Theresa Schütz: Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater.
Berlin: Theater der Zeit 2022. ISBN: 978-3-95749-405-4. 346 Seiten, 22,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2024-2-03Abstract
Das Eintauchen in simulierte, virtuelle (Parallel-)Welten ist kein neues Phänomen. Ob im Themenpark, in Computerspielen oder IMAX-Kinos: was aus dem Bereich der Unterhaltungsindustrie nicht wegzudenken ist, hat sich mit Beginn der 2010er Jahre unter dem Begriff der Immersion auch im Feld des Theaters etabliert. Mit Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater legt Theresa Schütz eine umfassende Studie zu zeitgenössischen, immersiven Theaterformen vor. Wie der Titel nahelegt, ist die zentrale These dieser hoch interessanten Abhandlung, dass die diversen Modi der Publikumsinvolvierung im Kontext von immersiven Theaterformen wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Rezipierenden abzielen. Zur Untersuchung dieser These hat Schütz zwischen 2014 und 2020 eine dreistellige Zahl an Aufführungen aus dem Bereich des partizipativen Gegenwartstheaters besucht, um schließlich 25 Inszenierungen als Korpus für ihre Untersuchung auszuwählen. Dabei hat sie sich dezidiert auf Arbeiten konzentriert, bei denen das Publikum in inszenatorisch durchgestaltete (alternative) Weltversionen beziehungsweise Wirklichkeitssimulationen involviert wird. Was man bei der Lektüre der Monografie nach und nach begreift, bestätigt Schütz im Fazit unter Nennung klarer Fakten: 18 dieser 25 gesichteten Produktionen entwerfen "fiktionalisierte Lebenswelten, in denen Vereinnahmung bereits selbst thematisch wird." (S. 281, hier und ff. Herv. i. O.). Sowohl dystopische Abgründe als auch vielversprechende Potentiale (bspw. in puncto Selbstreflexion seitens der Besuchenden dieser immersiven Theaterinszenierungen) zeichnet Schütz äußerst bildlich und in ihrer Komplexität nach. Auf diese Weise erweitert sie die häufig binär gedachte Perspektive auf Immersion. Ihre Publikation zeigt dabei vor allem, wie vielschichtig die Inszenierung, die Umsetzung, die Wahrnehmung und die teilweise weit über die Dauer einer einzelnen Aufführung anhaltende Wirkungsweise der Publikumsinvolvierungen in immersiven Theaterformen eigentlich sind.
Die Monografie besteht aus vier Hauptteilen. Im ersten Kapitel wird den Lesenden ein kompakter und gut zugänglicher Überblick über Theorien der Immersion geliefert. Schütz schildert neben den einschlägigen Theorien zu Immersion aus dem Feld der (englischsprachigen) Theaterwissenschaft (u. a. Josephine Machon, Rose Biggin, Adam Alston, Jen Harvie, Gareth White) den sogenannten take off des Immersionsdiskurses, der von den Studien von Oliver Grau (Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart, 2001) und Janet Horowitz Murray (Hamlet on the Holodeck, 1997) ausgeht. Auf diese Studien, so wird gezeigt, bezieht sich eine beachtliche Anzahl an Wissenschaftler*innen aus diversen Fachgebieten Mitte der Nullerjahre, als sich Immersion als Forschungsfeld herauszubilden beginnt. Die Immersionsforschung ist dabei von Anfang an eine transdisziplinäre Forschung. Schütz fasst zusammen, dass in der Gesamtschau der vorliegenden transdisziplinären Forschungspositionen zwei Positionen klar benannt werden können: entweder werde Immersion "a) als Modus ästhetischer Rezeption" (S. 19) oder aber "b) von den Mechanismen und Wirkweisen der Apparaturen und medialen Gefüge her" gedacht (S. 20).
Schütz selbst geht es in ihrer Studie darum, eine "produktive Synthese" (S. 46) dieser beiden Perspektiven zu erzeugen. Dabei stellt sie deutlich heraus, wie stark "kontext-, medien- und subjektabhängig" (S. 20) Immersion funktioniert. Den Fokus legt Schütz auf das "Verhältnis von Selbst und Welt" (S. 20). Sie zeigt auf, dass sich Immersion aufgrund der allgemeinen Offenheit der Metapher des "Eintauchens" als enorm vielfältig anwendbare Beschreibungskategorie anbietet, die auf unterschiedlichste "Beziehungen zwischen Rezipierenden und Rezipiertem" (S. 26) angewendet werden kann. So unterschiedlich die Beziehungen jedoch auch sein mögen, allen gemein ist Schütz zufolge stets eine besondere "Intensität des Rezeptionsvorgangs" (S. 26). Des Weiteren stellt Schütz klar heraus, dass dem Immersionsdiskurs immer eine Ambivalenz eingeschrieben ist, die auch die von ihr gewählte Konzeption von Vereinnahmungsprozessen in immersiven Theaterformen betrifft: Immersion kann zum einen als eine positive, bereichernde Erfahrung gelten, zum anderen läuft Immersion aber auch Gefahr, aufgrund von Manipulation und damit verbundenem Distanzverlust seitens der Rezipierenden negativ erlebt zu werden. Schütz zeigt uns in ihrer Studie klar und deutlich, dass diese Ambivalenz der Kern immersiver Theatererlebnisse ist und sie stellt den Lesenden in ihren Analysen vor, wie dieser Ambivalenz beschreibend nähergekommen werden kann, ohne sie künstlich aufzulösen.
Im zweiten Kapitel geht es darum, abzustecken, wodurch sich immersive Dispositive im Gegenwartstheater auszeichnen. Das äußerst gut strukturierte Kapitel legt dar, welche (zentrale) Funktion der Raumgestaltung, der Kopräsenz und dem affektiven Körper der Rezipierenden in immersiven Theaterformen zukommt. In einem zweiten Schritt erfahren wir dann, was Schütz unter immersivem Theater "im engeren Sinn" versteht: Aufführungen immersiven Theaters werden von ihr als "Wirklichkeitssimulationen" (S. 67) bezeichnet. Dabei betont Schütz mit Blick auf die Wirkungsästhetik immersiven Theaters, "dass es für Zuschauer*innen hinsichtlich Wahrnehmung und Erfahrungsschatz zu einer symptomatischen Verflechtung von fiktiver Weltversion und geteiltem Aufführungsgeschehen kommt." (S. 67) Wir erfahren in diesem Kapitel auch, warum Schütz den Begriff der Vereinnahmung wählt. Und zwar, weil er – wie auch der Begriff Immersion – eine Ambivalenz in sich trägt: "Prozesse der Vereinnahmung sind demnach nie rein passiv, sondern stets konstitutiv reziprok und relational." (S. 86f) Von etwas oder jemandem eingenommen zu sein oder in den Bann gezogen zu werden, kann sowohl positiv als auch negativ empfunden werden.
Das Kapitel wird mit der Vorstellung des Beispiel-Korpus abgeschlossen: Hier stellt Schütz die Gründe vor, weshalb aus den 25 Aufführungen immersiven Theaters, die uns im Verlauf der Studie bereits immer wieder als Beispiele begegnet sind, im Weiteren sechs Inszenierungen genauer in den Blick genommen werden: "Gemeinsam ist allen Beispielen, dass sie ihre Zuschauenden mit Aufführungsbeginn und Schwellenübertritt als Gäste einer fiktiven Institution framen und sie für die Dauer der Aufführung systematisch an der Hervorbringung der Wirklichkeitssimulation beteiligen." (S. 93) Es wundert entsprechend nicht, dass im weiteren Verlauf der Monografie immer wieder auf Sara Ahmed rekurriert wird (u. a. auf On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life). Die sechs ausgewählten Produktionen werden zum Ende des Kapitels einmal systematisch vorgestellt. Schütz erarbeitet hier auch einen wertvollen, bisher nicht vorliegenden Wissenskatalog zum Entstehungskontext, den Aufführungsorten und -zeitpunkten sowie zu den involvierten Theaterschaffenden und Künstler*innen der Produktionen.
Das dritte Kapitel entfaltet die Methoden, mittels derer Schütz die sechs Beispiele untersucht: Es ist eine beachtliche Leistung dieser Studie, wie gut es gelingt, eine Vielzahl verschiedener Methoden, teilweise auf sehr experimentelle Weise miteinander zu verbinden und dennoch eine enorme Stringenz und ausgeprägte Lesendenfreundlichkeit an den Tag zu legen. Schütz wählt eine Mischung aus inszenierungs- und aufführungsanalytischen Ansätzen, (auto-)ethnografischen Methoden und Experimenten mit empirischen Ansätzen (Interviews oder Publikumsbefragung). Dabei spielt der Aspekt der "Polyperspektivität" auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle: Zum einen ergeben sich polyperspektivische Aufführungsanalysen, indem Schütz mit verschiedenen, eigenen Erinnerungsprotokollen zu unterschiedlichen Aufführungen derselben Inszenierung arbeitet. Zum anderen erweitert Schütz ihre eigene Perspektive um die von weiteren Theaterbesuchenden, indem sie (eigens von ihr durchgeführte) Publikumsbefragungen, Interviews und im Internet veröffentlichte Blog-Einträge von Zuschauenden nutzt.
Schütz zeigt im vierten Kapitel schließlich in zahlreichen, vergleichenden, polyperspektivischen Analysen auf, welche Rolle unter anderem Strategien der Desorientierung, das Erteilen von Handlungsanweisungen für das Publikum, körperliche Berührungen, gezielt eingesetzte Klänge, Musik, Geräusche, Gerüche und Zeichen bei der Involvierung der Besuchenden von immersiven Theateraufführungen spielen. Dabei untersucht sie formale Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf Strategien der Vereinnahmung in Inszenierungen des dänischen Kollektivs SIGNA, der britischen Theatergruppe Punchdrunk, des österreichischen Regisseurs Paulus Manker und der US-amerikanischen Theaterschaffenden James Scruggs und Tamilla Woodard, Scruggs/Woodard.
Insgesamt schließt Theresa Schütz mit dieser Monografie eine Forschungslücke in puncto Publikumsinvolvierung in immersiven Theaterformen der Gegenwart. Sie zeigt, wie dieses "übergriffige Theater" Rezipierende zu Kompliz*innen werden lässt und nicht nur das Eintauchen, sondern gerade auch das Nach-Luft-Schnappen beim Auftauchen (oder Herausgeworfen-Werden) aus dem Sog dieser immersiven Inszenierungen Potentiale der Transformation und kritischen (Selbst)Reflexion erzeugen können – oder nicht, oder teilweise … Und das ist der springende Punkt: Diese Studie zeigt, dass die Wirkungsweisen immersiven Theaters eine hochkomplexe und mehrschichtige Reaktionsvielfalt seitens der Theaterbesuchenden evozieren. Wir lernen von Theresa Schütz, wie komplex Immersion im Theater der Gegenwart ist.
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