Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films.
Mit einem Vorwort von Dominik Graf. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Hans-Joachim Schlegel. Übersetzung der Ergänzungen von Yvonne Griesel. Berlin: Alexander Verlag 2021. ISBN: 978-3-89581-549-2. 320 Seiten, 35,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-11Abstract
Andrej Tarkowski (1932–1986) gilt als einer der herausragenden Regisseure des 20. Jahrhunderts und seine Werke waren wegweisend für Generationen von Filmschaffenden. Seine Arbeiten warfen in der Rezeption immer neue Fragen auf, weshalb sämtliche Äußerungen Tarkowskis zu seinem Werk mit großem Interesse zur Kenntnis genommen wurden; zu nennen ist in diesem Zusammenhang neben seinen Tagebüchern vor allem der Band Die versiegelte Zeit, der aus Interviews hervorgegangen ist. Ein besonderes Kennzeichen von Tarkowskis Veröffentlichungen und vor allem von Die versiegelte Zeit ist, dass sie in diversen, sich voneinander unterscheidenden Ausgaben erschienen sind, was auf Tarkowskis Praxis zurückzuführen ist, bei Neuveröffentlichungen die Texte noch einmal einer Revision zu unterziehen und Korrekturen, aber auch inhaltliche Überarbeitungen vorzunehmen.
Die versiegelte Zeit ist aus einem gleichnamigen Essay Tarkowskis im Jahrbuch Probleme der Kinokunst von 1967 (Tarkovskij 1967) sowie einer Reihe von Interviews mit der Filmkritikerin Olga Surkova hervorgegangen, die bis 1982 in der Zeitschrift Die Kunst des Kinos veröffentlicht wurden. In diesem Werk äußert sich der Regisseur zu den Entstehungsbedingungen und zu künstlerischen Entscheidungen in seinen Filmen, aber vor allem auch grundsätzlich zu Fragen der Kunst des Films. In Die versiegelte Zeit verteidigt Tarkowski zunächst die Auffassung, dass es sich beim Film um eine eigenständige Kunstform mit eigenen Mitteln handelt. Darüber hinaus äußert er sich aber auch zu Filmkonzepten, zur Montage, zur Mise-en-scène sowie zur Philosophie des Films und zur Verantwortung des Künstlers. Bekannt geworden ist seine Definition des Idealfalls der Filmarbeit:
"Der Idealfall einer Filmarbeit sieht für mich folgendermaßen aus: Ein Filmautor zeichnet auf Millionen von Filmmaterial-Metern jede Sekunde, jeden Tag, jedes Jahr ohne Unterbrechung auf, etwa das Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Mit Hilfe des Schnittes würde man dann daraus einen Film von 2500 Metern Länge gewinnen, das heißt einen Film mit etwa anderthalb Stunden Laufzeit. (Interessant wäre dabei auch die Vorstellung, dass diese Millionen von Filmmetern in die Hände verschiedener Regisseure gerieten, von denen dann jeder für sich daraus einen jeweils äußerst unterschiedlichen Film zusammenstellen würde!)" (S. 82)
Der deutschen Übersetzung von Die versiegelte Zeit durch den Filmhistoriker und -theoretiker Hans-Joachim Schlegel (1942–2016), die erstmals 1985 im Ullstein Verlag erschien, kam eine besondere Bedeutung zu, denn sie stellte auch die Erstveröffentlichung von Tarkowskis Werk dar, da das russische Original erst nach einer weiteren Übersetzung (1986 ins Englische) im Jahr 1991 erschien, also nach dem Tod des Regisseurs. Dass bereits 1988 eine überarbeitete Neuauflage der deutschen Übersetzung notwendig wurde, hatte vor allem damit zu tun, dass Tarkowski noch ein Kapitel zu seinem letzten Film Opfer (SE/UK/FR 1986) hinzugefügt hatte. Für die, 2009 durch den Alexander Verlag Berlin veranlasste, neue Ausgabe überarbeitete Schlegel seine Übersetzung und ergänzte und aktualisierte auch die Anmerkungen zum Text.1
Eine neue Ausgabe von Tarkowskis Werk in italienischer Sprache war dann im Jahr 2015 dafür verantwortlich, dass die deutsche Übersetzung von 2009 ein weiteres Mal überarbeitet und neu herausgegeben werden musste: Für die, durch das von Tarkowskis Sohn geleitete und in Florenz ansässige Istituto Internazionale Tarkovskij 2015 veranlasste, italienische Edition von Die versiegelte Zeit (Tarkovskij 2015) waren die fünf vorhandenen, durch Andrej Tarkowski korrigierten Versionen abgeglichen und somit gewissermaßen eine endgültige Fassung erstellt worden, die Fehler in der russischen Ausgabe korrigiert, sich aber auch inhaltlich von dieser unterscheidet. Diese russische Fassung letzter Hand von Die versiegelte Zeit war dann die Grundlage für die vorliegende Überarbeitung von Hans-Joachim Schlegels deutscher Übersetzung des Werks. Für den mittlerweile verstorbenen Schlegel übernahm die Übersetzerin Yvonne Griesel die Aufgabe, die notwendigen Änderungen in den Text einzupflegen; die noch von Schlegel angefertigten Anmerkungen zum Text wurden von der Redaktion des Alexander Verlags aktualisiert.
Ein Vergleich der letzten, von Hans-Joachim Schlegel noch selbst verantworteten, Fassung der Übersetzung mit der Überarbeitung durch Yvonne Griesel offenbart große Unterschiede. Während einige dieser aus redaktionellen Entscheidungen herrühren und nur die Korrektur einzelner Wörter oder die Schreibung von Namen betreffen (und deshalb hier auch nicht näher interessieren sollen), gibt es auch in inhaltlicher Hinsicht große Unterschiede.
So wird etwa von den Autoren, die Tarkowski im ersten Kapitel als Beispiel für die Verbindung von Poesie und Philosophie dienen, der Prosaschriftsteller Michail Prischwin in der Neuauflage nicht mehr erwähnt. Oder etwa es fehlt ein ganzer Satz, wie jener, mit dem Tarkowski in der Fassung von 2009 einen Abschnitt mit einer deutlichen Kritik am naiv-naturalistischen Kino abschließt: "Und ich bin nun einmal dafür, daß das Kino so nahe wie möglich an jenem Leben bleibt, das wir sonst gar nicht in seiner tatsächlichen Schönheit wahrnehmen können" (Tarkowski 2009, S. 37). Tarkowski hat aber nicht nur solche Passagen gestrichen, sondern auch Gedanken eingefügt, die für seine Poetologie des Films relevant sind. So wird in der Neuauflage beispielsweise der Satz "Ein Kunstwerk – das bedeutet in jedem Fall die organische Verknüpfung von Idee und Form" durch die Passage "Form ohne Idee oder Idee ohne Form sind Variationen, die es zerstören und jenseits der Grenzen von Kunst ansiedeln" ergänzt (S. 38). Eine Vielzahl solcher und ähnlicher Änderungen lässt sich bei einem Vergleich der Übersetzung von 2009 mit der überarbeiteten Fassung feststellen. Eine eindeutige Tendenz bei diesen Änderungen ist jedoch auf den ersten Blick nicht auszumachen – hier bietet sich ein interessantes Forschungsfeld für Tarkowski-Spezialist*innen, die dieser Frage in Detailstudien nachgehen könnten.
Andrej Tarkowski hat seine Ausführungen zur Poetik des Films immer wieder Revisionen unterzogen, und mit der Neuauflage liegt die nun wohl endgültige Gestalt der Überlegungen des russischen Regisseurs zu seiner Kunstform vor. Bei der Neuauflage von Die versiegelte Zeit handelt es sich zwar nicht um ein gänzlich neues Werk, aber um einen Text, der gegenüber früheren Fassungen signifikante Unterschiede aufweist; dank der mustergültigen Arbeit von Yvonne Griesel fügen sich die Änderungen auch organisch in den Text ein. Glücklicherweise hat die Redaktion bewährte Bestandteile des Buches wie ein komplettes Werkverzeichnis mit erschöpfenden Informationen zu seinen Theater-, Opern- und Hörspiel-Regiearbeiten sowie zu allen Filmen, bei denen Tarkowski Regie geführt oder auf andere Weise (etwa als Berater) mitgewirkt hat, sowie das wichtige Nachwort von Hans-Joachim Schlegel auch in die Neuauflage übernommen. Wer die Gedanken eines der wichtigsten Regisseure des zwanzigsten Jahrhunderts zum Film in ihrer endgültigen Gestalt kennenlernen will, wird Andrej Tarkowskis Die versiegelte Zeit in der Neuauflage von 2021 mit Gewinn lesen.
Anmerkungen:
1 Mein herzlicher Dank gilt dem Alexander Verlag (Berlin) für die Zurverfügungstellung dieser Ausgabe in einem Druck von 2012.
Quellen:
Andrej Tarkovskij: "Zapečatlennoe vremja". In: Problemy kinoiskusstva 9, 1967, S. 78–102.
Andrej Tarkovskij: Scolpire il tempo. Riflessioni sul cinema. Firenze: Istituto Internazionale Tarkovskij 2015.
Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Hans-Joachim Schlegel. Berlin: Alexander Verlag 2009 und öfter.
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