Guido Kirsten: Découpage. Historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs.
Marburg: Schüren 2022. ISBN: 978-3-7410-0420-9. 200 Seiten, 28,00 €. DOI: 10.5771/9783741001765.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-07Abstract
Warum hat der Begriff der Découpage im Unterschied zu Montage und Mise-en-Scène keinen Eingang in die deutsch- oder englischsprachige filmwissenschaftliche Terminologie gefunden? Warum wurde er bei Übersetzungen aus dem Französischen häufig als "Schnitt" oder "cutting" und "editing" wiedergegeben? Diesen und anderen Fragen geht Guido Kirsten in seiner, sowohl was ihre Methodik als auch die Genauigkeit und Bandbreite der Analyse angeht, geradezu vorbildlichen begriffsgeschichtlichen Untersuchung nach.
Im Deutschen ließe sich Découpage am ehesten mit "szenische Auflösung" wiedergeben, im Englischen mit "scene dissection". Dabei sind, wie Kirsten betont, zwei Perspektiven möglich: einerseits die des Produktionsprozesses, in dem eine Handlung und der dazugehörige Handlungsraum vor und während des Drehs in einzelne Einstellungen untergliedert wird, und andererseits die der Analyse, in der die filmische Darstellungsweise und ihre ästhetische Wirkung betrachtet werden.
Hieraus ergibt sich die zentrale Schwierigkeit bei einem solchen Projekt, das versucht die "historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs", wie es im Untertitel des Buchs heißt, zu rekonstruieren. Das Wort "Découpage" bezeichnet in der französischsprachigen Filmliteratur unterschiedliche Dinge und Sachverhalte, wie Kirsten in seiner Studie präzise herausarbeitet. Methodisch bezieht er sich dabei auf die begriffsgeschichtlichen Überlegungen Reinhart Kosellecks, die von einer bei Michel Foucault sowie der Cambridge School, insbesondere Quentin Skinner und John G. A. Pollock, anknüpfenden diskursanalytischen Perspektive flankiert wird. Dieses theoretische Instrumentarium erlaubt es ihm, auf Grundlage einer breit angelegten Untersuchung der französischsprachigen Filmliteratur seit den 1910er Jahren sowie unter Bezugnahme auf einige neuere, vor allem aus Frankreich und Kanada stammende Untersuchungen zum Begriff der Découpage, dessen Bedeutungsvarianten zu inventarisieren und in die jeweiligen filmtheoriegeschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen.
In der zweiten Hälfte der 1910er Jahre erscheint "Découpage" im Sinn von "szenische Auflösung" in der französischen Filmfachpresse, um den amerikanischen Filmstil von der in Europa noch vielfach vorherrschenden Tableau-Ästhetik zu unterscheiden, welche die Handlung auf mehrere Bildebenen in der Tiefe verteilt. Um 1918-19 veröffentlicht der französische Autor und Filmemacher Henri Diamant-Berger mehrere Artikel in der Zeitschrift Le Film, in denen er die französischen Filmschaffenden dazu aufruft, sich die amerikanische Produktionsweise zum Vorbild zu nehmen. Découpage kann dabei dreierlei bedeuten: die Planung des Drehs und der Einstellungswechsel, deren praktische Umsetzung sowie das schriftliche Dokument, in dem die Einstellungsfolge festgelegt wird. In letzterer Bedeutung bezeichnet Découpage die continuity oder das shooting script. In der hochgradig arbeitsteiligen Filmproduktion Hollywoods wird darin der Ablauf der Drehs weitgehend vorherbestimmt, was den Studios wiederum die größtmögliche Kontrolle erlaubt. Im französischen Diskurs der 1920er wird diese "amerikanische Découpage", die vor allem für die narrative Ökonomie der Filme wichtig ist, unterschieden von der Praxis von Filmschaffenden wie Germaine Dulac oder Henri Chomette, die mit der Veröffentlichung der Découpage ihrer Filme in der Form von Drehbuchauszügen mit Angaben zu Kadrierung und Länge der Einstellungen gerade ihre Autor*innenschaft unterstreichen, vor allem, was die rhythmische und visuelle Gestaltung betrifft. Der Begriff der Découpage in französischen Fachzeitschriften der 1920er Jahre kann somit auf verschiedene Praktiken und Funktionen innerhalb der Filmproduktion verweisen, wie Kirsten anhand zahlreicher Quellen detailliert nachweist. Überhaupt ist es ein großes Verdienst des Buches, zeitgenössische Texte in ausführlichen Originalzitaten zu präsentieren, mit Übersetzungen in den Fußnoten, sodass sich ein nuancenreiches Bild der jeweiligen Diskussionen ergibt.
Die Frage der Autorschaft im Zusammenhang mit der Découpage verschärft sich dann mit dem Tonfilm, in dem die Dialoge eine zentrale Rolle für die szenische Gestaltung spielen. In den 1930er Jahren wird zunehmend unterschieden zwischen der découpage artistique oder littéraire, die schriftlich im Drehbuch festgelegt wird, und deren Umsetzung bei den Dreharbeiten in der découpage technique. Die Frage ist dann, ob die Regie einfach nur die Vorgaben des Drehbuchs umsetzt oder ob erst aus dieser Umsetzung der Film als kinematografisches Werk entstehen kann, das dann die Handschrift (écriture) der Regisseurin oder des Regisseurs trägt. Für die Filmkritik ist Letzteres entscheidend, sodass die Découpage in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre zu einem nun filmästhetisch gewendeten Schlüsselbegriff wird, insbesondere in den Schriften André Bazins.
Wohl vor allem durch die Begegnung mit den Filmen von William Wyler und Orson Welles sowie dem italienischen Neorealismus kommt Bazin in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu dem Schluss, dass die Filmkunst in eine neue Phase eintritt, die den Film auf eine Stufe mit der Literatur stellt. Die hieraus resultierende Entwicklung der Filmsprache versteht er, wie auch seine Mitstreiter Alexandre Astruc, Roger Leenhardt, später auch Barthelémy Amengual, als eine Abkehr von einem Kino, in dem die Montage als das zentrale filmische Ausdrucksmittel gesehen wird. Für Bazin zeigt sich in den Filmen von Wyler, Welles, Rossellini, De Sica, aber auch bei Jean Renoir, eine Filmästhetik, die zudem auch die "klassische Découpage" hinter sich lässt und mit der Sequenz-Einstellung (plan-séquence) sowie der Inszenierung in der Raumtiefe in eine neue Dimension des filmischen Realismus vorstößt. Gleichzeitig manifestiert sich in der Découpage dieser von ihm immer wieder als Beispiele herangezogenen Regisseure deren unverwechselbare Handschrift.
Gerade was die einschlägigen Texte Bazins zur Découpage betrifft, wird anhand von Kirstens sorgfältiger Rekonstruktion deutlich, welche Missverständnisse, ja Widersprüche sich aus der deutschen Übersetzung als "Schnitt" ergeben. Der eigentliche Gehalt dieser Schriften ist dadurch, wortwörtlich, lost in translation. Das wiederum lässt sich wohl nur zu einem geringen Teil denen anlasten, die Bazins Schriften ins Deutsche (oder Englische) übertragen haben. Zum einen aufgrund der Vieldeutigkeit des Terms, aber auch, weil er in sich einigermaßen widersprüchlich ist, denn er betont, wie Bazin einmal anmerkt, das Zerschneiden des Raums in der szenischen Auflösung, anstatt, wie continuity es im Englischen tut, zu unterstreichen, dass über die Anschlüsse ja gerade eine räumliche oder raum-zeitliche Kontinuität hergestellt wird. Andererseits verschwindet der Begriff der Découpage im Laufe der 1950er und 1960er Jahre zunehmend aus der französischen Filmkritik, und er wird in den ersten Ansätzen zu einer universitären Filmwissenschaft nicht wieder aufgenommen. Als dann die ersten Übersetzungen von Bazins Schriften entstehen, ist der filmästhetische Gehalt des Découpage-Konzepts auch in Frankreich offenbar weitgehend in Vergessenheit geraten.
Die Generation der Cahiers du cinéma, die eine politique des auteurs betreibt, wie zunehmend auch Bazin selbst, subsumiert die Découpage unter die Mise en scène, der dann nahezu alle kreativen Entscheidungen bei der Herstellung eines Films zugeschrieben werden. Für die ab Mitte der 1960er Jahre im universitären Bereich dominierende Filmsemiotik wiederum ist der Begriff Découpage keine analytische Kategorie, das Wort wird allenfalls noch in der Bedeutung "Einstellungsprotokoll" verwendet. In der ideologiekritisch gewendeten Filmanalyse der 1970er Jahre wird Découpage schließlich wieder zum Synonym für die szenische Auflösung im amerikanischen Kino, die vor allem darauf abzielt, dem Publikum die Illusion zu vermitteln, einem bruchlos erzählten Geschehen beizuwohnen.
So in etwa beschreibt Kirsten die Hauptlinie der Geschichte des Begriffs, doch darüber hinaus geht er immer wieder auch den Verästelungen seiner Verwendung nach, wie beispielsweise Jean Epsteins weitgehend unbeachtet gebliebener nicht-narrativer Interpretation des Konzepts oder Noël Burchs Auffassung der Découpage als Organisation des filmischen Materials in Analogie zur seriellen Musik. Kirsten präsentiert somit ein weites Bedeutungsspektrum des Begriffs der Découpage, den er immer wieder in die jeweiligen historischen Zusammenhänge einordnet. Dabei eröffnet er auch wichtige Einsichten sowohl in die sich verändernden Produktionspraktiken als auch in die filmästhetischen Positionen, innerhalb deren der Begriff eingesetzt wurde. Zudem zeigt sich, dass einige Texte André Bazins auf Deutsch anders gelesen werden sollten, weil dort an zahlreichen Stellen der Ausdruck "Schnitt" in der Übersetzung schlicht widersinnig ist.
Am Ende seines Buchs konstatiert Kirsten, ein historisch informierter Begriff der Découpage könne die Filmwissenschaft nur bereichern. In der Tat würde er erlauben, das Zusammenspiel von raum-zeitlicher Gliederung und rhythmischer Organisation der Einstellungen zu fassen. Um den Begriff in der deutschsprachigen Filmwissenschaft produktiv zu machen, ist Guido Kirstens Buch eine breite Rezeption zu wünschen.
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