Henrike Kohpeiß: Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität.

Frankfurt: Campus 2023. ISBN: 978-3-59351-710-0. 406 Seiten, 30,00 €.

Autor/innen

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2024-1-10

Abstract

Henrike Kohpeiß' Monografie Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität befragt die affektive Struktur, durch die sich die gegenwärtige Subjektivität westlicher Gesellschaften konstatiert und erhält. Diese Sozialtechnik, die ein rationales europäisches Selbst in Abgrenzung zu einem irrationalen, kolonialisierten Anderen imaginiert, nennt Kohpeiß "Bürgerliche Kälte". (S. 10) Demaskiert werden im Zuge ihrer Monografie verschiedene Gestalten Bürgerlicher Kälte, die als staats- und kapitalismustragende Lebensform (S. 12) mittels affektiver und ästhetischer Strategien koloniale Strukturen aufrechterhalten. (S.12f)

Kohpeiß dekonstruiert die Bürgerliche Kälte im Laufe dreier Meeresschauplätze: "Die Ägäis" (S. 29-84), "Das Mittelmeer" (S. 85-242) und "Der Atlantik" (S. 243-248). In einer kurzen Einleitung ("Das Selbst und das Meer") stellt sie das Meer als den historischen und metaphorischen Aushandlungsort von philosophischen Konzepten des Selbst vor dem Hintergrund kolonialer Gewalt vor. Die Philosophie, die maßgeblich an der rassifizierten Konstruktion des aufgeklärten, mündigen Selbst beteiligt war und ist, fordert Kohpeiß auf, "die philosophisch gestützte Negation des Selbst, unter der die Versklavten lebten, zum Ausgangspunkt einer Theorie kolonialer Subjektivität zu machen, die sich von der von Fanon kritisierten bürgerlichen Logik und Ethik zu lösen vermag" (S.15). Die Kritische Theorie, insbesondere Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Analysen des bürgerlichen Subjekts in Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, sollen um Diagnosen vornehmlich gegenwärtiger Vertreter*innen der Black Studies wie u. a. Fred Moten, Saidiya Hartman und Brenna Bhandar ergänzt werden. Dadurch erhalten die Thesen Adornos und Horkheimers nicht nur eine dekoloniale Ausrichtung, sondern werden selbst auf ihr "kolonial Unbewusstes" geprüft. (S. 17) Davon ausgehend erarbeitet Kohpeiß Vorschläge, wie Philosophie über die Schnittstellen zwischen Kritischer Theorie und den Black Studies in etwas zu übertragen ist, das nicht die vorhandenen kolonialen Ordnungen reproduziert. (S. 28)

Zunächst führt Kohpeiß uns in "Die Ägäis" (S. 29-84) in das bürgerliche Subjektmodell der Aufklärung ein. Argumentativ stützt sich die Autorin auf die in Dialektik der Aufklärung formulierte These, dass das bürgerliche Subjekt bereits in den Eigenschaften der griechischen Heldenfigur Odysseus aus Homers Odyssee skizziert ist. Die List Odysseus' wird von Adorno und Horkheimer als Selbstermächtigung eines proto-bürgerlichen, kapitalistischen Subjekts übersetzt. (S. 80) Darüber hinaus verweist Kohpeiß auf die Parallele zwischen den narrativen Elementen der Odyssee und der kolonialen Erzählung von Christoph Kolumbus "Entdeckung" der karibischen Inseln im Jahr 1492. (S. 50ff) Kohpeiß' enge Lesart von Homers Odyssee in der Verlängerung Adornos und Horkheimers handelt meines Erachtens das ein oder andere Argument zu schnell ab, wodurch beim Lesen einige Fragen aufkommen: Wie verhält es sich zum Beispiel mit Odysseus' List als Merkmal aufklärerischer Überwindung und Beherrschung der Natur im Kontrast zu göttlicher List? Immerhin agiert in den antiken Mythen nicht nur Odysseus mit Schläue und Vermummung, sondern auch die Götter selbst. Und kann Athene, die als Odysseus' Beschützerin auftritt, in dieser Quelle bürgerlichen Selbstbestimmtheit einfach unterschlagen werden? Adorno und Horkheimer ziehen zwar eine platonische (vgl. Adorno/Horkheimer 2019, S. 12) Trennlinie entlang der Rivalität zwischen Poseidon und dem Olymp (vgl. Adorno/Horkheimer 2019, S. 57), diese geht allerdings bei Kohpeiß etwas unter. Dafür richtet die Autorin gekonnt die Aufmerksamkeit auf das, was die individualistische Heldenerzählung mit erzählt und was dabei unerzählt bleibt: Das selbstbestimmte Subjekt rastet auf der Dämonisierung Anderer, wie im Falle der Kikonen (S. 40), auf der unbesungenen Arbeit Unterworfener, wie der Mannschaft Odysseus (S. 83), auf vergeschlechtlichter Reproduktionsarbeit, wie der von Penelope, und auf Beherrschung weiblicher* Sexualität bei der Ermordung der Mägde im Zuge der Rückeroberung des bürgerlichen Heims (S. 81f).

Im nächsten Abschnitt wird der Blick auf das ägäische Meer ausgeweitet auf "Das Mittelmeer" (S. 85-242). Hier wird die spezifische Affektkonstellation der europäischen Gegenwart anhand der Migrations- und Flüchtlingspolitik Europas und ihrer tödlichen Konsequenzen auf den Mittelmeer-Routen beleuchtet. Kohpeiß verweist u. a. auf Diskurse rundum die Kapitänin Carola Rackete und der Crew der Sea Watch 3, die 2019 53 Menschen rettete und von der Zentrale der italienischen Seenotrettung am Anlegen gehindert wurde. (S. 109-113) Sie argumentiert, dass moralische Empörung und sinnliche Ignoranz nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern beides Seiten der bürgerlichen Kälte darstellt: Die Bewunderung für Racketes moralisch lesbares Handeln wird nicht in das Ende der gewalttätig trennenden Subjektivierungslogik von europäischen Bürger*innen und ihren Anderen überführt. (S. 88) Stattdessen beobachtet die Autorin, wie Diskurse der Selbstkritik das bürgerliche Subjekt von der Härte der europäischen Ausschließungsmechanismen und des Leids der Geflüchteten entlasten: "Bürgerlichkeit wird, wenn sie auf die progressive Kraft der von ihr proklamierten Ideale den Zugriff verliert, zu bürgerlicher Kälte" (S. 185), die, als affektive Sozialtechnik (S. 187), die "hegemoniale Position [des Bürgertums] und den Fortbestand des Status quo [sichert]" (S. 242).

Im dritten Teil, "Der Atlantik" (S. 243-348), werden mit Hilfe der Black Studies die kolonialen Dichotomien von Besitzenden und Besitz im postkolonialen US-amerikanischen Kontext offengelegt. Ein Schauplatz ist Motens Kritik an Hannah Arendts Kommentar zu den rassistischen Aufständen gegen Maßnahmen der Desegregation, die es 1957 neun afroamerikanischen Schüler*innen erlaubte, die Little Rock Central High School zu besuchen. (S. 298f) Ein Foto, das eine der Teenager*innen, Elizabeth Eckford, umringt von weißen Wutbürger*innen zeigt, bildet den medialen Raum, in dem Arendt und Moten die Un-/Möglichkeit der Teilhabe an Sozialität und Politik verhandeln. Mit Moten konstatiert Kohpeiß in der harten Trennung Arendts zwischen dem Privaten und Politischen eine politische Kälte (S. 306f), die einen vernuftsbegründeten Aufschub der Emanzipation im Dienste einer bürgerlichen Anteilnahme an der politischen Sphäre vertritt. (S. 314) Eine Einordnung von Arendts Konflikten mit der Frankfurter Schule und Fred Motens eigene Situierung in der Kritischen Theorie hätten noch ausführlicher diskutiert werden können. Des Weiteren fiel auf, dass zwischen der Diskussion Arendts, Motens, Kohpeiß' und der Mitschülerin Melba P. Beals, Eckford selbst (trotz zur Verfügung stehenden Interviewmaterials) nicht zu Wort gekommen ist. Die ansonsten sehr ergiebige Besprechung der nonperformance Eckfords (S. 310) kontextualisiert Kohpeiß in Bezug zu anderen Schauplätzen "verunmöglichter Autonomie" (S. 250) und schließt daraus mit Hartman, dass durch die lange intime Geschichte zwischen Freiheit und Knechtschaft das Denken über bürgerliche Freiheit ohne Unterwerfung nicht möglich ist. (S. 341) Es brauche also eine Subjekttheorie, die Freiheit und Unterdrückung zusammendenkt – nicht um Herrschende und Unterdrückte essentialistisch voneinander zu trennen, sondern um das Konzept bürgerlicher Freiheit zu denaturalisieren. (S. 347f) Dies ist das Projekt, das Kohpeiß in Adornos und Horkheimers Arbeit begonnen und in den Black Studies um das Offenlegen der kolonialen Dimension des humanistischen Subjekts ergänzt sieht. (S. 348)

In einem abschließenden Kapitel mit dem Titel "Die Ozeanische Philosophie" (S. 349-378) entwirft Kohpeiß eine Aussicht: Wenn sich die ontologischen Gewissheiten des westlichen Denkens als koloniale Instrumente entpuppen, dann braucht es der Autorin zufolge eine philosophische Zerstörung dieser gewaltvollen Gewissheiten. (S. 371) An ihre Stelle könnte eine "Ethik der Unlesbarkeit" treten, die die "eigene Einschreibung in die symbolische und affektive koloniale Ordnung an[nimmt], und gleichzeitig [weiß], dass wir uns nie restlos darin erkennen können." (S. 377f) 

Kohpeiß Unterfangen, der affektiven Struktur Bürgerlicher Kälte als (proto)koloniale Technik des bürgerlichen Selbsterhalts nachzugehen, öffnet neben einer philosophischen Befragung des humanistisch entworfenen Selbst auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit produktiven Schnittstellen zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und den hier vornehmlich US-amerikanischen Black Studies. Was dabei allerdings ein wenig untergeht, ist das historische Verhältnis der jeweiligen Vertreter*innen zueinander: Es bleibt im Großen und Ganzen bei der Besprechung Adornos und Horkheimers durch die Brille der Black Studies und geht weniger auf aktuelle Beiträge der Kritischen Theorie ein. Auch hat der wirkungsvolle konzeptionelle Aufbau des Werks mit Bezug zu verschiedenen geografischen Bezugspunkten des Meeres die Erwartungshaltung geweckt, eine noch intensivere Auseinandersetzung mit Sharpes einschlägigem Werk zu Anti-Schwarzen Affektkonstellationen, In the Wake. On Blackness and Being (2016), zu erfahren. Darüber hinaus steht der erste Teil ein wenig abseits der zwei folgenden Kapitel und wird auch nicht mehr richtig aufgegriffen, sobald er abgehandelt ist. Dafür stechen der zweite und dritte Teil durch eine dichte Theoriearbeit hervor. Insbesondere die Beleuchtung von Europas Flüchtlingspolitik und die komplexen affektiven Strategien, die als Bürgerliche Kälte zutage treten, bieten einen wichtigen Beitrag zum Begreifen der Wirkweisen eines rassifizierten humanistischen Subjektbegriffs. Kohpeiß Aufruf zu einer Ethik der Unlesbarkeit lohnt es zu folgen – nicht nur in der Philosophie.

Literatur:

Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [Orig.: 1947]. Frankfurt a. M.: Fischer 2019 [24. Aufl.].

Sharpe, Christina: In the Wake. On Blackness and Being. Durham: Duke U. P. 2016.

Autor/innen-Biografie

Olivia Poppe, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Kulturgeschichte audiovisueller Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Sie hat die Studien Musikerziehung und Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit Auszeichnung abgeschlossen. Ihre Masterarbeit zur dekolonialen Zeugschaft der mediatisierten Stimme erhielt den Würdigungspreis des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Interessenschwerpunkte sind intersektionale Fragen an der Schnittstelle von Gesellschaft, Geschichte und Kultur. Im Rahmen ihrer Promotion forscht Olivia Poppe zu Konzepten der Heimsuchung aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive.

Publikationen

Poppe, Olivia: "Lauren Berlant: On the Inconvenience of Other People ". In: rezens.tfm 2023/1. https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-13.

Poppe, Olivia: "Phonographische Phantome: Eine hauntologische Befragung von mediatisierter Zeugschaft und dekolonialer Verantwortung anhand von The Halfmoon Files. A Ghost Story ". In: Journal Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium 7/8, 2023, S. 170-185. https://doi.org/10.25969/mediarep/19390.

Poppe, Olivia: "Bewegte Strategien: Zur queeren Medialität von Demo- und Paradewagen". In: Pride: Mediale Prozesse unter dem Regenbogen. Hg. von Stefan Schweigler/Christina Ernst/Georg Vogt, Wien/Groß-Enzersdorf: Lumen 2022, S. 113-122. https://doi.org/10.25365/phaidra.267_08.

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Veröffentlicht

2024-05-15

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