Thomas Nolte: Spielformen des Komischen. Das Unterhaltungstheater des 19. Jahrhunderts in Wien und Paris.

Göttingen: Wallstein 2023. ISBN: 978-3-8353-9156-7. 372 Seiten, 35,00 €.

Autor/innen

  • Lisa Niederwimmer

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-03

Abstract

Durch die Privilegierung institutionsgeschichtlicher Perspektiven habe die bisherige Forschung zum Unterhaltungstheater des 19. Jahrhunderts den Theatertexten selbst verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dies kritisiert der Germanist Thomas Nolte und macht es sich zur Aufgabe, sich in seiner 2021 verteidigten (Eberhard Karls Universität Tübingen) und 2023 publizierten Dissertation mit den titelgebenden Spielformen des Komischen im österreichischen und französischen Unterhaltungstheater auseinanderzusetzen. Auf gut 370 Seiten spannt der Verfasser mit hermeneutischen Textanalysen, die von historischen wie theoretischen Kontextualisierungen begleitet werden, einen Bogen von Zauberspielen Ferdinand Raimunds, über Possen Johann Nestroys, zu Vaudevilles Eugène Labiches und Georges Feydeaus. Dabei geht es ihm nicht darum, Wechselwirkungen zwischen Frankreich und Österreich aufzuzeigen, sondern seine Aufmerksamkeit gilt dem scheinbar Trivialen.

Nolte interessiert sich für die in den Theaterstücken vorkommenden Alltagsgegenstände und Praktiken, die ihm als Einstieg dienen und seine detaillierten Analysen strukturieren. Diese zielen im Wesentlichen darauf ab, Formen und Funktionen des Komischen sowie deren politische Dimensionen herauszuarbeiten. Mit einem Auge für Details nähert sich der belesene Autor elf, zumeist kanonischen Theatertexten, die am Wiener Burgtheater, bei den Salzburger Festspielen oder auf französischen Nationaltheatern wie der Comédie-Française und dem Théâtre de l'Odéon noch im 21. Jahrhundert gespielt werden; was für Nolte allerdings nicht relevant ist, denn ihm ist es ein Anliegen, die Texte "in ihrer eigenen Zeit [zu] verorte[n]" (S. 9). Und dieses Ansinnen vollzieht er in beeindruckender Genauigkeit: In seinen close readings greift er über alltägliche Dinge (Geld, Hut, Spiegel, Regenschirm) sowie Praktiken, Diskurse oder Phänomene (Gewinnspiel, Rechtschreibreform, Kometenangst) auf die Theatertexte zu und sucht zu klären, wie diese "Gegenstände und Praktiken die Darstellungsverfahren der Texte bestimmen" (S. 17).

"Das Komische ist […] dazu prädestiniert" (S. 13), politische Umbrüche und die im 19. Jahrhundert eingeleiteten Demokratisierungsprozesse zu veranschaulichen. Nolte hat sich entschieden, diesen Prozessen in chronologischer Reihenfolge – sowie dementsprechender geografischer Trennung – anhand von vier für ihre Zeit repräsentativen Komödiendichtern nachzugehen. Er teilt die Arbeit konsequenterweise in zwei eigenständige Abschnitte: Der erste Teil, "Das Theater der Wiener Vorstadt", behandelt österreichisches Populärtheater in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im zweiten Teil, "Die Kunst des Quiproquos im Pariser Vaudeville", wendet sich der Autor dem französischen Theater von 1850 bis zur Jahrhundertwende zu. Obwohl beide Teile vom gleichen Erkenntnisinteresse geleitet sind, muss die Lektüre nicht chronologisch erfolgen – beide funktionieren unabhängig voneinander als Studien zu Wien und Paris. Innerhalb dieser Studien entwickelt er jeweils seine Argumentation im Hinblick auf Entwicklungen von und Zusammenhängen zwischen dem Komischen und Politischen.

Mit Raimund und Nestroy stehen im ersten Teil zwei der bekanntesten österreichischen Dramatiker im Zentrum. Anhand des Zaubermärchens Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär (1826) und des Zauberspiels Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) demonstriert Nolte, wie die von der Aufklärung verdrängte Komik bei Raimund wieder ihren Weg auf die Bühne fand. Dabei unterlag die Komik, die eng an Körperlichkeit und "niedere" Bevölkerungsschichten gekoppelt war, am Ende der Stücke einer Disziplinierung. So geht Nolte bei seiner Lektüre von Der Alpenkönig und der Menschenfeind der Trias Komik – Körperlichkeit – Disziplinierung nach und zeigt unter anderem anhand der Regieanweisungen das komische Potenzial der Wutausbrüche des Menschenfeinds auf, von denen dieser letztlich geheilt wird, wodurch auch die Komik eine Disziplinierung erfährt. Nestroys Komik hingegen war von dieser Kontrolle bereits befreit, sie unterlag anderen Regeln und konnte durch satirische Mittel "entfesselt" (S. 167) werden. Diese Befreiung äußert sich im klein- bis unterbürgerlichen Figurenpersonal. Musste dieses bei Raimund noch gebändigt werden, so konnten die Figuren bei Nestroy ihr komisches Potenzial ohne die gattungstypologisch bedingte Kontrolle der Feenwelt entfalten.

Im zweiten Teil widmet sich Nolte zwei populären Vertretern des Genres des Vaudevilles, Labiche und Feydeau, wobei er das Quiproquo als Technik des Komischen im Zusammenhang mit der im 19. Jahrhundert vollzogenen Trennung der Sphären des Privaten und Öffentlichen denkt. Dabei wird deutlich, dass die Verwechslung als Stilmittel bei Labiche noch der Stabilisierung dieser Ordnung diente (so z. B. in Un chapeau de paille d'Italie, 1851). Parallel zum Bedeutungsverlust des Mittels, wie Nolte anhand von Komödien und Einaktern von Feydeau zeigt (u. a. La Dame de chez Maxim, 1899), verlor auch die reale Trennung der Sphären an Gewicht.

Obwohl nun diese Ordnung insbesondere den zweiten Teil der Arbeit strukturiert, wird der immanente Bezug zu den vom Bürgertum vertretenen, naturalisierten und verwissenschaftlichen Geschlechterrollen, die Männern die Sphäre des Öffentlichen (Aktivität) und Frauen jene des Privaten (Passivität) zugeordnet hat, lediglich am Rande erwähnt. Dabei müsste eine Reflexion und Problematisierung der überproportionalen Aktivität männlicher Akteure – Autoren wie auch Figuren – nicht notwendigerweise in einem feministischen Ansatz begründet liegen: Die Alltäglichkeit männlicher Dominanz und Hegemonie im Theater des 19. Jahrhunderts könnte vielmehr aus der von Nolte verfolgten "Aufmerksamkeit für alltägliche Gegenstände und Praktiken" (S. 10) in den Blick rücken.

Eine Stärke der Arbeit liegt darin, dass der Autor kulturwissenschaftlich und historisch informierte Lektüren vorlegt und darin immer wieder an etablierte Lesarten anschließt, indem er sie mit Fokus auf Formen und Funktionen des Komischen weiterdenkt, erweitert, revidiert oder kritisiert. In der Auseinandersetzung mit Nestroys Freiheit in Krähwinkel (1848) geht er in einem Unterkapitel (2.3.2) nicht der oft besprochenen Frage nach der Haltung des Dramatikers zur Revolution in der Posse nach, sondern zeigt anhand von Illustrationen den Einfluss der enormen Bilderflut des Jahres 1848 auf den Theatertext. Im Fall von Labiches La grammaire (1867) liest Nolte keine Kritik am allgemeinen Wahlrecht, das inkompetente Politiker in ein Amt heben kann (wie die Lesart von François Cavaignac, vgl. S. 244). Vielmehr zeigt er auf, dass die mangelnde Schreibkompetenz des Protagonisten – der sich für ein politisches Amt interessiert und aufgrund seiner "charakterlichen Integrität" (S. 247) durchaus dafür geeignet sei – auf die Rechtschreibreform anspiele, über die parallel zur Entstehungszeit des Stücks in Frankreich diskutiert wurde.

Etwas zu rasch abgehandelt wird in diesem Zusammenhang die Funktion der Tochter des Protagonisten, die dessen Texte verschriftlicht und damit einen nicht unwesentlichen Anteil an dem Erfolg ihres Vaters hat. Dabei hätte Nolte mit den Feststellungen, dass der Name der Tochter, Blanche, "auf ihre Transparenz [verweist], die sie zur reinen Vermittlung prädestiniert" (S. 250) – oder wie er mit Bezug auf Derrida formuliert: der "Angewiesenheit des Primären auf das Sekundäre" (S. 251) – bereits den Weg für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Topos der im Hintergrund dem Mann zuarbeitenden weiblichen Figur geebnet. Ein weiterer Anschlusspunkt hätte sich im folgenden Unterkapitel geboten, in dem er das "erhebliche Machtpotential" (S. 260) der Tochter betont. Feststellungen wie diese, die auf dem Theater inhärente patriarchale Machtstrukturen verweisen, wären ausbaufähig gewesen und hätten die Lesart um eine politische Dimension bereichern können.

Nichtsdestotrotz bietet das Buch Spielformen des Komischen für ein historisch und literaturwissenschaftlich interessiertes Publikum eine anregende Lektüre und anschlussfähige Perspektiven an. So denkt Nolte in den auf Textebene analysierten Formen und Funktionen von Komik die dafür essenzielle Ebene der Körperlichkeit immer wieder mit, verbleibt jedoch dem literaturwissenschaftlichen Ansatz entsprechend beim schriftlich fixierten Theatertext. Eine fruchtbare Erweiterung könnte hier eine theaterwissenschaftliche Perspektive bieten, aus der die Körperlichkeit theatraler Darstellungsformen in den Blick gerät.

Autor/innen-Biografie

Lisa Niederwimmer

Seit 2020 als Universitätsassitentin (PraeDoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Zuvor war sie als freie Regieassistentin und Dramaturgin im Theaterbereich tätig. Forschungsinteressen: Theatergeschichte/n des 19. Jahrhunderts, Institutionskritik, Macht und (deren) Missbrauch im Theaterkontext in historischer und aktueller Perspektive.

Publikationen:

– "'Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben!' Konstruktionen von Gemeinschaft in Carl Elmars Liebe zum Volke (1850)". In: Forum Modernes Theater, 2024 (im Peer-Review).

– "'[Z]um lachen gibt's nix, wenn ma a lustig's Stück schreibt!' Über den 'Volksdichter' Carl Costa". In: Nestroyana 41/1–2, 2021, S. 26–38.

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Veröffentlicht

2023-11-16

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Rubrik

Theater