Elisa Liepsch/Julian Warner (Hg.): Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen.

Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-4340-4. 304 S., Preis: € 19,99.

Autor/innen

  • Nadja Rothenburger

Abstract

Im Untertitel des Sammelbandes Allianzen sprechen die Herausgeber*innen von "weißen Institutionen". Diese Bezeichnung meint nicht allein das numerische Missverhältnis von vergleichsweise weniger schwarzen, queeren, afrodeutschen oder deutschtürkischen Positionen (um eine freilich unvollständige Auswahl zu nennen) gegenüber einer Mehrzahl von 'weißen' Perspektiven an Kulturinstitutionen. Vielmehr wird der Begriff in der Einleitung als "komplexe[] Dominanz […] aus Strukturen, Praktiken, unhinterfragten Privilegien, ästhetischen Vorstellungen, und unterschiedlich positionierten Subjekten" (S. 20) definiert. Vor diesem Hintergrund versammelt der Band überwiegend institutionskritische Beiträge auf Deutsch und Englisch, die u. a. in Verbindung mit dem Projekt Afropean Mimicry & Mockery in Theatre, Performance & Visual Arts am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm entstanden sind. Kategorien wie knowledge production, (De-)Kolonialisierung und (weißer) Kanon, (Post-)Migration, Internationalität und Interkulturalität, Institution und Antirassismus werden in den einzelnen Beiträgen erörtert und definiert. 

Die vier Abschnitte des Bandes helfen die jeweilige Kontextualisierung und Zuspitzung der eingangs formulierten Thesen zu verdeutlichen. Die Einführung umfasst, in Abgrenzung zu einer ebenfalls denkbaren theaterhistorischen Fragestellung, eine Standortbestimmung aktueller institutioneller Strukturen durch deren Markierung als 'weiße' Institutionen und damit als Ausdruck und Ort der Wissensproduktion einer dominanten Kultur. Dieser institutionskritische Ansatz wird anhand spezifischer Beispiele aus den darstellenden Künsten erläutert, unter welchen die Herausgeber*innen bzw. Autor*innen häufig gattungsüberschreitend realisierte Kunstproduktionen aus den Bereichen Theater, Tanz, visuelle Kunst und Performance Kunst fassen. 

Beispielsweise erläutert die Wissenschaftlerin und Kuratorin Nana Adusei-Poku in ihrem Beitrag "Everyone has to learn erverything or emotional labor rewind" die Verschränkungen von institutionellen Mechanismen und persönlichem Erleben. Indem sie den Begriff "emotional labor" einführt, zeigt sie auf, welche strukturellen Ausschlüsse Institutionen (wie etwa die Universität) hervorbringen und veranschaulicht mit welchem (emotionalen) Aufwand diesen täglich zu begegnen ist. Im Gespräch von Azadeh Sharifi und Julian Warner umreißt die Theater- und Kulturwissenschaftlerin Sharifi die Marginalisierung von Theatermacher*innen, die nach Deutschland migrierten. Aus historischer Perspektive legt sie dar, wie künstlerische Arbeiten mittels der Zuschreibung 'migrantisch' vom Stadt- und Staatstheatersystem ausgeschlossen wurden.

Nach dieser einführenden Bestandsaufnahme situiert der zweite Teil die Publikation vor dem Hintergrund der Rechercheplattform "Afropean Mimicry & Mockery". Als Beispiel hierfür sei der Beitrag von Ewelina Benbenek, Nadine Jessen und Elisa Liepsch genannt, der Überlegungen zum "Theater als solidarische Institution" (S. 84) skizziert. In mehreren zusammengefassten Gesprächen werden Parallelen zum Konzept der "Solidarity City" (S. 88) hergestellt und konkrete Handlungsszenarien durchgespielt. Im dritten und vierten Teil des Bandes werden verschiedene Zugriffe auf die künstlerische Praxis an und mit weißen Institutionen vorgestellt. Diese Zugriffe untergliedern sich wiederum in " akademische, künstlerische und kuratorische Prozesse" (S. 16) und "Schlaglichter[] auf einzelne Strategien und Situationen" (S. 16). Die Beispiele werden anhand von Berichten, Gesprächen sowie Text-Bild-Collagen und Manifesten betrachtet. Dabei geraten sowohl Institutionen der heutigen BRD als auch ehemaliger deutscher Kolonien, wie beispielsweise Namibia, oder sozialistischer 'Bruderstaaten' der DDR, wie Mosambik, in den Blick. 

Dabei verweisen die Herausgeber*innen explizit auf die unterschiedlichen Herangehensweisen einzelner Autor*innen und den jeweiligen Kontext, in dem deren Texte entstanden sind, mögen diese Texte "polemisch, poetisch oder aktivistisch daherkommen" (S. 16). Leitend für die Zusammenstellung der Beiträge sind dabei Motiv und Movens der Allianzen, durch welche diese assoziativ gebündelt sind. Die assoziative Anordnung der Beiträge entspricht den Beschreibungen intersektionaler Ausschlüsse – also Diskriminierungen aufgrund mehrfacher, einander verstärkender Faktoren wie beispielsweise Herkunft, Klasse, körperlicher Möglichkeiten und Geschlecht. Es zeigt sich, wie widersprüchlich es sein kann, trotz dieser Ausschlüsse eine Sprecher*innen-Position zu finden. Begriffe wie "critical race theory", "emotional labor", "affective economy" (Adusei-Poku, S. 43ff); "extractivism" (Sosa, S. 101) oder "radical care" (Kosoko, S. 128) zeugen von der Dringlichkeit, diese Ausschlüsse zu benennen und ihrer habhaft zu werden. 

Konsequenterweise werden in dem Band denn auch Stimmen von Künstler*innen wie Fannie Sosa, niv Acosta und Jaamil Olawale Kosoko laut. Sie richten sich gezielt – und zum Teil auch ausschließlich – mit Handlungsanweisungen an eine schwarze und/oder queere Leserschaft und kehren damit das übliche Verhältnis weißer künstlerischer Arbeiten an 'weißen' Institutionen, die sich an ein weißes Publikum richten, um. Dort findet sich etwa ein von Fannie Sosa entwickelter "White Institution's Guide for Welcoming People of Color* and their Audiences" und niv Acosta fordert zum Abschluss seiner Streitschrift: "When we ask for reparations it should include everything from economic to energetic repair" (S. 113).

Dieses aus wissenschaftlicher Sicht eher ungewöhnliche Vorgehen setzt sich in der grafischen Aufbereitung des Bandes fort. Der eigens für die Publikation gestaltete künstlerische Font von Karo Apokiere arbeitet den Inhalten zu, indem Schrift und Bild jeweils unterschiedlich gewichtet und besonders prägnante Aussagen grafisch hervorgehoben werden. Damit wird der Publikation eine weitere kritische Ebene hinzugefügt. Die Beiträge sind durchweg gut lektoriert und weitestgehend in sich stimmig strukturiert. Die Autor*innen denken und sprechen im Spannungsverhältnis von zu gewährleistender Teilhabe, allgegenwärtigen strukturellen Ausschlüssen, offener Diskriminierungen und Rassismuskritik – einem Spannungsverhältnis, das sich also auf formaler und inhaltlicher Ebene ausdrückt. Damit ist der Band ein notwendiger Beitrag zur aktuellen Debatte um (De-)Kolonialisierung und richtet sich an People of Color, ohne dabei weiße dominante Positionen aus dem Blick zu verlieren. So leistet er eine kritische Reflexion bestehender Verhältnisse.

Autor/innen-Biografie

Nadja Rothenburger

Nadja Rothenburger studiert im M.A. Theater-/Tanzwissenschaft an der Universität Bern. Sie ist Mitglied der Forschungsplattform Auto_Bio_Grafie des Walter-Benjamin-Kollegs und Projektmitarbeiterin des SNF-geförderten Forschungsprojekts "Offene Manipulation. Figurentheater als Movens spartenübergreifender Theater-, Tanz- und Musiktheaterforschung" am Institut für Theaterwissenschaft.

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Veröffentlicht

2019-11-19

Ausgabe

Rubrik

Theater

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