Eleonora Roldán Mendívil/Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus.
Berlin: Dietz 2023. ISBN: 978-3-320-02397-3. 200 Seiten, 16,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-16Abstract
Die Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo und die Politikwissenschaftlerin Eleonora Roldán Mendívil, legen im Dietz Verlag ihren Sammelband Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus vor, mit dem sie die Relevanz marxistischer Theorie für das Verständnis von Rassismus und anderen Formen der Unterdrückung hervorheben und einen marxistischen Rassismusbegriff entwickeln wollen. Sie reagieren auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse im deutschsprachigen Kontext – von bürgerlichen bis radikal aktivistischen Zusammenhängen sowie der Wissenschaft –, die einen liberalistischen Zugang zu Antirassismus verfolgen und damit letztlich die Aufrechterhaltung von Ausbeutungsverhältnissen zementieren. Gleichzeitig wollen sie den Blick für Rassismen innerhalb der marxistischen Theoriebildung schärfen.
Der Band reagiert, so Christian Frings im Gast-Vorwort, auf einen Status quo der, seit Margaret Thatchers Diktum "There is no alternative", vom Gefühl der Ausweglosigkeit aus kapitalistischen Verhältnissen gekennzeichnet ist und einen sukzessiven Rückgang klassenkämpferischer Politikverständnisse verzeichnet (S. 7). So richten sich die Autor*innen entschieden gegen einen Antirassismus im Sinne einer Verwertungslogik, der insbesondere in Diversitätsprogrammen zum Ausdruck kommt. Entsprechend ist der Buchtitel als pointierte Umdeutung zu verstehen, nach der Diversität statt als antirassistische Maßnahme zur Ermächtigung als Ausdifferenzierung der Anforderungen an eine gespaltene Arbeiter*innenklasse enttarnt wird, welche man als "Produkt der unterschiedlichen Ausbeutungsbedingungen, der Diversität der Ausbeutung, begreifen" (S. 34) könne.
In der Einführung "Warum Marxismus?" sprechen sich die Herausgeberinnen für eine nicht deterministische Marxrezeption aus und diskutieren kritisch Marx' Vermächtnis für die Rassismusforschung, indem sie seiner Zeit geschuldete Stereotypen und Leerstellen einräumen, jedoch den Nutzen seines theoretischen Instrumentariums für das Verständnis von Rassismus hervorheben. Schließlich verteidigen sie Marxismus, der "im Kern undogmatisch" (S. 187) und in erster Linie als Methode relevant sei gegen den Vorwurf, eine eurozentrische "Ideologie weißer Männer" (S. 22) zu sein und betonen, etwa unter Bezugnahme auf Gilbert Achcar und Vivek Chibber, die reichhaltige Geschichte nicht-westlicher Marx-Rezeptionen (S. 27, S. 117).
Während die Beiträge auf einem weiten Spektrum klassischer und neuerer internationaler Werke sowie Studien fußen, versteht sich der Band nicht als Einführung in marxistische Rassismustheorie. Darauf lässt auch das Fehlen einer Gesamtbibliografie schließen. Stattdessen kann es als Debattenbuch bezeichnet werden, das in konkrete gesellschaftliche Diskurse im deutschsprachigen Kontext (wobei die BRD klar im Fokus liegt) intervenieren will. Die Herausgeberinnen platzieren ihre eigenen Beiträge, welche die grundlegende theoretische Ausrichtung vorgeben, als Rahmung an Anfang, Mitte und Ende des Bandes und ergänzen diese durch spezifische Fallstudien weiterer Autor*innen. So schreibt Fabian Georgi unter Zuhilfenahme von Hegemonietheorien zum europäischen Grenzregime und Lea Pilone zeigt in einer historisch fundierten Untersuchung, wie die Etablierung des Polizeisystems mit der kapitalistischen Notwendigkeit zur Disziplinierung von (oft rassifizierten) Arbeitskräften einherging. Celia Bouai untersucht rechtliche Grundlagen und Wirkungsweisen von segmentierten Arbeitsmärkten in der EU und Sebastian Friedrich beschreibt Ursachen für das derzeitige Wiedererstarken rechter Hegemonie in Deutschland.
Die Herausgeberinnen verorten sich als Akteurinnen antirassistischer Kämpfe in Berlin – Sarbo ist zudem im Vorstand der "Initiative für Schwarze Menschen Deutschland" aktiv – und geben die Erfahrungen in jenen Praxen und Diskursen als Motivation für das Buchprojekt an, machen ihre Situiertheit jedoch nicht zur Grundlage ihrer Argumentation. Stattdessen benennen sie ein Unbehagen mit Debatten die weitgehend auf identitätspolitischen Kriterien gründen, wodurch Identitäten als zementiert, statt als spezifisch historisch hergeleitet begriffen werden. Weiters positionieren sie sich kritisch zum Konzept der Intersektionalität. Dieses lassen sie zwar als Mittel gelten, "deskriptiv das reale Ineinandergreifen von verschiedenen Unterdrückungsformen" (S. 108) aufzuzeigen, wovon marxistische Forscher*innen viel lernen und eigene Analysen schärfen können, betonen allerdings, dass es wenig zum Verständnis übergeordneter Ausbeutungsverhältnisse beitrage. Gleichzeitig seien Adjektive wie "racial gendered sexual" (kursiv im Original), dem je nach konkreter historischer Ausformung zahlreiche weitere hinzugefügt werden können, im Kapitalismus bereits inhärent enthalten, weshalb auch Konzepte wie racial capitalism reduktionistisch seien.
Auch vom Begriff des Klassismus grenzen sie sich ab, da es sich bei Klassenzugehörigkeit nicht um eine Erfahrung handle, sondern ein strukturelles Verhältnis. Statt auf individuellen Erfahrungen oder Identitäten müsse der Fokus einer marxistischen Rassismusanalyse auf den Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen liegen, welche oft jenseits des unmittelbar subjektiven Erlebens wirkmächtig sind. Demnach ist Gesellschaft "bestimmt durch die Art und Weise, wie Menschen sich zueinander ins Verhältnis setzen, um gemeinsam die Produktion und Reproduktion ihres Lebens zu organisieren." (S. 18f) Sarbo definiert Rassismus daher als ein "soziales Verhältnis zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Weise in die Produktion einbezogen und ausgebeutet werden." (S. 58) Nichtsdestotrotz räumen die Herausgeberinnen ein, dass Rasse, wie Stuart Hall und Frantz Fanon zeigten, durchaus auch eine psychologische Kategorie und einen Entfremdungsprozess darstellt (vgl. S. 61f).
Um Rassismus in seiner historischen Gewordenheit zu begreifen, sei es wichtig, zwischen den Phänomenen Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung zu unterscheiden. Ausbeutung sei demnach an das Klassenverhältnis gekoppelt, welches die Herausgeberinnen als "grundlegende materielle Struktur unserer Gesellschaft" (S. 119) bezeichnen, ohne sich näher auf die schwierige Frage einzulassen, wer denn nun zur Arbeiter*innenklasse gehöre. Die Antwort wird nur implizit gegeben indem sie die Klassengesellschaft als "die systematische und gewaltsame Trennung der Produzent:innen von ihren Produktionsmitteln" (S. 111) charakterisieren und Lea Pilone ergänzt, dass es zudem des "doppelt freien Lohnarbeiters" (S. 126) bedürfe, der zum Überleben auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft angewiesen sei. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Rassismus (und anderer Unterdrückungsformen) ist die Überausbeutung bestimmter Gruppen, also Ausbeutung zu überdurchschnittlich miserablen Konditionen. Sie beruht auf der Spaltung der Arbeiter*innenklasse und nehme zwar sich historisch wandelnde Formen an, sei aber für das Fortbestehen des Kapitalismus unabdingbar. Unterdrückung stelle die jeweils dominante Herrschaftsform und legt fest, wie Ausbeutung vollzogen wird. Ausbeutung funktioniert auf Grundlage der Verdinglichung konstruierter Unterschiede zwischen Gruppen. Rassismus, ob in seiner biologistischen oder kulturalistischen Ausformung, "setzt die gesellschaftliche Form der Arbeit, verdinglicht über körperliche oder kulturelle Merkmale, mit dem Wesen der Menschen gleich. Die gesellschaftliche Hierarchisierung wird damit zu einer natürlichen gemacht" (S. 57). So werde beispielsweise in der Hautfarbe "ein soziales Verhältnis verdinglicht" (S. 48). Diskriminierung ist dann nichts weiter als der verweigerte Zugang zu einer Form von Ausbeutung, die nicht als Überausbeutung erscheint. Da der Kapitalismus aber stets neue Formen der Überausbeutung produziere, perpetuiere Anti-Diskriminierungspolitik letztlich das systemimmanente Konkurrenzspiel. Während die Subjekte der Rassifizierung sich ändern (vgl. S. 56), bleibe das dem Kapitalismus zugrunde liegende universelle Prinzip der Ausbeutung durch Spaltung bestehen. Daher sei eine "Dialektik von Allgemeinem und Besonderem" (S. 116) notwendig. Rassismus sei nicht die Ursache für ungleiche Ausbeutungsverhältnisse, sondern umgekehrt eine verdinglichte ideologische Rationalisierung oder Legitimation dieser (vgl. S. 47). Dennoch, warnt Sarbo, könne Rassismus eine Eigendynamik entwickeln, denn in "rassistischer Gewalt und letztlich im Genozid gibt es kein funktionales oder rationales Moment." (S. 59) Dabei komme es zu einer Zerstörung der Arbeitskraft die eigentlich nicht im Interesse des Kapitals liege. "Diese Dialektik von Ausbeutung und Vernichtung ist im Wesentlichen kennzeichnend für rassistische Formationen" (S. 60).
Die von den Herausgeberinnen vorgeschlagenen Begrifflichkeiten werden nicht durch das Werk hindurch von allen Autor*innen konzise verwendet. So wird ihrer Forderung nach Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung nicht konsequent nachgekommen, was in den Beiträgen von Georgi und Friedrich besonders auffällt, die stattdessen Begriffe wie Herrschaft bzw. Hegemonie verwenden. Insbesondere Friedrichs Ansatz, das Erstarken der Rechten in Europa aus einer Hegemoniekrise des herrschenden Machtblocks abzuleiten (vgl. S. 166f), überzeugt nicht und wirft die Frage auf, ob es sich nicht vielmehr um eine besorgniserregende Anpassung der Herrschenden an rechte Ideologien handelt. Entsprechende Inkonsistenzen in der Gesamtargumentation werden durch die anregende Gegenposition wettgemacht, die der Band liberalen Antirassismen entgegenhält und dabei die Komplexität struktureller Ausbeutungsverhältnisse aufzeigt. Die Autor*innen kommen dabei ohne das Konzept Intersektionalität aus, auch wenn sie das Zusammenwirken verschiedener Unterdrückungsformen an konkreten Fällen analysieren. Dabei zeigen sie, dass diese erst unter dem Gesichtspunkt eines Klassenwiderspruchs in solidarische Ermächtigung umgewandelt werden können. Insbesondere in dem Beitrag von Roldán Mendívil und Hannah Vögele "Soziale Reproduktion, Geschlecht und Rassismus" wird dies deutlich, wenn sie anhand historischer Beispiele zeigen, wie die künstliche Trennung der Reproduktionsarbeit von sonstiger Produktivarbeit ins Private "eine spezifische rassifizierte und binäre Geschlechterordnung festschreibt." (S. 72) Als Weggefährt*innen wünschen sich die Herausgeberinnen Genoss*innen statt Allies. Schließlich beruhe allyship nur aus temporären strategischen Bündnissen, die auf oft deterministisch verstandenen Identitäten beruhen, während Genoss*innenschaft sich aus verschiedenen Positionalitäten heraus auf der Grundlage eines gemeinsamen Anliegens definiere (vgl. S. 20), womit erst der gemeinsame solidarische Kampf möglich und zur situierenden Erfahrung wird.
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