McKenzie Wark: Raven.
Leipzig: Merve 2024. ISBN: 978-3-96273-061-1. 192 Seiten, 18,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2024-2-05Abstract
Wie schreibt man eine Kritik über einen Rave? Folgt man dem Selbstanspruch der australischen queer/en Theoretikerin McKenzie Wark, hat sie nämlich kein Buch geschrieben, dass erst verschiedene Raves dokumentiert und dann darüber kulturtheoretisch & medienwissenschaftlich reflektiert, sondern eines, dass das Raven selbst praktiziert. Die inzwischen vorliegende Übersetzung im Merve Verlag ließ nicht ganz ein Jahr auf sich warten, nachdem 2023 das englische Original Raving bei Duke in einer Reihe namens Practices neben Titeln zum Fliegenfischen, Jonglieren und Rennen erschienen war, die laut Duke in einer Sache verbunden sind: "They are by and about amateurs in the original sense – those who engage in pursuits out of sheer love and fascination." (Duke 2022) Warks Buch kann durchaus als eine solche Liebeserklärung an ihre Rave-Praxis in Brooklyn gelesen werden und erweitert dennoch den Anspruch der Reihe. Statt die unschuldige Liebhaberei eines Hobbies zu zelebrieren, begreift Wark das ausdauernde Tanzen zu Technomusik in verlassenen Lagerhallen und leerstehenden Bürogebäuden als weiße Aneignung kultureller Praxen und Ästhetiken des schwarzen nicht-nur ökonomischen Überlebenskampfes im Detroit der späten 1980er Jahre. Wenngleich selbst teilnehmend an dieser Aneignung, versteht auch Wark als trans*-Person ihr eigenes Raven in einer Genealogie mit diesen Praktiken: "Mein Interesse gilt daher einer spezifischen Konstellation von Bedürfnissen und einem gewissen Personenkreis, für die der Rave selbst das Bedürfnis darstellt." (S. 16)
Raven wird hier zu einem Schmelztiegel von politischer Organisation und politischen Kämpfen, womit Wark Teil einer aktuellen Tendenz ist, über das Nachtleben als eskapistischen Exzess hinaus nachzudenken. Beispielsweise erschreibt sich Wark jene Raves, die sie in der Vergangenheit besucht hatte, als notwendige Möglichkeitsräume für queere Bedürfnisse nach Intimität und Gemeinschaft. Das sei besonders während der COVID-Lockdowns deutlich geworden, deren Isolation in einer patriarchal organisierten und auf ökonomische Stetigkeit und Unabhängigkeit ausgelegten Häuslichkeit neben der Virusgefahr einer zusätzlichen "Isolationsgefahr" (S. 52) für viele Queer- und trans*-Personen gleichkam. Insbesondere, wenn deren ökonomische wie affektive Existenz sich eher aus einem dezentralen Nachtleben als einem stetigen Büro-All-Tag speiste. Mit solchen intersektionalen Reflexionen zwischen Theorie und Praxis des Ravens ist Wark aktuell nicht allein, sie werden zunehmend auch im deutschsprachigen Raum (und teilweise in Rückbezug auf Wark) angestellt. Mit dem Projekt NIGHT(S)-Science ruft die Vienna Club Commission beispielsweise zu akademischen Beiträgen auf, die auf der im Oktober 2024 in Wien erstmals stattfindenden Konferenz für Clubkultur diskutiert werden sollen (vgl. Vienna Club Commission 2024). Auch die Medien- und Musikwissenschaftlerin Maren Haffke hat sich am Beispiel des Berliner Clubsterbens dem prekären Befinden des queeren Ravens gewidmet – und bezieht sich dabei direkt auf Raving von 2023. Damit tourte Wark bereits zuvor in Europa, beispielsweise mit einer Public Lecture beim Rakete Festival im Tanzquartier Wien. Ohne expliziten Bezug äußerte sich auch die Politikwissenschaftlerin Verena Kettner 2024 im feministischen Magazin an.schläge zur Frage: "Sind queere Partys noch subversiv?". In dieser Diskurslandschaft dürfte sich Raven großen Interesses erfreuen.
Diskussionswürdig ist allerdings, wortwörtlich, in welcher Form dieses Interesse bedient werden kann. Die Übersetzung hat Joannie Baumgärtner übernommen, welche*r selbst Erfahrungen mit artistic reseach hat und die Eigenheiten von Warks Schreiben zugänglich übersetzt. Denn Raven ist auch eine methodologische Versuchsanordnung: "Wie aber schreibt man ein Buch über Praktiken des Ravens, das selbst das Raven praktiziert??“ (S. 92) Diese Frage steht für Wark in engem Zusammenhang mit den Aneignungs-Dynamiken, die dem Raven als Spielform von widerständiger Subkultur inhärent sind. Improvisierte Ästhetiken prekarisierter Existenzen sind bei Wark immer schon im Begriff, einer Gentrifizierung der Stile, der sozialen Praktiken und der tatsächlichen Orte zum Opfer zu fallen. Als pessimistische Marxistin sieht sie aus diesem Kreislauf keinen Ausweg und auch ihre eigene Schreibpraxis sieht sie als Teil dieser Dynamik. Dementgegen setzt Wark die Mittel der Fiktionalisierung und der Situierung. Ihre Methode nennt sie eine Mischung aus Autotheorie und Autofiktion, wobei sie ihre Rave-Erfahrungen zu einem bewusst unbestimmten Grad fiktionalisiert und aus diesen Beschreibungen Begriffe entstehen lässt. Das Ergebnis ist ein 18-teiliges Glossar, das sich beispielsweise so liest (zum Begriff): "Der Fakt ist eine Note, der Begriff ein Akkord. Manchmal nehmen sie Sondierungen vor, Resonante Abstraktionen" (S. 161, Herv. i. O.). Die Kursivsetzung verweist auf einen je weiteren Eintrag im Glossar. Dabei fordert Wark explizit dazu auf, sich auch eigene Begriffe zu erschaffen; selbst zu sondieren.
Denn für Wark ist das Raven kein Heilsversprechen. Zwar inzwischen für viele zugänglich, aber immer gebunden an eine Situierung. Sich selbst bezichtigt Wark zum Beispiel auch als "Coworkerïn" (S. 161). Ein scharfzüngiger Begriff (unter vielen), der im Glossar landet, um gutverdienende Wochenend-Raverïnnen zu bezeichnen, die die erratischen, improvisierten Ästhetiken vor allem queerer, schwarzer und trans*-Raverïnnen teilnahmslos und ausschließlich zum Vergnügen konsumieren. Das Vergnügen, dem Wark dieses Buch allerdings stattdessen widmet, ist die Dissoziation. "Transpersonen sind nicht die einzigen, die dissoziieren – doch wir tendieren dazu, es besser als andere zu machen. Wir gehören zu den Leuten, die sich weder in einem Körper noch in der Welt wohlfühlen." (S. 26) Weiter auf Seite 63: "Aber die Welt ist kaputt. Sogar noch kaputter als unsere verwanzte Psyche. Vielleicht kann dissoziieren auch 'resoziieren' bedeuten." Nebst den methodologischen Raves, entwickelt Wark über weite Strecken eine lose Taxonomie ihrer eigenen Rave-Bedürfnisse: Xeno-Euphorie, Ravespace, Gelüste, weltgeschichtliche Dissoziation. Leider kommt diese selbsternannte "Ästhetik der Dissoziation" (S. 139) so klingend wie vage daher. Das liegt mitunter am essayistischen Charakter, bei dem sich Rave-Prosa, musiktechnologische Ausführungen und kulturtheoretische Aphorismen abwechseln und stellenweise beeindruckend bruchlos ineinanderfließen.
Das muss nicht zwingend eine Schwäche sein, denn Wark reflektiert in der ersten Fußnote: "Es gibt hier keine Buchrezensionen, weil das eine andere Art von Buch ist. Man denke sich diese Anmerkungen als sowas ähnliches. Oder als Leseliste. Oder als Momentaufnahmen meines Zimmers während unterschiedlicher Stadien dieser Arbeit" (S. 168) Der wissenschaftliche Anspruch im Sinne einer Nachverfolgbarkeit ist dadurch zwar offenkundig reduziert. Dennoch bleibt eine (nicht einmal ausschließlich) wissenschaftliche Lektüre maximal voraussetzungsvoll, wirft sie doch nur so mit ungenutzten Zusatz-Referenzen um sich.
In diesen Samples (so bezeichnet Wark an einer Stelle ihren Umgang mit Referenzen) offenbaren sich allerdings auch interessante Anschlussmöglichkeiten, insbesondere für die Medien- & Theaterwissenschaft. Beispielsweise argumentiert sie mit Referenz auf eine medienarchäologische Arbeit dafür, das spezifische Format, mit dem Raves in sozialen Medien angekündigt werden, in einer Traditionslinie mit dem urbanen und politisch motivierten Flugblatt-Gebrauch zu verstehen. Wie an vielen anderen Stellen führt Wark diese Anmerkungen aber (leider) nicht weiter aus und lässt sie vorzeitig im spekulativen Konjunktiv oder schlicht in einer Fußnote enden.
Den vielleicht spannendsten Anknüpfungspunkt hält Wark allerdings für die Theaterwissenschaft bereit, indem sie unter Rückgriff auf Guy Debord und das Konzept der konstruierten Situation ihre grundsätzliche Definition für die "Rave-Situation" (S. 28) findet. Wark knüpft hier an ihr Buch zur Situationistischen Internationalen an, einer kapitalismuskritischen Avantgarde-Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Debord maßgeblich mitgestaltet hatte (vgl. Wark 2008). In der Rave-Situation wie in der konstruierten Situation löst sich (im Idealfall) die Trennung zwischen Produzierenden & Konsumierenden auf. Der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund schreibt dazu, dass Kunst und Alltag damit ihre Trennschärfe verlieren und jenseits der Fänge des Spätkapitalismus bedürfnisgeleitet neu erprobt werden sollten: "Die angestrebte Transformation des täglichen Lebens wurde dabei verbunden mit der Erschaffung und Nutzung von Räumen, die dem Theater bisher fremd waren" (Siegmund 2020, S. 48ff). Gerald Siegmund hatte zuletzt einflussreich in seinem Junius-Einführungswerk zu Theater und Tanzperformances einen erweiterten Begriff der Situation als Vektor durch die jüngste Geschichte der aufführenden Künste brauchbar gemacht (Czirak 2022). Letztlich bleibt aber auch diese theoretische Einflechtung bei Wark nur im Ansatz und ohne kritische Reflexion begriffen. Eine Ausführung wäre sicher spannend!
Warks Beitrag zur Practices-Reihe sprudelt nur so vor spannenden Einfällen und klugen Überlegungen zu einer situierten Techno-Praxis und kann sicher als ausgiebiger Einstieg für eine zukünftige Auseinandersetzung mit dem Raven als medienkultur- & theaterwissenschaftliches Phänomen dienen. Als Standardwerk eignet es sich jedoch aufgrund der experimentierfreudigen Struktur nur eingeschränkt, liefert gerade darin aber ein schillerndes Modell für zeitgenössische künstlerische Forschung, die sich mit dem Gegenstand verwandt zu machen sucht.
Ein letzter bleibender Eindruck: Das erste der vielen Bilder, die das Buch durchsetzen, ist Warks silbern glitzernde Rave-Tasche. Darin trägt sie das Nötigste während eines Raves eng bei sich: ein Überwurf gegen Kälte, In-Ear-Gehörschutz und einige andere Dinge. Die Ähnlichkeit zum Taschenbuch (der Einband glitzert) ist sicher kein Zufall. Raven ist ein Essential für jeden Rave!
Quellen:
Czirak, Adam: "Gerald Siegmund: Theater- und Tanzperformance zur Einführung". In: [rezens.tfm] 2022/2, DOI: https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-06.
Duke University Press: "INTRODUCING THE PRACTICE BOOK SERIES", 18.08.2022, https://dukeupress.wordpress.com/2022/08/18/introducing-the-practices-book-series/, letzter Zugriff: 25.09.2024.
Haffke, Maren: "Ausgehen". In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 30, 1/2024, S. 27–31, DOI: http://doi.org/10.25969/mediarep/21963.
Kettner, Verena: "Sind queere Partys noch subversiv?". In: an.schläge 2024/1, https://anschlaege.at/sind-queere-partys-noch-subversiv/, letzter Zugriff: 25.09.2024.
Siegmund, Gerald: Theater- und Tanzperformance zur Einführung. Hamburg: Junius 2020.
Tanzquartier Wien: "McKenzie Wark. Raving", https://tqw.at/event/raving-wark/, letzter Zugriff: 25.09.2024.
Vienna Club Commission: "NIGHT(S)-Science: Call for Abstracts", 2024, https://www.viennaclubcommission.at/call-for-abstracts-nights-science, letzter Zugriff: 25.09.2024.
Wark, McKenzie: 50 Years of Recuperation of the Situationist International. New York: The Temple Hoyne Buell Center for the Study of American Architecture mit Princeton Architectural Press 2008.
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