Árpád Kékesi Kun: Ambiguous Topicality. A Philther of State-socialist Hungarian Theater.

Budapest/Paris: L'Harmattan Publishing 2021. ISBN: 978-2-343-23031-3. 210 Seiten, 29,19 €.

Autor/innen

  • Andreas Kotte

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2025-1-03

Abstract

Die großen Theaternationen schreiben die Theatergeschichte Europas und die kleineren Länder sind dankbar, wenn sie darin vorkommen. Sie können nationale Theatergeschichten kreieren und deren Autorinnen oder Autoren werden geadelt, indem sie zu europäischen Überblicks- oder Sammelwerken etwas beisteuern dürfen. Diese Sachlage ist nicht Gegenstand, aber Ausgangspunkt der Besprechung des Buches von Árpád Kékesi Kun, weil auch in kleineren Ländern Teams zuweilen Methoden entwickeln, die einen größeren Bekanntheitsgrad verdienen. Der Autor beschreibt an Beispielen eine diskutable historiographische Analysemethode für dramatisches Theater, die im Netz ihre Erfüllung findet (https://theatron.hu/ph/en/).

Am Anfang stand die Frage, wie sich Theater in den Jahrzehnten des ungarischen Sozialismus analysieren lässt, in einer Zeit, in der jede noch so kleine Begebenheit eines Dramas dramaturgisch zwei- oder mehrdeutig (ambiguous) eingesetzt oder aber vom Publikum gedeutet werden konnte, immer jedoch auf die Aktualität (topicality) hin befragt wurde. Hinzu kam die ideologisch beeinflusste Deutung der Presse, die wiederum durchschaut werden konnte, was eine Vielfalt von Aktualitäten hervorbrachte. Jedes einfache Narrativ scheitert an der Komplexität solcher Wirklichkeiten. Als Mindestanforderung erweist sich eine doppelte Geschichte, nämlich die offiziell dokumentarisch beglaubigte verbunden mit den Erinnerungen einer zweiten Öffentlichkeit, der Beteiligten und des Publikums.

Kékesi Kuns Monographie erklärt die Forschungsmethode Philther; das ist ein Akronym, gebildet aus den Wörtern Philologie und Theater (S. 7). Wenn in einigen Ländern die Theaterwissenschaft weniger stark institutionalisiert ist, hat das zur Folge, dass theateraffine Sprach- und Literaturwissenschaftlerinnen mit substanziellen theatertheoretischen Kenntnissen theaterwissenschaftliche Aufgaben übernehmen. 2010 riefen Magdolna Jákfalvi, Gabriella Kiss und Árpád Kékesi Kun Philther ins Leben. Man weitete das Forschungsgebiet vom ungarischen Theater auf das ungarischsprachige Schauspiel in Siebenbürgen (Universität der Künste in Târgu Mureş) und in Serbien (Universität Novi Sad) aus. Das Ziel der Forschenden bestand in der Analyse der herausragenden und historisch bedeutsamen Theateraufführungen der Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg und in der Erarbeitung einer Website (https://theatron.hu/ph/en/), auf der sich die Texte des Forschungsprojekts auch in englischer Sprache finden lassen. Jede ausgewählte Aufführung wird zunächst mit den Hauptangaben präsentiert, dann in ihrem theaterhistorischen Kontext beschrieben und nach Dramentext und Dramaturgie beurteilt. Regie und Spielweise, Bühnenbild/Sound sowie ein Abriss der Wirkungsgeschichte bilden weitere Kategorien. Gesucht werden kann nach dem Titel und dem Jahr der Aufführung oder nach der Regie, wobei man jeweils aus dem mit 152 Inszenierungen noch überschaubaren Gesamtangebot auswählt. Diese Forschung ist mikrohistorisch und konzentriert sich auf die einzelnen Aufführungen, geht aber über eine bloße Datenbank weit hinaus, indem sie nicht nur detailliertere Informationen bietet, sondern in und zwischen den Kategorien Zusammenhänge entstehen, ohne dass sich diese zur "großen Erzählung" verfestigen. Bis auf den eher knappen Zeitraum erinnert das Vorgehen ein wenig an eine von Robert L. Erenstein 1996 herausgegebene holländische Theatergeschichte (Een theatergeschiedenis der Nederlanden), die auf 873 Seiten 120 Beschreibungen von einzelnen Aufführungen zwischen 1130 und 1993 enthält. Bei Erenstein wie bei Philther füllen die Leser und Leserinnen die Lücken mit ihrem kulturhistorischen Wissen. Die zahlreichen Autoren und Autorinnen haben sich an mehrere Grundkriterien für die Beschreibung der Aufführungen gehalten. In der radikalen Beschränkung von Philther auf wichtige Dramen in maßgeblichen Inszenierungen wird der Platz für die schriftliche und bildliche Darstellung jeweils einheitlich begrenzt. Die immer gleiche Methodik schafft Vergleichbarkeit und Praktikabilität online im World Wide Web, zumal die Inszenierungen teilweise untereinander verlinkt sind.

Außer der Beschreibung der Methode widmet sich Kékesi Kun exemplarisch zwölf Inszenierungen, deren Zeithorizont sich von 1949 bis 1988 erstreckt, um einen Überblick zum ungarischen Theaterschaffen in der sozialistischen Ära zu geben. Der Autor belegt präzise die Entstehungsgeschichte der Produktionen. Bei den Operetten reichen die Quellen vom Soufflierbuch über Protokolle von Abend-Auswertungen bis zu den zeitgenössischen Kritiken sowie zu späteren Dokumentationen. Die ideologischen Veränderungen zeichnen sich besonders in der Kategorie des theaterhistorischen Kontexts ab, wobei in den 1950er Jahren die Doktrin der Parteiideologie noch offen zutage treten und sich eine Differenzierung hin zum Fokus auf ästhetische Werte bis in die 1980er Jahre hinein verfolgen lässt. Anfangs sollte die Wahrnehmung kanalisiert werden, um eine Wirklichkeit zu schaffen, später stellte die Wirklichkeit des Theaters jene außerhalb des Theaters in Frage. Von den sechs Kriterien erhalten bei Kékesi fünf annähernd denselben Umfang, die kürzesten Passagen erläutern die Wirkungsgeschichte, wofür hauptsächlich spätere Inszenierungen erwähnt werden. Leichte Gewichtsverschiebungen ergeben sich durch die Besonderheiten der Produktionen. So wurden zum Beispiel in den 1950er Jahren Libretti von Operetten aufwändig umgeschrieben und angepasst, um sie aufführen zu können. Unter Regie fasst der Autor das dramaturgisch-inszenatorische Konzept zusammen und vergleicht es mit ausländischen Inszenierungen. Beispielsweise gastierte 1964 drei Monate vor einer Premiere von König Lear am Nationaltheater die Royal Shakespeare Company mit Peter Brooks King Lear in Budapest (S. 96). Unterschiede der beiden Regiekonzepte werden aufgezeigt. Die Einschätzungen des Autors setzen sich hauptsächlich durch klug ausgewählte Zitate aus zeitgenössischen Kritiken zusammen. In Budapest herrschte ein ähnlicher Kult um Schauspielerinnen wie in Wien. Das Publikum besuchte die Vorstellungen oft wegen einer Lieblingsprimadonna (Hanna Honthy) oder wegen populärer Schauspieler und Komiker (Kamill Feleki, Kálmán Latabár). Dementsprechend fällt die Auswertung der schauspielerischen Leistung bei allen zwölf Inszenierungen detailreich aus. Die Bühnenbeschreibungen rekonstruieren die Spielräume, erörtert wird, ob das Bühnenbild notwendige Bedingungen des Dramas erfüllte. Bei der Rockoper Stefan, der König von 1985 wird zum Beispiel neben der Musik das aus horizontalen und vertikalen Brücken bestehende bühnentechnische System erwähnt, das hervorragend "mitspielte" (S. 173).

Durch die Auswahl und Analyse der Aufführungen zeichnen sich wesentliche Entwicklungslinien der ungarischen Theatergeschichte nach 1945 ab. Philther ist eine Variante von Theaterhistoriographie, hervorgebracht mittels punktueller historischer Aufführungsanalyse. Die Vorteile liegen in der Überschaubarkeit und Ideologieferne, in der Modularität und der Online-Praktikabilität. Das Buch von Kékesi Kun stellt die Methode anhand seiner eigenen Beiträge vor, die Website wird permanent durch verschiedene Autorinnen und Autoren bis in die Gegenwart hinein erweitert. Fehlende synchrone und diachrone Zusammenhänge können durch Verlinkung hergestellt oder aber extra beschrieben werden. Das reichhaltige Material kann unterschiedlich monographisch verwendet werden. In der Theaterhistoriographie ist bei Chroniken, mit denen man Daten sichert (Wolfgang Beck, Chronik des europäischen Theaters, 2008), Schmalhans Küchenmeister und die "großen Erzählungen" (Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, 1993–2008) sterben an Fettleibigkeit. Die Chronik lässt Haltung vermissen und die "große Erzählung" drängt sich als die Wahrheit auf. Deshalb braucht es dazwischen auch andere Versuche. Philther ist einer der begehbaren Mittelwege, offensichtliches Konstrukt von Monaden, auch wenn man darüber nachdenken kann, ob nur die bedeutsamsten Aufführungen ausgewählt werden sollten und wie man sich zu unterschiedlichen Theaterformen verhält. Dürfte theaterhistoriographisch geträumt werden, wäre die Vorstellung, Epochen, Städte und Länder nach dieser Methode erschlossen zu haben, eine schöne Vision.

Autor/innen-Biografie

Andreas Kotte

Gründungsprofessor, jetzt Emeritus am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, das er von 1992 bis 2020 als Direktor leitete. Studium der Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte dort 1985 mit einer Arbeit zum Halberstädter Adamsspiel, einem Grenzfall mittelalterlicher Theaterkultur (Francke 1994). 1988 Habilitation zu den Strukturveränderungen im ungarischen Theater 1980–1987. Mehrfach übersetzte Studienbücher zur Theaterwissenschaft (UTB 2005) und Theatergeschichte (UTB 2013), Aufsatzsammlung Schau Spiel Lust (Chronos 2020). Herausgeber von 39 Bänden der Buchreihen Theatrum Helveticum und Materialien des ITW Bern sowie des dreibändigen Theaterlexikons der Schweiz.

Cover: Ambiguous Topicality

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Veröffentlicht

2025-05-14

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Rubrik

Theater