Christoph Büttner: Postfordistische Fragmente. Filmische Arbeitswelten und Repräsentationen des Sozialen.
Paderborn: Brill/Fink 2022. ISBN: 978-3-8467-6751-1. 354 Seiten, 51,30 €. DOI: 10.30965/9783846767511.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-05Abstract
Filme, die Arbeit zum Thema haben, sind selten. Gemessen an der Bedeutung, die Arbeit sowohl in unserem Alltag als auch über das gesamte Leben hinweg einnimmt, ist dies einigermaßen verwunderlich. Berufe spielen eine noch weit geringere Rolle, sieht man von wenigen Ausnahmen wie Kriminalbeamte, Ärzte, Soldaten und Cowboys ab – sowie seit kürzerem auch Kriminalbeamtinnen, Ärztinnen etc. Jedoch bieten sich uns Zuseher*innen selbst in diesen Ausnahmefällen kaum Einblicke in das Berufsleben oder die Rahmenbedingungen dieser Berufe. Essenzielle, die Erwerbstätigkeit bestimmende, Faktoren, wie etwa Arbeitszeiten, Einkommen oder potenzielle Karriereschritte, bleiben meist außen vor. Kurz: man kann noch so viele Stunden mit Kriminalfilmen oder Ärzteserien zubringen, aus ein paar Zeilen eines Berufslexikons erfährt man mehr über den jeweiligen Beruf.
Warum wird Arbeit so selten Gegenstand von Filmen? Eine naheliegende These ist, dass Arbeitende sich nach der Arbeit nicht wieder mit Arbeit beschäftigen wollen, sondern schlicht Abwechslung suchen. Man könnte dies als die Nachfrage- oder Konsumationsthese bezeichnen, eine These, die sozialwissenschaftlich einigermaßen gut belegt ist (Kohli, Dippelhofer-Stiem & Pommerehne 1976, S. 364). Eine andere These setzt beim Angebot bzw. der Produktion von Filmen an. Sie besagt im Wesentlichen: Durch die Tertiärisierung des Arbeitsmarktes ist Arbeit an sich filmisch immer uninteressanter geworden. Durch den Rückgang von Industriearbeit und landwirtschaftlicher Arbeit verschwinden zum einen "anschauliche" Motive, zum anderen aber auch Identifikationsmöglichkeiten, da immer weniger Zuseher*innen in diesen Sektoren beschäftigt sind. Wenn Charlie Chaplin in Modern Times (US 1936) so grandios veranschaulicht, was es bedeutet, als einfacher Arbeiter in die Räder der Maschine zu kommen, schafft er so ein Sinnbild des Fordismus zu einer Zeit, als tatsächlich noch Massen von Fabriksarbeiter*innen die Kinos aufsuchten und ihre Betroffenheit teilen konnten.
Im Postfordismus wurden die Massen der Handarbeiter*innen von den Heerscharen der Wissensarbeiter*innen abgelöst. Leider filmisch frustrierend, lautet eine gängige Beobachtung, denn das Bedienen eines Computers und die Abhaltung einer (Online-)Besprechung in nüchternen Büroräumen liefere ästhetisch reichlich dürftiges Filmmaterial. Da postfordistische Arbeit im Kern unsichtbar wäre, würde die Arbeit zunehmend aus dem Film verschwinden. Dies ist die Ausgangsthese, bei der Christoph Büttners Buch Postfordistische Fragmente. Filmische Arbeitswelten und Repräsentationen des Sozialen ansetzt und mit der er auf 350 Seiten gründlich aufräumt: Weder verschwindet die Arbeit, noch ihr filmisches Pendant. Arbeitsformen und damit einhergehende Formen der Entgrenzung und Entfremdung sind schlicht vielschichtiger geworden und auch der filmische Diskurs dazu.
Er bedient sich hierzu eines Korpus deutschsprachiger Spielfilme und künstlerischer Dokumentarfilme von etwa 1995 bis 2016 sowie einer ausführlichen theoretischen Exploration des Verhältnisses von Film und postfordistischer Arbeit. Zu den bekannteren Filmen, die Büttner im Detail interpretiert, zählen im Dokumentarbereich Work Hard Play Hard (DE 2012, Carmen Losmann) und im Bereich Spielfilm Toni Erdmann (DE/AT 2016, Maren Ade). Daneben widmet er auch dem jüngeren Œuvre von Harun Farocki, dessen Interesse zeitlebens der filmischen Analyse der gesellschaftlichen Rolle und Transformation von Arbeit galt, große Aufmerksamkeit.
Das Buch gliedert sich in drei Teile, wobei der erste und umfangreichste Teil der Klärung des Begriffs Postfordismus sowie der theoretischen Fundierung der Repräsentation des Sozialen gewidmet ist. Der zweite und kürzeste Teil beschäftigt sich mit filmischen Verfahren der Repräsentation und führt aus, wie etwa durch die filmischen Inszenierungen von Raum oder Sprache Entgrenzungen postfordistischer Arbeit nachgezeichnet werden. So zeigt Büttner am Beispiel von Zeit der Kannibalen (DE 2014, Johannes Naber) wie sich die globalisierte Welt der Unternehmensberater*innen in immergleichen Hotelzimmern von der "Außenwelt" abschottet; und am Beispiel von Ein neues Produkt (DE 2012, Harun Farocki), wie Filme Kritik an der Leere und Formelhaftigkeit von Wirtschaftssprache üben. Ganz grundsätzlich konstatiert Büttner, dass in den von ihm untersuchten Filmen fast durchgängig geredet wird (S. 149). Konsequenterweise wird im dritten Teil des Buches, der Sujets postfordistischer Arbeit nachspürt, die filmische "Besprechung" ausführlich behandelt.
Die "meetingization of society" ist zweifelsohne ein herausstechendes Merkmal postfordistischer Arbeit und die "Besprechung" zieht sich folglich etwa auch als roter Faden durch das jüngere Werk von Farocki, wie Büttner herausarbeitet. Als weiteres Beispiel filmischer Sprachkritik dient ihm Stefan Landorfs Dokumentarfilm Besprechung (DE 2009) – der Titel ist Programm. Das zweite große Thema des dritten Buchabschnitts bildet die Ökonomisierung des Sozialen, die Büttner in der räumlichen, zeitlichen und persönlichen Entgrenzung von Arbeit verortet. Es gibt wohl kaum einen Spielfilm, der das Thema Entgrenzung in seiner ganzen Fülle besser ausbreitet als Toni Erdmann von Maren Ade und damit gleichzeitig zu einer ganz eigenen Komik findet. Bei der Art und Weise, wie Winfried (Peter Simonischek), verkleidet mit Anzug, Langhaarperücke und falschen Zähnen, als sein Alter Ego Toni Erdmann das Arbeitsmilieu seiner Tochter Ines (Sandra Hüller) aufmischt, bleibt einem häufig das Lachen im Hals stecken. Der Film thematisiert Entgrenzungen der Arbeitswelt, bildet aber selbst ein Beispiel für Entgrenzung, insofern er verschiedene Kategorien wie Milieustudie, Sozialdrama und Satire verbindet und gleichermaßen sprengt. Mag das Feuilleton die Gesellschaftskritik und affektive Wirkung des Films eingehend herausgestrichen haben, so lässt sich bei Büttner im Detail nachlesen, wie sich darin eine Analyse der repräsentierten Arbeitswelt mit einer Analyse filmischer Verfahren verbinden lässt.
Dass es hierzu einer ausgefeilten theoretischen Brille bedarf, steht außer Frage. Ob diese jedoch in der Komplexität, Tiefe und Ausführlichkeit, die Büttner anbietet, notwendig ist, sei dahingestellt. Die Theoriekapitel sind anspruchsvoll, zumal sie Filmwissenschaft, Soziologie und Ökonomie zu verbinden suchen und in diesem Anspruch selbst fragmentarisch bleiben müssen. Als nicht im engeren Sinne filmwissenschaftlich "fachkundiger" Leser fand ich Büttners Buch streckenweise schwer zu lesen, da er zum Nominalstil neigt, sowie unterschiedliche Fachsprachen zusammenführt und in Ansätzen seine eigene entwickelt. Eine Art Zusammenfassung des ersten, theoretischen Teiles liest sich beispielsweise so: "Vorerst lässt sich für filmische Repräsentationen des Sozialen in vereinfachter Weise [sic!] jedoch festhalten: dass sie sich häufig der hypoikonischen Signifikation (vom Film solchermaßen postulierter) indexikalischer und symbolischer Verweise auf ein diegetisches Soziales bedienen; dass dieses diegetische Soziale zudem als homolog zu oder identisch mit einer außerfilmischen sozialen Wirklichkeit gelesen werden kann; sowie dass jene hypoikonischen Zeichen mit filmischen Verfahren im Verbund stehen, die […] eigene symbolische Ausdrucksweisen für ein diegetisches und außerdiegetisches Soziales ostendieren können." (S. 75)
Auf die filmwissenschaftliche Terminologie muss man sich einlassen, an den Stil gewöhnt man sich, und die erhöhte Aufmerksamkeit, die mir seine Ausdrucksform abverlangte, war letztlich dem Inhaltlichen nur förderlich. Begibt man sich einmal in die Begriffs- und Argumentationswelt von Büttner, bleibt man in ihr gefangen. Als ein an der Sache interessierter Leser konnte ich letztlich auch nicht umhin, den Lesefluss immer wieder zugunsten der ausführlichen Fußnoten, die auch den Ansprüchen von David Foster Wallace genügen würden, zu unterbrechen. Aber auch dafür wird man belohnt. So viele für unterschiedliche Zwecke brauchbare Literatur- und Filmverweise sind mir bei einer Fachlektüre lange nicht mehr untergekommen.
Büttners komplexe Argumentation ist der Aufgabe angemessen, nämlich den akademischen Diskurs zum Postfordismus, seine filmische Entsprechung sowie den gesamtgesellschaftlichen Diskurs gemeinsam zu analysieren. Weniger hilfreich aus meiner Sicht ist dabei sein Befund, dass es sich um jeweils fragmentierte Diskurse handelt und daher auch die Analyse fragmentiert bleiben müsse. Gerade aufgrund der Größe und Vielfältigkeit des Gegenstands wäre ein Weniger an Details und ein Mehr an Zusammenhang, Struktur und Kontur sowie ein Herausarbeiten der unterschiedlichen theoretischen Positionen geboten. So findet man zwar viele zweckdienliche Hinweise zum Postfordismus, aber eine Arbeitsdefinition des Begriffs sucht man vergeblich. Büttner analysiert ausgewählte Bruchstücke der Theorien (und der Filme) im Detail, er lässt uns aber im Unklaren, zu welchem größeren Ganzen sich diese zusammensetzen lassen. Vergleichbar mit einem Archäologen, der uns die Skizze der Amphore vorenthält, deren Scherben er uns beschreibt. Ein Einleitungskapitel, das relevante historische Brüche in Wirtschafts- und Filmgeschichte gleichermaßen in den Blick nimmt, hätte diesbezüglich vielleicht Abhilfe schaffen können.
Büttners Beschränkung auf Filme aus Deutschland ab dem Jahr 1995 ist für den Zweck einer Dissertation verständlich. Leider entgehen ihm damit aber auch Beispiele, die eine unmittelbare Verschränkung von Filmproduktion und Postfordismus illustrieren. So schrieb etwa der Medienkünstler Matthias Kispert in seinem bemerkenswerten Projekt Workers leaving the cloud factory (UK 2017) über Amazon Mechanical Turk Mikrojobs zu je einem Dollar aus, für die Arbeiter*innen, in Anspielung auf Lumières La Sortie de l'Usine Lumière à Lyon (FR 1895), sich beim Verlassen ihres Arbeitsplatzes filmen sollen. Die Nachteile des eingeschränkten Filmkorpus sind Büttner aber offensichtlich bewusst, denn an manchen Stellen bewegt er sich selbst aus dem eigenen Korsett, etwa wenn er Workers Leaving the Googleplex (US 2011, Andrew Norman Wilson) bespricht. An diesen Stellen wünscht man sich eine Erweiterung bzw. Fortsetzung des Bandes, in der auch jüngere, explizit den Postfordismus thematisierende Filme erörtert würden, wie etwa der Dokumentarfilm The Gig Is Up (US 2021, Shannon Walsh). Gerne würde ich Büttners analytische Virtuosität auch an der derzeit wohl interessantesten Filmparabel zur modernen Arbeitswelt erleben dürfen, nämlich Stéphane Brizés "Trilogie der Arbeit" (La Loi du marché, FR 2015; En guerre, FR 2018; Un autre monde, FR 2021).
Trotz der beschriebenen Abstriche ist Christoph Büttners Buch Postfordistische Fragmente die seit Jahren mit Abstand profundeste deutschsprachige Monographie zum Thema "Arbeit im Film" und wird dies, berücksichtigt man den ungeheuren Aufwand, den Büttner offensichtlich in dieses Werk steckte, vermutlich auch noch lange bleiben. Nachdem dieses Thema jahrzehntelang weitgehend vernachlässigte wurde, gibt Büttners Buch gemeinsam mit rezenten englischsprachigen Veröffentlichungen (siehe etwa Zaniello 2020 oder Sticchi 2021) Hoffnung, dass dem Thema künftig mehr Aufmerksamkeit zukommt. Der gesellschaftliche Bedarf dafür ist jedenfalls gegeben.
Quellen:
Kohli, Martin/Dippelhofer-Stiem, Barbara/Pommerehne, Barbara: "Arbeiter sehen 'Arbeiterfilme'". In: Leviathan 4/3, 1976, S. 328–367.
Sticchi, Francesco: Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/Extinction. Cham: Palgrave Macmillan 2021.
Zaniello, Tom: The cinema of the precariat: The exploited, underemployed, and temp workers of the world. New York: Bloomsbury Publishing 2020.
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