher Sex als Performance an ein "gesellschaftlich-historisch-kulturelles Szenario" (S. 42) zurückbinden zu können, was mir als ein vielversprechender Ansatz erscheint.

Das zweite Kapitel gibt einen Einblick in die Pornographie, die von Gegner*innen und Befürworter*innen geführt und mit verschiedenen Positionen (etwa der Anti-Zensur-Position) unterfüttert werden, wobei Schiel auf den juridischen Rahmen dieser Debatten hinweist. Insgesamt zeigt die Autorin, dass das Feld Sex, Sexualität und Pornographie hart umkämpft und von moralischen Bewertungen durchzogen ist, die sich letztlich auch in Gesetzen, gesetzlichen Verboten sowie Normen zeigen. Gerade in diesen werden heteronormative Positionen und patriarchale Muster deutlich, die Sex-Performances entscheidend zu prägen scheinen.

Im dritten Kapitel des Buches werden die theoretischen Grundlagen für das "Theater des Obszönen" erörtert und zu einem eigenen theoretischen Ansatz ausgearbeitet. Ausgangspunkt ist ein aus der Lacan'schen Psychoanalyse abgeleiteter und mit dem Performativitätsbegriff von Judith Butler verbundener Begriff des Obszönen. Die Psychoanalyse ist deswegen von Interesse, weil das Obszöne Ähnlichkeiten mit dem "Realen" nach Jacques Lacan (in Lesart von Butler) aufweist: Es befindet sich jenseits des Imaginären und Symbolischen, wird aber hiervon als Verwerfung des Zeig- und Sagbaren immerfort produziert. Dieser Chiasmus von Produktion und Verwerfung, von Wiederholung und Verdrängung, von Präsenz und Abwesenheit bildet auch die Grundlage für das von Schiel erarbeitete "Theater des Obszönen", das sie letztlich als ein "Spiel zwischen on- und obszön" (S. 123) umschreibt.

Durchaus nachvollziehbar sind in diesem Kapitel die Einblicke in theaterwissenschaftliche Ansätze, die das Obszöne bereits verschiedentlich reflektiert haben (als Lücke bei Hans-Thies Lehmann oder als Abwesenheit bei Gerald Siegmund). Auch die Hinwendung zum Begriff des Abjekten, wie er bei Julia Kristeva und Judith Butler zur Anwendung kommt, überzeugt. Denn das Abjekte unterliegt, so zeigt die Autorin gut verständlich, einem ähnlichen Mechanismus der Verwerfung wie das von ihr erarbeitete Obszöne.

Durchweg deutlich wird der starke Bezug auf die Texte von Judith Butler und insbesondere auf ihrem Performativitätsbegriff. Durch eine präzise Lektüre von Butler übt Lea-Sophie Schiel wichtige Kritik an der in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft besonders einflussreichen Studie Ästhetik des Performativen (Fischer-Lichte 2004). Der darin enthaltene Performativitätsbegriff könne nämlich nicht das für Butler wichtige Verworfene, Abjekte bzw. Nicht-Performierbare bedenken und berücksichtigen (vgl. S. 126). Zudem wird Judith Butlers Studie Bodies that matter (2011) herangezogen, um eine diskursive Konstruktion von Körpern zu betonen und Kritik zu üben an Fischer-Lichtes Konzeptualisierung vom "semiotischen Körper" und "phänomenalen Leib" (Fischer-Lichte 2010, S. 38-47). Diese Kritik ist insofern wichtig, da sie die binär konzipierten und anthropologisch fundierten Theoriegrundlagen von Körper-Haben/Leib-Sein hinterfragt. Neue Impulse – wie sie auch Lea-Sophie Schiel erbringt – sind gerade hier wünschenswert, weil Schwarze Feminist*innen bereits seit Jahrzehnten zeigen, dass nicht alle Menschen in der Geschichte der westlichen Moderne gleichermaßen Körper haben (vgl. etwa Hartman 1997 und Spillers 1987) und dass dieses Konzept in epistemologische Strukturen eingelassen ist, die es zu hinterfragen gilt.

An die psychoanalytisch fundierten Konzepte von Obszönität und Körper knüpft die Autorin dann Affekttheorien, da Affekte "im Bereich des Sexuellen von zentraler Bedeutung" (S. 131) seien. Gezeigt wird hier, dass Körper Teile einer affektiven Ökonomie des Begehrens sind, wie Schiel mit Bezug auf Sara Ahmed ausführt: Konzeptuell gesehen sind Affekte zwar Relationen, die zwischen Körpern zirkulieren. Allerdings ist diese Zirkulation einem regelnden heterosexistischen Ordnungssystem unterworfen. Es bestimmt, welche Zeichen erlaubt und onszön sind, welche aber auch verworfen und damit obszön werden. Diese Regelung produziert den Affekt der sexuellen Stimulation und dessen Normierungen. Lea-Sophie Schiel erarbeitet hier einen komplexen und vielschichtigen Ansatz zur Konzeption eines "Theaters des Obszönen". Diese Komplexität wird besonders dann nachvollziehbar, wenn die Autorin die Hauptthese ihres Buches vorstellt: Sex und Sexualität haben keinen natürlichen Kern. Es sind Konstruktionen, die ihren konstruktiven Charakter verschleiern. Dieser muss obszön bleiben, was eine Vielzahl an Normierungsprozessen voraussetzt, die auf Körper, Affekte und Begehren einwirken, diese produzieren und verwerfen. Eben das beschreibt die Theorie des "Theaters des Obszönen".

Hat die Autorin bis zu dieser Stelle theoretische Rahmenkonzepte des Obszönen und das "Theater des Obszönen" als Theorieüberbau vorgestellt, widmet sie sich im vierten Kapitel dem Subjekt. Schließlich sind Sex-Performances immer auf Subjekte gerichtet. Mit dem von Michel Foucault herausgearbeiteten Dispositiv der Sexualität argumentiert die Autorin für ein historisch situiertes Verständnis sexueller Subjektivität, das von Machtwirkungen und Normierungen durchzogen ist. Um schließlich zu zeigen, wie einzelne Subjekte mit gesellschaftlich-sozialen Normen und deren Idealen umgehen, zieht die Autorin die Theorie der sexuellen Skripte von William Simon und John H. Gagnon von 1986 heran. Beide argumentieren, dass Sexualität als erlerntes sexuelles Skript und nicht als natürliches Ausleben von Trieben zu betrachten sei. Sex-Performances werden daher von gesellschaftlich-sozialen Skripten vorgegeben, die sich in Wiederholungen in deren Vollzug manifestieren und Praktiken, die nicht wiederholt werden, in das Obszöne drängen. Mit Bezugnahme auf Gayle Rubin zeigt Schiel schließlich, dass die Kultur des Sexes auf einer historisch gefestigten Normierung basiert, die zwischen 'gutem' und 'richtigem' sowie 'sündhaftem' und 'perversem' Sex unterscheide und Subjekte entsprechend mit Unterdrückung sanktioniere. Diese gehe über binäre Gender-Grenzen hinaus und hänge mit weiteren Kategorien wie Klasse, Gesundheit oder Ethnizität und race zusammen. Gerade hier wird ein intersektionaler Ansatz deutlich. Mit der Theorie von Rubin kann Schiel zeigen, dass es eine starke Hierarchie von Sexualität gibt, die viele Praktiken als obszön verwirft. Im Umkehrschluss bedeutet dies eben auch, dass das Obszöne als das Verworfene ein grundlegender Bestandteil von Sex-Performances ist. Der bis zu diesem Punkt vielfältige Theoriebezug der Autorin hebt hervor, wie präzise sie ihre Theorie durchdenkt, um diese schließlich für Analysen zu nutzen. Abgerundet wird das Kapitel von drei ausgewählten, als obszön geltenden sexuellen Praktiken (Sex in der Öffentlichkeit, Fetisch, BDSM), die unterstreichen, dass Obszönität sowie die vermeintliche Natürlichkeit von sexuellen Praktiken auf Normen basieren, die von den Praktiken selbst immer wieder herausgefordert werden können.

Im letzten Analysekapitel untersucht die Autorin vier verschiedene Sex-Performances auf ihr subversives Potential. Es treffen Live-Sex-Shows auf institutionalisiertes Theater, auf Performances bei einer BDSM-Messe und schließlich auf einen Live-Sex-Chat. Bemerkenswert ist, dass Schiel die an verschiedenen Orten stattfindenden Performances mit dem gleichen Analysewerkzeug untersucht, aber die Differenz der einzelnen Szenen immer wieder herausstellen kann. Auch die in einigen Performances vorhandenen Prozesse des Otherings beschreibt sie mit Präzision. Die verschiedenen Beispiele, die bis auf Schönheitsabend (Holzinger/Riebeek 2015) das institutionalisierte Theater verlassen, erweitern den Gegenstandsbereich der Theaterwissenschaft erheblich, was ebenfalls positiv hervorzuheben ist.

Ein Fazit, in dem die wichtigsten Ergebnisse und ein Forschungsausblick erbracht werden, schließt diese durchweg sehr gut lesbare, theorieintensive Studie ab. Das Buch von Lea-Sophie Schiel ist nicht nur zu empfehlen für Personen, die Interesse an der Analyse von Sex und Sexualität haben, sondern auch für diejenigen, die nach neuen Impulsen im Fach Theaterwissenschaft suchen.

 

Literatur

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

dies.: Theaterwissenshaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs. Tübingen: UTB 2010.

Hartman, Saidiya: Scenes of Subjection: Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America. New York, Oxford: Oxford University Press 1997.

Spillers, Hortense: "Mama’s Baby, Papa’s Maybe: An American Grammar Book." In: Diacritics, Vol. 17, Nr. 2, 1987, S. 65–81.

Autor/innen-Biografie

Karina Rocktäschel

Karina Rocktäschel ist Doktorandin im Bereich Theaterwissenschaft am SFB 1171 "Affective Societies" der Freien Universität Berlin. Ihre Forschung strebt eine Desorientierung des Kanons immersiver Performances sowie der theoretischen Ansätze und Methoden seiner Erforschung an, indem sie sich einem Repertoire an Performance-Praktiken zuwendet, die sich kritisch zu hegemonialen Verhältnissen der Moderne positionieren. 

 

Publikationen

–, "Undoing. Unlearning. Unthinking". In: Thewis, Online Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Ausgabe 1, 2022. (Im Erscheinen)

–, "Zur Frage nach dem Menschlichen im zeitgenössischen Theater – ein diffraktives Lesen von 'Still Life. A Chorus for Animals, People and All Other Lives' (Marta Górnicka, 2021) und 'Die Kränkungen der Menschheit' (Anta Helena Recke, 2019)". In: Studia Germanica Posnaniensia, Nr. 41, Ausgabe 1, 2022. (Im Erscheinen)

Cover: Sex als Performance

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Theater