Claire Diao: Double Vague. Le nouveau souffle du cinéma français.

Vauvert: Au Diable 2017. ISBN 979-10-307-0128-9. 341 S., Preis: € 37,46.

Autor/innen

  • Burrhus Njanjo

Abstract

"Wo kommst du her? Wie ist es in deinem Land? Können Sie bitte Ihre französische Staatsangehörigkeit unter Beweis stellen?" (S. 7-8), sind hier ein paar Fragen, mit denen einige Franzosen heutzutage in ihrem eigenen Land alltäglich konfrontiert sind. Diese Franzosen – unter ihnen Fachkräfte aus dem Filmbereich mit Migrationshintergrund –, denen nicht nur unaufhörlich in Erinnerung gebracht wird, dass sie fremdanderer Herkunft sind, sondern die auch im öffentlichen Diskurs wenig Eingang und Raum finden, es sei denn aus pejorativer Perspektive. Mit dieser Feststellung führt Claire Diao ihr Buch ein, um die profunde Spaltung und Krise ans Licht zu bringen, die die heutige französische Gesellschaft und Filmlandschaft tiefgründig mitprägen.

Claire Diao ist selbst Französin mit afrikanischem Migrationshintergrund, die in Frankreich aufgewachsen ist, und deren Schreibanlass gewissermaßen im Zusammenhang mit ihrer Biografie steht. Diese Monografie, ihre erste, steht in Kontinuität mit den Artikeln, die sie bisher mit Fokus auf die französische Gesellschaft, Filmlandschaft und RegisseurInnen mit Einwanderungshintergrund veröffentlicht hat. Die Tatsachen, dass die französischen Medien sehr parisisch sind, dass die französischen Überseegebiete aus dem Nationaldiskurs ausgeschlossen sind – die sozialen Aufstände von 2017 und 2018 bestätigen diese Idee –, dass vielen Franzosen gedroht wird, die Doppelstaatsangehörigkeit entzogen zu bekommen, stellen erneut die Debatte um die Frage der Identität in Frankreich an den Tag. Gibt es eigentlich 'eine' typische Art und Weise, Französisch zu sein? Wird der französische "récit national" meistens nur aus einer parisischen Perspektive artikuliert? Sehr wohl! behauptet Claire Diao. Die gerade genannten Feststellungen sind auch Ausgangspunkte der Entstehung eines neuen Kinos in Frankreich, das den Versuch unternimmt, sich diesen Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraktiken in der französischen Gesellschaft zu widmen und sich somit auch verpflichtet, das klassische französische Kino über den Tellerrand hinaus zu denken. Dieses neue Kino benennt Diao "Double Vague" (Doppelwelle); dieses und dessen Geschichte, Entstehung, Motivationsfragen und Funktionieren in der Peripherie der französischen Filmlandschaft stellt Claire Diao in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung.

"Double" (Doppelt) ist dieses Kino, weil die Menschen, die es antreiben, eine multikulturelle, hybride Identität haben, was für Frankreich als eine Chance und etwas Bereicherndes betrachtet werden sollte; und "Vague" (Welle), weil dieser neue Trend wie eine Welle die französische Filmlandschaft seit fast 15 Jahren überrollt. Aufgrund großer (inter-)nationaler Preise, die diese Doppelwelle immer mehr auszeichnen, wird sie als neuer Atem und daher als ein anderer, neuer Kanon des französischen Kinos angesehen. Die Galionsfiguren dieses ab 2005 an Raum und Bedeutung gewinnenden Kinos sind u. a. Mathieu Kassovitz, Abdellatif Kechiche, Houda Benyamina oder auch Omar Sy. In diesem Buch geht es um die Beschreibung von ungefähr fünfzig Akteuren (FilmschauspielerInnen, TechnickerInnen, die RegisseurInnen etc.) die zwischen 1970 und 1990 geboren wurden. Claire Diao hat auch mit einigen von ihnen Interviews von 2005 bis 2016 (das Jahr der Terroranschläge gegen die Satirezeitung Charlie Hebdo) geführt, um diese manchmal nicht so gut bekannte Doppelwelle zu Wort kommen zu lassen. Die nachfolgende Zusammenfassung möge als ein Blitzlicht verstanden werden und davon ausgehend wesentliche Aspekte aus der Konfiguration des Textes beleuchten.

Claire Diao erklärt den Aufschwung der Doppelwelle im Jahre 2005 anhand dreier Hauptfaktoren: zum einen die, von dem Autodidakten Abdellatif Kechiche gewonnenen, 4 Césars für seinen zweiten Film L’ Esquive, den Anfang eines von Komplexen befreiten politischen Diskurses – auch in den Medien – und schließlich den sozialen Aufständen in Frankreich. Denn die Anhänger dieser Doppelwelle wollten mit einem Kino brechen, das meistens an einer sozial ausgebildeten "weißen" Schicht orientiert ist, das die Pariser "Rive Gauche" symbolisiert und das aber Schwierigkeiten hat, abwechslungsreicher zu werden. Sie wollten einem Kino entgegenwirken, das Menschen wie sie nur mit Klischees und Stereotypen im Hintergrund auf die Leinwand bringt, das die 'anderen, nicht puren Franzosen' nur aus der Perspektive der "Weißen" verfilmt. Die Doppelwelle will also Abstand von einem Kino nehmen, das in seiner Architektur autark ist, und das in seiner Geschichte die neorealistische Filmästhetik, die die armen Bevölkerungsschichten in ihren Lebensbedingungen verfilmte, durch die staatspolitische Zensur öfter zurückgedrängt hat (z. B. Paul Carpita, Le Rendez-vous des quais, 1955). Die Doppelwelle ist auch ein Kino, das sich von einer strukturellen, sozialen und symbolischen Gewalt emanzipieren will, um "andere unbeachtete Aspekte" der französischen Nation zu verfilmen, um an der Artikulierung der "récit national" teilzunehmen. Als Grund für diese Geschlossenheit der französischen Filmlandschaft betont Claire Diao die bis dahin kaum ausbalancierte, nicht bewältigte Vergangenheit der Französischen Nation, die sich auf der Unterjochung, der Veräußerung, dem Massaker von "Indigenen" und der Beraubung von ehemaligen Kolonien aufgebaut hat, aus denen die meisten Akteure der Doppelwelle ursprünglich stammen. Die Filmlandschaft trägt hier also zur Entstehung, zur Verstärkung und zur Legitimierung des offiziellen politischen Diskurses bei. In Anlehnung an Pierre Bourdieus Ansatz zum kulturellen Feld würde man diesbezüglich Überlegungen über die Autonomie des filmischen Feldes gegenüber dem politischen in Frankreich anstellen. Aus dem Prisma der Doppelwelle wird die Geschlossenheit in vielerlei Hinsicht festgestellt. Erstens spricht Claire Diao von einem Kino mit proletarischen Visionen. Diese bestehen darin, dass die 'nicht puren' Franzosen im Allgemeinen nur als Nebendarsteller in Filmen handeln, dass ihren Rollen von "weißen RegisseurInnen" (S. 33) geschrieben werden, und dass sie als straffällige und somit als integrationsunfähige Personen in Filmen dargestellt werden. Daran schließen sich koloniale Visionen eines Kinos an, dem bei der Darstellung paternalistischer Klischees über die Minoritäten mit Migrationshintergrund Objektivität fehlt. Die Filme von Jean Rouch, der in Frankreich als Gründungsvater des "cinéma africain" (S. 43) – einer Art ethnographisches Cinéma Vérité – gilt, veranschaulichen sehr gut diesen Umstand. Oder auch die Tatsache, dass FilmschauspielerInnen mit Doppelkulturen nicht auf Filmplakaten vorkommen, wie Pascal Nzonzi in Les visiteurs 3: la Révolution. Aber Diao kritisiert auch diese Akteure der Doppelwelle, wenn sie von "vision genrée du cinéma" (S. 56) spricht: Sie tragen auch die Schuld ihres Unglücks in dem Maße mit, wie sie manchmal aufgrund ihrer religiösen Ansichten homosexuelle Rollen ablehnen. Diese Selbstzensur wird also denunziert. Aus all diesen Visionen kristallisiert sich eine Diagnose heraus: die berüchtigte Abwesenheit der Vielfalt in der französischen Filmlandschaft bis ins Jahr 2005 hinein. Hierin liegt, so Claire Diao, der Grund, warum sich die Doppelwelle ihre Vorbilder eher im amerikanischen Black cinema oder unter den italienischen Neorealisten holt. Houda Benyamina, Djinn Carrenard oder Rachid Djaïdani sehen sich eher in der filmästhetischen Tradition von Regisseuren wie Martin Scorsese, Spike Lee oder auch Stanley Kubrick. Somit wird ersichtlich, wie sich transnationale Phänomene auf filmkultureller Ebene neu konfigurieren, wie die Nation als Konzept ausgedünnt wird, und wie aus einem symbolischen bzw. strukturellen Vakuum im Rahmen der französischen Filmlandschaft die Transnation entsteht und sich mit der Nation überschneidet.

Diao setzt sich auch damit auseinander, wie die Doppelwelle das symbolische Kapital erwirbt, um das Wort in einer sie ausgrenzenden Filmlandschaft zu ergreifen. Die Akteure aus dem Kreis der Doppelwelle haben, so Diao, ungewöhnliche und voneinander völlig unterschiedliche Laufbahnen. Die einen hatten schon ab dem Gymnasium die audiovisuelle Kunsttechnik gelernt. Dann waren sie später an der Universität, wo sie ihr Studium in demselben Bereich abgeschlossen haben. Unter ihnen haben einige im Ausland (Belgien, Italien, USA etc.) studiert. Die anderen, die meisten sogar, sind Autodidakten, weil sie in der Schule manchmal schlecht orientiert wurden (Maïmouna Doucouré). Aufgrund ihrer Herkunft wurden ihre kognitiven Kompetenzen öfters unterschätzt. Ihnen wurde das symbolische Kapital nicht in einem institutionellen Rahmen beigebracht. Dank Bekanntschaften, dank direkter Finanzierungsmitteln der CNC (Conseil national du cinéma et de l’image animée) oder durch Projekte von einigen Festivals konnten sie in die französische Filmlandschaft einsteigen. Viele – wie Jamel Debouzze oder Thomas N’Gijol – haben als Komiker bei großen Fernsehsendern wie Canal + angefangen, um dann zunächst mal als Filmschauspieler und später als Regisseur oder Produzent Eingang in die Filmlandschaft zu finden. Die Verbreitung des Internets war für Regisseure wie Adnane Tragha ein gutes Mittel, um durch seine Web-Serie Passe passe le mic auf sich aufmerksam zu machen. Bei anderen, Produzenten sowie Regisseuren, sorgen die auf großen internationalen Festivals (Toronto, Venedig usw.) gewonnenen Preise für Sichtbarkeit und Anerkennung auf nationaler Ebene. Andere Akteure haben sich in Vereinen organisiert, um ihre Filme selbst zu produzieren und es gibt Festivals wie Cinébanlieue oder Pépites du cinéma, die dabei helfen, die Peripherie der französischen Filmlandschaft aus ihrem stummen Ghetto herauszuholen.

Die Besonderheit dieser Studie liegt auch daran, dass sie teilweise empirisch vorgeht. Sie geht auf die bedeutendsten Akteure der französischen Landschaft ein, stellt die aktuellsten Selektionsmechanismen von wichtigen Institutionen aus diesem Feld dar. Weil der Zugang zu Finanzierungen für die Filmproduktion durch Institutionen wie der CNC sehr restriktiv, ausgrenzend und diskriminierend ist, soll dieses Buch dazu beitragen, diese Ausschließungen einerseits und andererseits die Machtstrukturen in der französischen Filmlandschaft aufzuspüren. Darüber hinaus wird ans Licht gebracht, wie RegisseurInnen aus der Doppelwelle – sehr oft ohne formelle Ausbildung im Filmbereich – aus ihrer hybriden, multikulturellen Identität Nutzen ziehen können, um ausschließenden Mechanismen zu entkommen, eine avantgardistische Ästhetik zu entwickeln (Themen, Genres, Drehtechniken usw.) und somit das Funktionieren des filmischen Feldes zu hinterfragen, auf alle Fälle aber den französischen Filmkanon zu erweitern und zu bereichern.

Autor/innen-Biografie

Burrhus Njanjo

Burrhus Njanjo, M.A., seit April 2018 Doktorand bei a.r.t.e.s GSHC, der Graduiertenschule der philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Studium der Germanistik und des Deutschen als Fremdsprache an der Universität Jaunde I. Promotionsthema: Migration, Imagination und Film. Eine Untersuchung zu europäischen Regisseuren mit Migrationshintergrund in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Wissenschaftliche Vorträge in Wuppertal, Neuchâtel und Köln zu Literaturgeschichtsschreibung, Film Migration und Nation.

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Rubrik

Film