Brandon Woolf: Institutional Theatrics. Performing Arts Policy in Post-Wall Berlin.

Evanston, IL: Northwestern University Press 2021. ISBN: 9780810143555. 280 Seiten, 34,95 $.

Autor/innen

  • Corentin Jan

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-06

Abstract

Dass die Berliner Theaterszene und ihre Widersprüche an Anziehungskraft nichts eingebüßt hat und immer noch internationales Interesse erregt, beweist Brandon Woolfs neulich erschienenes Buch Institutional Theatrics. Der Autor beschreibt anhand mehrerer Einzelfallanalysen – von der Schließung des Schillertheaters bis zur Krise um den Intendanzwechsel an der Volksbühne – wichtige Grundtendenzen und Debatten in der Theaterpolitik der deutschen Hauptstadt seit 1989. Die impliziten Adressat*innen dieser Arbeit sind zwar andere englischsprachige, vor allem US-amerikanische, Wissenschaftler*innen aus dem Feld der performance studies, für die allein die Idee einer breiten öffentlichen Förderung der darstellenden Künste und die daraus resultierenden Diskussionen um die Umstrukturierung der Berliner Theaterinstitutionen seit mehr als 30 Jahren unheimlich klingen können. Dennoch bildet Woolfs Monografie – vielleicht gerade dank dieser externen Perspektive – einen gewichtigen Beitrag zu einer Reflexion über die Beziehungen zwischen Theater und Institution, die heute auch die deutschsprachige Theaterwissenschaft prägt.

Die Studie gliedert sich in zwei Teile ("State-stage" und "Free scene"), die jeweils zwei Kapitel beinhalten, mit Beispielen aus den letzten 30 Jahren – einem Zeitalter von "precarious adjustment" (S. 10). In Einleitung und Nachwort behandelt der Autor als zeitgenössischen Angelpunkt die öffentliche Kontroverse um den Leitungswechsel an der Volksbühne und ihre komplexe Konflikthaftigkeit: Das Ende der Castorf-Ära und Dercons Ernennung werden von dessen Gegnern als Zeichen einer Neoliberalisierung der Berliner Theaterszene gelesen und der Rücktritt des neuen Intendanten nach nur sieben Monaten Amtszeit als Sieg im Kampf gegen die Gefährdung der bestehenden Theaterinfrastruktur durch aggressives Stadtmarketing. Dieser Fall erweist sich allerdings als die letzte vieler Kontroversen, die die Berliner Theaterpolitik seit dem Fall der Berliner Mauer beschäftigt haben. Woolfs Buch kann daher als Genealogie heutiger Konflikte im Theaterbereich – insbesondere zwischen den Staats- und Stadttheatern und der Freien Szene – im Kontext einer wachsenden Neoliberalisierung in der Steuerung darstellender Künste interpretiert werden.

Um diesen Wechselbeziehungen zwischen Theater und Theaterpolitik und der möglichen Rolle einzelner künstlerischer Initiativen in solchen Prozessen gerecht zu werden, schlägt der Autor vor, den Begriff von Kulturpolitik – "cultural policy" – neu zu interpretieren. Er rekurriert dabei auf von Shannon Jackson und Christopher Balme formulierte Forderungen nach einer besseren Eingliederung institutioneller Faktoren in die Analyse von Performances und Theateraufführungen (vgl. Jackson 2011; Balme 2019). In einer kritischen Auseinandersetzung mit Thesen von Theodor W. Adorno, Tony Bennett, Toby Miller, George Yúdice und Judith Butler formuliert Woolf seine Hauptthese: Eine bessere Berücksichtigung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Theaterarbeit erlaube, zu beobachten, wie Akteur*innen aus der Theaterwelt durch einzelne Theateraufführungen oder andere performative Interventionen auch "cultural policy" betreiben, indem sie ihre eigene Beziehung zu den Institutionen, in denen sie gefangen sind, reflektieren oder kritisch hinterfragen können. Oder anders gesagt: "cultural policy must be thought of as a performative practice of infrastructural imagining, not just as an administrative agenda for divvying and delegating funds" (S. 8). Diese Neubehandlung des Kulturpolitik-Begriffs erweitert daher die Analyse kulturpolitischer Phänomene auf ästhetische Strategien von einzelnen Künstler*innen oder Theatergruppen, die Woolf nach Adorno als Strategien der Negation definiert, die die Form eines "disavowal", eines steten Spiels zwischen der Bekenntnis und der Verleugnung der Institution und der politischen Produktionsbedingungen jedes künstlerischen Schaffens nimmt, denn "understanding performance as itself a form of policy can help us understand the ways artists engage systems of state support as the means of enacting their undoing" (S. 8). Was das konkret bedeuten kann, wird in den einzelnen Kapiteln erläutert.

Eingangs greift der Autor die ersten Auswirkungen der Wiedervereinigung Berlins mit einer Analyse des Konflikts um die Schließung des Schillertheaters auf. Er verfolgt dabei sehr genau den Verlauf der Ereignisse, die Motivationen der beteiligten Akteur*innen – vom Berliner Senat unter der damaligen Großen Koalition bis zu den Protestierenden – und deren Handlungsrepertoires und Argumente. Insbesondere wird gezeigt, wie die Schließung des bedeutendsten Staatstheaters der deutschen Hauptstadt nicht nur zu einer unilateralen Unterstützung der Institution Staatstheater im Kontext neoliberaler Sparpolitik geführt hat, sondern auch manchmal zur Infragestellung des institutionellen Rahmens des Ensemble- und Repertoirebetrieb-Modells durch die Vertreter dieser Institution selbst (z. B. August Everding, den damaligen Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins).

Das zweite Kapitel wirft die Frage auf, wie diese Diskussion um die Situation der Staats- und Stadttheater innerhalb der Institution kritisch aufgegriffen werden kann, und zwar anhand des paradigmatischen Beispiels der Volksbühne unter Frank Castorfs Intendanz. Durch die Analyse von Lehrstück, der Inszenierung von Brechts Badener Lehrstück vom Einverständnis aus dem Jahr 2010, veranschaulicht der Autor, dass die Identität des Theaters vor allem als künstlerische Strategie der ständigen Selbstkritik und Kritik an der Institution aus dem Standpunkt der Institution selbst zu kennzeichnen ist. In der Aufführung greift Castorf auf Brechts ambivalente Theorisierungen des Lehrstücks zurück, um seine auktoriale Position umso besser zu hinterfragen. Während Castorfs Volksbühne als Paradigma eines selbstkritischen Staatstheaterapparats dargestellt wird, widmet sich der zweite Teil der Publikation der Situation der Freien Szene und ihren manchmal widersprüchlichen Unabhängigkeitsbestrebungen.

Das dritte Kapitel weicht am meisten von der Grundthematik des Buches ab. Woolf berichtet von dem Projekt Volkspalast (2004) – der Name steht für die Zwischennutzung des Palasts der Republik durch Vertreter*innen der Freien Szene, bevor dieser endgültig abgerissen wurde. In Anlehnung an Jacques Derridas hauntology-Begriff (vgl. Derrida 2003) zeigt der Autor, wie die unterschiedlichen Aktionen des Projekts, das aus öffentlichen Diskussionen, imaginären Raumgestaltungsplänen und Theateraufführungen bestand, die falsche Alternative der Debatte um die Zukunft des Gebäudes überwanden, zwischen einer auf das Symbol der DDR fixierte Ostalgie und einer reaktionären und amnestischen Wiederbelebung des Berliner Schlosses. Durch eine behauptete Strategie der Zwischennutzung und des prekären und vergänglichen Labors ist es den beteiligten Künstler*innen – v. a. raumlabor berlin und Peanutz Architekten – gelungen, in die Gedächtnispolitik der Stadt einzugreifen, um Spuren der Vergangenheit im urbanen Raum anders zu behandeln.

Im letzten Kapitel beschäftigt sich Woolf gezielt mit der Situation der Freien Szene, der Kritik freier Theaterschaffenden an der Berliner Kulturpolitik und am Modell des Staatstheaters sowie der aufkommenden Frage nach der angeblichen Beteiligung der Freien Szene an ihrer Selbstausbeutung durch die Annahme neoliberalisierter Produktionsweisen. andcompany&Cos (Coming) Insurrection aus dem Jahr 2013, das u. a. am HAU aufgeführt wurde, wird hier zum Anlass einer dialektischen Behandlung dieser Debatten. In der Aufführung werden Schillers Don Carlos und der französische aktivistische Essay Der kommende Aufstand mit Reflexionen zur miserablen Lage freier Theaterschaffenden in Deutschland und in den Niederlanden verflochten, um die heutige infrastrukturelle und politische Notsituation der Freien Szene ans Licht zu bringen. Alexander Karschnias Ziel besteht aber nicht darin, das finanziell besser gestellte Model der Staats- und Stadttheater den Unabhängigkeitsbestrebungen der Freien Szene gegenüberzustellen – das Projekt wird sowieso vom Oldenburgischen Staatstheater koproduziert. Vielmehr benutzt er den Theaterraum als Ort kritischer Selbstreflexion und Erprobung alternativer Freiräume.

Eine große Qualität von Brandon Woolfs Monografie besteht in seiner Fähigkeit, in den einzelnen Kapiteln präzise Aufführungsanalysen mit der Analyse ihres breiteren infrastrukturellen Rahmens zu verknüpfen. Jedoch möchte ich hier zum Schluss zwei kritische Fragen aufwerfen. Zunächst bleiben Woolfs methodologische Entscheidungen oft unklar, insbesondere was den Gebrauch der Quellen angeht: Die einzelnen Kapitel oszillieren zwischen der Analyse von Dokumenten, Zeitungsartikeln, Videoaufnahmen von Aufführungen oder Interviews (z. B. mit Alexander Karschnia), ohne dass dieser vage Pluralismus in der Arbeit wirklich reflektiert wird. Dies lässt sich vielleicht durch die Entscheidung erklären, nicht an sozialwissenschaftliche Methoden anzuknüpfen, wie es in der deutschen Theaterwissenschaft oft der Fall ist. Problematischer scheint mir die Behandlung der feministischen, antirassistischen oder postmigrantischen Kritik an den Theaterinstitutionen, die nur am Rande im Nachwort der Studie als ziemlich neue Phänomene erwähnt werden. Es fehlt eine langjährigere Berücksichtigung dieser Debatten, die einen Platz im Buch selbst verdient hätten, wenn sich Woolf nicht nur auf Schlaglichterinstitutionen (wie das HAU für die Freie Szene) konzentriert hätte: Nur Shermin Langhoffs Maxim Gorki Theater wird zitiert, ohne ihre vorherige Erfahrung am Ballhaus Naunynstrasse zu erwähnen. Trotzdem bleibt Brandon Woolfs Institutional theatrics ein wichtiger Beitrag zum Verhältnis zwischen Theater und Institutionen, der sicherlich auch viele deutschsprachige Wissenschaftler*innen interessieren wird.

Literatur:

Balme, Christopher: "Institutional Aesthetics and the Crisis of Leadership". In: The Routledge Companion to Theatre and Politics. Hg. v. Peter Eckersall/Helena Grehan, New York: Routledge 2019, S. 169-172.

Derrida, Jacques: Marx' "Gespenster". Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale [Spectres de Marx, 2003]. Übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.

Jackson, Shannon: Social Works. Performing Art, Supporting Publics. New York: Routledge 2011.

Autor/innen-Biografie

Corentin Jan

PhD-Student in Theaterwissenschaft und Germanistik an der LMU München und Sorbonne Nouvelle in Paris. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit Transformationsprozessen der Theateröffentlichkeit in Deutschland seit den 1990er Jahren.

cover: institutional theatrics

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Veröffentlicht

2023-05-10

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Rubrik

Theater