Szilvia Gellai: Glass Scenographies. Notes on Spaces of One's Own.

Weimar: M Books 2023. ISBN: 978-3-944425-26-9. 144 Seiten, 12,00 €.

Autor/innen

  • Daniela Holzer

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2024-1-09

Abstract

Im frühen 20. Jahrhundert erlangte Glas eine herausragende Bedeutung als Medium zur Verwirklichung von Idealen der Transparenz in Architektur und Literatur. Bisher konzentrierte sich die Forschung in diesen Bereichen jedoch hauptsächlich auf die Analyse kanonischer Werke, die von männlichen Akteuren geprägt sind. Szilvia Gellais Glass Scenographies durchbricht diese Konvention, indem sie die unterrepräsentierten Beiträge von Frauen zur Glaskultur hervorhebt und neu bewertet.

Im Anschluss an Virginia Woolfs Konzept der "glass scenography" (S. 13) untersucht Gellai im einleitenden Kapitel, OBSCURE LIVES, TRANSPARENT BOUNDARIES, wie Glashäuser und -kuppeln für Frauen katalytische Orte der künstlerischen Entfaltung sein können. Dies dient als Ausgangspunkt für Gellais Arbeit, die sich entlang Psychologie, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft bewegt. Im ersten Teil des Werks widmet sich die Autorin der Geschichte von Evelyn Word Leighs Glashaus und bettet diese in die kulturtheoretischen Ansätze Walter Benjamins ein. Im zweiten Teil geht sie dem Motiv der Glaskuppel nach, das sich von den 1920er bis in die frühen 1960er Jahre erstreckt. Dabei analysiert die Autorin surrealistische Fotografien von Claude Cahun und Lee Miller sowie literarische Werke von Hilda 'H.D.' Doolittle, Anaïs Nin und Sylvia Plath. Sie deutet Glashäuser und -kuppeln als Räume der Intimität, sexueller Diversität und queerer Identitäten. Außerdem stellt sie das "concept of transparency" (S. 16) infrage, das sie als in männlich, weiß und westlich-kolonial geprägten Denkmustern verankert sieht.

Im Kapitel EVELYN WORD LEIGH'S GLASS HOUSE befasst sich Gellai mit dem Leben der Stummfilmikone Evelyn Word Leigh, die zwischen 1927 und 1940 in einem Glashaus in Nyack wohnte. Dieses Domizil diente Leigh nicht nur als Wohnstätte, sondern auch als Ausdruck ihrer (körperlichen) Selbstbestimmung und Autonomie. Gellai veranschaulicht, wie Leighs Selbstbehauptung sich nicht nur in der bewussten Pflege und Disziplinierung ihres Körpers manifestiert, sondern auch in ihrem reflektierten Umgang mit den Themen Transparenz und Privatsphäre.

Leighs Glashaus, dessen ursprüngliche Gestalt heute nicht mehr vollständig rekonstruierbar ist, erfüllte vielfältige Funktionen. In BODY AND CLIMATE TECHNIQUE FOR A DELICATE CREATURE erklärt Gellai, wie das Glashaus zur Regulierung des körperlichen Wohlbefindens als "a body and climate technique" (S. 115) diente. Darüber hinaus war es Instrument zur Steuerung von Nähe und Distanz zur Außenwelt. Durch seine Transparenz nutzte Leigh es subtil zur didaktischen Beeinflussung der Gemeinschaft von Nyack. Obwohl das Wohnexperiment letztlich nicht erfolgreich war, offenbart es eine kreative Adaption moderner Technologien. Gellai zufolge kombinierte Leigh traditionelle, mimetische Körpertechniken wie Tanz, Schauspiel und Mode mit innovativen technologischen Konzepten in den Bereichen Architektur, Massenmedien (wie Printmedien) und Film. (Vgl. S. 115)

In ONSTAGE: MASTERING THE ART OF LIVING IN A GLASS HOUSE betrachtet Gellai Leighs Privatleben, ihre Beziehungen zu den Massenmedien und ihre Schauspielkarriere. Gellai zieht Parallelen zwischen Leighs Ablehnung der öffentlich-stereotypen Wahrnehmung von Frauen und der Rolle des Flaneurs, der in der städtischen Menge einen ästhetischen Blick entwickelt. (Vgl. S. 44) Das Glasrefugium diente als Schutzraum, der Leigh vor der erdrückenden Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bewahren sollte.

1929 entfachte sich in Österreich eine hitzige Debatte um Evelyn Word Leighs avantgardistisches Glashaus. In deutschsprachigen Medien prallten moralische Entrüstung und voyeuristische Berichte aufeinander. Gellai verdeutlicht im Kapitel ON THE MORALITY OF TRANSPARENCY: EDUCATION, DESIRE, AND SELF-DISCIPLINE wie Weiblichkeit historisch mit Unreinheit assoziiert und gleichzeitig durch bürgerliche Konzepte von Tugend fetischisiert wurde. Sie führt als Beispiel die Darstellung des Glashauses als Disziplinarinstrument in Heinrich Oswalds Sagensammlung Unterm Märchenbaum (1877) an. Gellai verbindet über das Glashaus Leighs Ansicht, dass Geschlecht etwas Erlerntes sei mit Michel Foucaults Begriff der Technologien des Selbst. Leighs Leben im Glashaus spiegelt nicht nur diese Technologien wider, sondern verkörpert auch ein "Theater der Askese", wie Gellai unter Bezugnahme auf die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau (vgl. S. 64) erläutert.

Im Abschnitt UNDER THE DOME: FROM CULT TO EXPERIMENT hebt Gellai den für Frauen in patriarchalen Gesellschaften zugewiesenen oder verweigerten Raum hervor. Diese Ein- und Ausschlussmechanismen spiegeln sich in materiellen Kulturen wie den österreichischen Klosterarbeiten, in denen Frauen sowohl als Objekte als auch als Schöpferinnen fungieren, wider. (Vgl. S. 63) Die metaphorische Platzierung von Frauen unter Glasglocken verknüpft Gellai mit Schlüsselkonzepten der Psychoanalyse. (Vgl. S. 67)

In FEMALE HEADS AT THE CUTTING EDGE OF SURREALISM analysiert Gellai das wiederkehrende Motiv der Frauenköpfe unter Glaskuppeln in der visuellen Kultur in den 1920er bis 1940er Jahren. Die oft mit stereotypen Klischees von Geheimnis, Natur, Verführung und erotischem Spektakel assoziierten Motive zeigen sich u. a. in Lee Millers fotografischer Zusammenarbeit mit Man Ray. Claude Cahuns Serie von Selbstporträts hingegen stellen eine wirkungsvolle Untergrabung kategorischer Einteilungen dar, indem die künstlerischen Objekte den Blick der Betrachter*innen ungebrochen erwidern.

ANAÏS NIN'S GLASS HOUSES AND DOPPELGÄNGER beleuchtet Glas in Anaïs Nins Schaffen. Nin, tief im Surrealismus verwurzelt, verwendet Glas in ihren Werken Winter of Artifice (1948) und Under a Glass Bell (1944) als gleichzeitige Metapher für Schutz und Isolation. Durch das Schreiben strebt Nin, beeinflusst durch Otto Rank, nach Selbstfindung und Selbstermächtigung und hinterfragt kritisch narzisstische Selbstzentriertheit und vorgegebene Rollenbilder. (Vgl. S. 84)

Das Kapitel THE METAMORPHOSES OF H.D.'S JELLYFISH EXPERIENCE dokumentiert die Synergien zwischen Hilda 'H.D.' Doolittle und Sigmund Freud in den 1930ern, festgehalten in Tribute to Freud. Für H.D. verkörpert das Glockenglas Schutz und Einsicht. H.D.s narrative Techniken, beeinflusst durch ihre Arbeit mit der Filmzeitschrift Close Up (Pool Group 1927–1933) und den Filmschnitt von Borderline (R: Kenneth Macpherson, GB 1930), zeigen Parallelen zu Filmtechniken. Ihre Beschäftigung mit der "vierten Wand", angeregt durch die Doppeltür in Freuds Büro, erkundet eine Verbindung zwischen Analyse und Theorie, die Gellai mit der räumlichen Anordnung der Proszeniumsbühne verknüpft sieht.

Gellai interpretiert Sylvia Plaths The Bell Jar (1963) im Abschnitt SYLVIA PLATH'S POETIC OF X-RAY ARCHITECTURES als eine Auseinandersetzung mit Materialität und psychischem Leid. Die Hauptfigur Esther Greenwood ringt mit Depressionen, die durch die metaphorische Glasglocke verkörpert werden. Ein von Esther abgelehntes Korsett dient Gellai als Anknüpfungspunkt an das Konzept des "Gläsernen Menschen" (S. 100), das medizinische und ästhetische Normen verkörpert. Gellai zieht Parallelen zwischen Esthers Erfahrungen und der modernen Glasarchitektur, die von medizinischem Wissen (u. a. Tuberkulose) und der Röntgentechnologie beeinflusst ist, und verortet sie im Kontext des Diskurses über Gesundheit und Hygiene.

In POETS. TEMPLES, AND LEOPARDS erörtert Gellai die transformative Kraft von Kunst und Poesie, indem sie Edith Farnsworths The Poet and the Leopards (1960) als Ausgangspunkt nimmt. Sie wirft erneut einen Blick auf die vorangegangene Analysebeispiele, um die vielfältigen Praktiken, Ansätze und Bedingungen der Künstlerinnen für eine kritisch-feministische Geschichtsschreibung fruchtbar zu machen.

In der das Buch abschließenden Respondenz NO WAY HOME. OR, PERPETUAL CARE FOR ARCHITECTURAL RESIDUES von Sina Brückner-Amin, werden Erinnerung, Trauma und Heimatlosigkeit in Bezug zu Architektur über Mike Kelleys Kandor-Projekt bearbeitet. Der Text knüpft an die Diskussionen Gellais an, indem es die langfristigen Verantwortlichkeiten und Herausforderungen betont, die sich aus unserem Umgang mit Architektur ergeben.

Szilvia Gellais Glass Scenographies. Notes on Spaces of One's Own stellt einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Glaskultur dar, insbesondere im Hinblick auf die Beiträge von Frauen, die in der Vergangenheit oftmals marginalisiert wurden. Die Fokussierung auf inhaltliche Aspekte und die Sichtbarmachung von künstlerischen Projekten von Frauen verleihen dem Werk eine besondere Relevanz und machen es zu einer wertvollen Ressource für diejenigen, die sich für die Schnittstellen zwischen Architektur, Literatur, Geschlechterstudien und Kulturgeschichte interessieren. Allerdings könnte die thematische Breite des Werks dazu führen, dass tiefere, fokussiertere Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten zu kurz kommen. Eine intensivere Diskussion und Reflexion der Quellenauswahl könnte den Forschungsprozess transparenter machen. Obwohl das Werk die Beiträge von Frauen zur Glaskultur hervorhebt, besteht Raum für eine erweiterte Analyse, die sich noch stärker mit der Vielfalt von Genderidentitäten und -erfahrungen auseinandersetzt. Eine solche Erweiterung könnte die interdisziplinäre Perspektive des Buches vertiefen und die Komplexität des Themas noch umfassender beleuchten. Zusammenfassend ist Glass Scenographies eine empfehlenswerte Lektüre, die einen wichtigen Beitrag zur feministischen und kulturellen Forschung leistet und neue Perspektiven auf die Rolle von Glas in Verbindung mit weiblicher Agency und Kreativität eröffnet. Es regt zur weiteren Diskussion an und kann als Ausgangspunkt für zukünftige Studien dienen, die sich mit den vielschichtigen Verbindungen zwischen Materialität und Gender auseinandersetzen.

Autor/innen-Biografie

Daniela Holzer

ist derzeit am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien im Master immatrikuliert. Ihre akademische Laufbahn umfasst Studien in Webentwicklung sowie Medien und Design. In ihrer aktuellen Masterarbeit widmet sie sich dem Forschungsfeld des Pyrocinema und untersucht die Ästhetik postdigitalen Films im sogenannten Zeitalter des Feuers.

Publikationen:

Holzer, Daniela: "'Survival Engineering'. Die Survival-Show '7 vs. Wild' als exemplarische Testsituation einer bedrohlichen Gegenwart". In: Zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaft 29, 2/2023, S. 61–72. https://zfmedienwissenschaft.de/heft/text/survival-engineering, DOI: 10.14361/zfmw-2023-150207.

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Veröffentlicht

2024-05-15

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Medien