David Bordwell: Perplexing Plots. Popular Storytelling and the Poetics of Murder.
New York: Columbia University Press 2023. ISBN: 9780231556552. 512 Seiten, 31,99 $ (E-book).
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2025-2-03Abstract
Ob nah, ob fern; ein Todesfall ist immer schwer zu begreifen. Das liegt unter anderem an seiner Endgültigkeit. Im Fall von fernen oder parasozialen Bekanntschaften kommt noch der Umstand hinzu, dass uns Todesnachrichten meist unerwartet treffen. Und so hat mich die Nachricht von David Bordwells Tod am 29. Februar 2024 gleichermaßen betrübt und perplex gemacht, da er in meiner Filmsozialisation eine Art Konstante war. Von dem gemeinsam mit Kristin Thompson verfassten Film Art: An Introduction über den Blog Observations on Film Art bis zu seinen filmhistorischen und -theoretischen Arbeiten hat Bordwell nicht nur mich, sondern auch die hiesige Filmwissenschaft lange begleitet und dabei so stark geprägt, dass die Zeitschrift Montage/AV dem Verstorbenen noch 2024 eine ganze Ausgabe gewidmet hat. Vom Umschlag grüßt Bordwell, umringt von Filmrollen, freundlich lächelnd vom Papier die Lesenden. Von seiner letzten Monografie, dem Ende 2023 veröffentlichten Perplexing Plots: Popular Storytelling and the Poetics of Murder – ist darin lediglich in einer Fußnote die Rede (vgl. Vernet 2024). [1]
Bei dem Titel dürfte sich im Kopf ein Korpus angloamerikanischer Filmproduktionen aufstellen, die um die Jahrtausendwende erschienen sind (beispielsweise Memento, Christopher Nolan, USA 2000) und von Thomas Elsaesser einflussreich als Mind-Game-Movies klassifiziert wurden (Elsaesser 2009). Diese zeichnen sich meist durch subjektive Erzählweisen aus, die von "veränderte[n] Realitätswahrnehmungen des Protagonisten" geprägt sind, sodass "Verschiebungen von Raum und Zeit, Änderung der Kausalität und Durchmischungen von Traum und Realität" zu zentralen ästhetischen Prinzipien werden (Glinka 2022, o.S.).
Im weitesten Sinne strebt das Buch eine Historisierung ebendieser Erzähltechniken an. Bordwell selbst beschreibt sein Buch, das von der International Crime Fiction Association 2023 posthum mit dem sechsten jährlichen IFCA-Buchpreis gewürdigt wurde, als essayistisch. Angesichts des wuchtigen Ausmaßes von 512 Seiten – 60 Seiten Endnoten und Index miteingerechnet – mag man über diese Einschätzung stutzen. Mit wenigen Ausnahmen beschränkt sich das Buch auf das Mystery- und Detektiv-Genre, weil sich dort Autor*in und Rezipient*in in einer Art Spielsituation begegnen würden, die die narrative Konstruktion selbstreflexiv hervorhebt. Nach Bordwell besteht das Spiel darin, dass die Rezipient*in versucht, den Handlungsverlauf anhand konventionalisierter narratologischer Muster, Vorerfahrungen und Genre-Wissen zu antizipieren, während die erfinderische Autor*in versucht, der Rezipient*in den sprichwörtlichen Schritt voraus zu sein (vgl. S. 20).
Für Bordwell ist diese Konstellation der geschichtsphilosophische Antrieb hinter den narrativen Wandlungen, Differenzierungen und Konsolidierungen des Mystery-Storytellings. Der Betrachtungszeitraum setzt im späten 19. Jahrhundert ein, arbeitet sich dann chronologisch zu den 1940ern voran und springt im letzten Abschnitt bis ins 21. Jahrhundert hinein. Der Erste der drei Abschnitte liest sich mit großem Gewinn, da Bordwell eine Vielzahl an Roman- und Literaturanalysen, historischem Werbematerial, Schreibratgebern und statistischen Daten inhaltlich engmaschig und tonal leichtfüßig zu einer überzeugenden narratologischen Geschichtsschreibung verwebt, aus der hervorgeht, wie die perplexing plots in den 1910er-Jahren langsam emergieren und sich Erzählstrategien soweit konventionalisieren, bis sie industriell verfertigt werden können, während auf Seite der Rezipient*innen ein reflexives Bewusstsein für die narratologischen Schemata entsteht. Der zweite Abschnitt besteht dann aus Essays zum golden age puzzle plot (die Whodunit-Tradition um Agathe Christie), zum Thriller (Patricia Highsmith, Alfred Hitchcock), zur Hard-Boiled-Literatur (Dashiell Hammet, Raymond Chandler) sowie zwei ergänzenden Texten zu den 40er-Jahren. [2] Im letzten Abschnitt stellt Bordwell ausführliche, meist komparativ angelegte Autor*innenbetrachtungen (z.B. Patricia Highsmith, Quentin Tarantino, Richard Stark) an. Die Struktur bewegt sich vom panoramischen Überblick hin zum Granularen.
Trotz aller sprachlichen Nonchalance nimmt Bordwell auf dieser Reise seine Leser*innen beherzt an die Hand und führt sie durch einen manchmal verwirrenden Kurs. Wohlwollend könnte man die teilweise schroffen (und wenig akzentuierten) Perspektivwechsel zwischen Kulturgeschichte, Genretaxonomie und klassischer Werkbetrachtung als eine formale Orientierung am Inhalt oder für essayistische Sprünge halten. Jedoch bauen die Kapitel dafür nicht nur chronologisch, sondern auch argumentativ zu stark aufeinander auf und wimmeln vor Bezugnahmen auf vorher Gesagtes.
Das hat auch etwas mit dem in der Einleitung aufgestellten theoretischen Apparat zu tun. Alles kreist um das Paradigma der Narration, das es Bordwell ermöglicht, teils inspiriert, teils eklektisch vom Film zum Roman zum Bühnenstück zu springen, ohne Rücksicht auf ihre jeweilige Medienästhetik nehmen zu müssen, da Stil und Ästhetik lediglich als Rahmen der Erzählung begriffen werden. Wie bereits in Narration in the Fiction Film (Bordwell 1985) fungiert Ernst Gombrichs Begriff des Schemas als Angelpunkt. Anders als dort, liegt das Hauptaugenmerk hier nicht auf dem Verstehensprozess der Rezipient*innen, sondern auf den craft options des Erzählhandwerks (vgl. S. 10, S. 58). Diese flottieren im sog. Variorum [3] hinter dem sich die wohlbekannte Dynamik von Schema und Revision verbirgt: Das Variorum kann man sich als abstrakten Behälter vorstellen, in dem konventionalisierte Erzählmuster und Umgänge (sprich: Schemata) mit Erzählperspektive, Chronologie und Segmentierung verstaut sind, die Autor*innen aufgreifen und sich opportunistisch für ihre Zwecke aneignen, wodurch sich wiederrum der 'Inhalt' des Variorums stetig verändert.
Die titelgebende Perplexität kommt über das Modell der easiest narrative ins Spiel: Bordwell versteht darunter eine Narration, die aus einem Figurenpersonal mit eindeutigen Charaktereigenschaften, Motivationen, Fähigkeiten besteht; in klare, Sinnabschnitte unterteilt ist, die kausallogisch miteinander verbunden sind und chronologisch linear vorwärts laufen (vgl. S. 9-10). Zwar lässt sich der Schwierigkeitsgrad einer Narration (wenn man es denn so ausdrücken möchte) über den Grad der Abweichung von der easiest narrative bestimmen, jedoch mangelt es an methodischen Überlegungen, wie diese Abweichungen zu messen oder in ein Verhältnis mit dem Referenzmodell zu setzen sind; ist eine Erzählung mit vier Perspektiven schwieriger zu erfassen als mit drei? Wenn ja – warum, wenn nein –warum nicht? So oder so ergeben sich daraus die analytischen Kriterien, die in den Analysen durchexerziert werden: Erzählperspektive, Chronologie, Segmentierung.
Zudem unterscheidet Bordwell mit dem Ordnungsprinzip exoterisch/esoterisch zwischen 'schwierigen' (esoterischen) und 'einfachen' (exoterischen) Erzählungen, ohne a priori eine normative Bewertung vorzunehmen. Daran schließt sich eine Beweisführung an, die aufzeigen soll, dass nicht nur Hochmodernist*innen wie Faulkner und Woolf [4] bestimmte Techniken wie exzentrische Perspektivwechsel salonfähig gemacht haben, sondern auch exoterische Autor*innen wie Agatha Christie oder Bühnenstücke wie A Voice In The Dark (Ralph E. Dyar, 1919) narrative Pionierarbeit geleistet haben. Der Unterschied zwischen den beiden Formen bestünde darin, dass exoterische Erzählungen ihre formalen Innovationen entweder erklären oder die Motivationen hinter den ästhetischen Verfahren transparent machen, während esoterische Werke auf einordnende Rahmenhandlungen, eindeutigen Strukturlogiken und geradlinige Chronologien verzichten. Bordwells Behauptung, esoterische Erzähler*innen würden diese Schwierigkeit gewissermaßen als Selbstzweck verfolgen (vgl. S. 17, S. 89, S. 406), kann ich höchstens mit seiner bekannten Aversion gegen hermeneutische Interpretationsansätze erklären.
Jedoch ist das Herzstück nicht die (zugegebenermaßen stark leitende) Theorie, sondern der historisch-analytische Teil. Allein aufgrund der Breite des historischen Bogens und den dutzenden Filmen und Romanen kommt es fast notwendigerweise zu Analysen, die kaum über die Oberfläche hinausgehen. Das ist schade, denn gerade die Passagen, in denen sich Bordwell mehr Raum für umfassende Einzelanalysen nimmt, überzeugen. Dazu zählt eine mehrseitige Besprechung von Intolerance (D.W. Griffith, USA 1914), in der er sorgfältig beschreibt, mit welchen Mitteln der Film seine zentrale filmnarratologische Innovation, vier historische Epochen parallel zu erzählen, für Rezipient*innen verständlich macht. Dazu zählen neben klaren Genre-Signifikanten sowohl die distinktiven Kostüme und Viragierungen für jede Episode als auch expositorische Zwischentitel, visuelle Kodizes und eine einordnende Rahmenhandlung. Außerdem verweist er auf die Filmplakate, die noch vor dem Kinobesuch die Erzähllogik ankündigen (vgl. S. 45–54). Erfolgreich ist die Analyse deshalb, weil es ihr gelingt, Thema, Forschungsperspektive und die Fragestellung nach der 'Schwierigkeit' zielgerichtet zusammenzuführen, wohingegen andere Analysen sich im Kontext des Mystery-Storytellings etwas verlieren.
Es wäre angesichts des Umfangs etwas bemüht, notwendige Ausschlüsse, wie z.B. den Poliziottesco, den Giallo, Kriminalfilme von Autorenfilmer*innen oder maximalistische Mysterien aus der Feder von Thomas Pynchon oder David Foster Wallace zu monieren. Viel gravierender ist für mich, dass die Lektüre den Eindruck erweckt, als würde sich jede narrative Neuerung ausschließlich auf eine hermetisch von der Welt abgeriegelte Künstler*innengemeinschaft zurückführen lassen. Auch kein Wort darüber, dass geschichtliche Ereignisse der letzten 140 Jahre sowie damit verbundene materielle Zustände und politische Groß- und Kleinwetterlagen einen Effekt auf die Popularität von Genres, Tropen, Figuren und Mustern haben könnten. Neben diesen grundsätzlichen philosophischen Reizpunkten ist weiterhin zu bemängeln, dass das Buch mit der Frage nach der 'Schwierigkeit' ab dem zweiten Abschnitt exakt den Aspekt aus den Augen verliert, der meiner Meinung nach den größten Erkenntnisgewinn der Studie bedeutet. Außerdem verzichtet Bordwell darauf, auf wissenschaftliche Vorarbeiten zu längst etablierten Begriffen wie dem whodunit Bezug zu nehmen.
Dennoch mindert das den beeindruckenden Berg an zusammengetragenem Material nicht, den Bordwell so navigiert, dass man als Leser*in nie das Gefühl bekommt, erschlagen zu werden – auch wenn die Route hier und da etwas eigenwillig anmuten mag. Mindestens bekommt man, auch dank des sehr detaillierten Indexes, ein ebenso brauchbares wie umfangreiches Nachschlagewerk für einen maßgeblichen Teil des Mord-/Mystery-Storytellings der vergangenen 140 Jahre. Wenn es einem gelingt, die einzelnen Kapitel und Analysen vom Korsett der theoretischen Rahmung zu befreien, dann lassen sich durchaus einige überraschende Entdeckungen machen – und seien es die dutzenden Anregungen zum Weiterlesen und Weitersehen. Allein schon für die Vermittlung dieser Begeisterung werde ich David Bordwell vermissen.
[1] Marc Vernets Text nutzt Bordwells 2017 erschienenes Reinventing Hollywood: How 1940s Filmmakers Changed Movie Storytelling als Prisma, um Bordwells Erkenntnisinteressen, Forschungsprinzipien, Fragestellungen und Methoden auszuleuchten (vgl. Vernet 2024: 35). In gewisser Hinsicht lässt sich Perplexing Plots als Fortsetzung der Studie mit dem Hollywoodkino der 40er lesen, das äußerst effektvoll mit Perspektivwechseln und Zeitsprüngen (s. z.B. Citizen Kane) arbeitet.
[2] Der erste befasst sich mit der Hybridisierung der drei dominanten Spielarten in den 1940ern, während der zweite sich ausschließlich mit radikal-subjektiven Erzählweisen in Film und Literatur beschäftigt (vgl. S. 235-282).
[3] Im Verlagswesen werden Buchausgaben, die neben Kommentaren mehrerer Autor*innen alle erhaltenen Varianten eines Texten enthalten, als Variorum-Ausgaben bezeichnet.
[4] Bordwell bezeichnet diese und andere Autor*innen, die man gemeinhin als hochmodernistisch bezeichnet als "Ultraisten". Man könnte das mit Verweis auf Bordwells filmwissenschaftliche Provenienz entschuldigen, dass ein literaturhistorischer Begriff und Selbstbezeichnung einer vom Dadaismus und Surrealismus inspirierten Gruppe spanischer Literat*innen, die im frühen 20. Jahrhundert stark mit bildsprachlichen Elementen arbeitet, achtlos auf einen anderen Kontext übertragen wird. Vicente Huidobro und Rafael Cansinos Assens haben 1919 das erste ultraistische Manifest veröffentlicht (zur Übersicht über die spanischen Ultraist*innen vgl. Vanderbosch 2017).
Literatur:
Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London, New York: Routledge 1985.
Elsaesser, Thomas: „The Mind-Game Film“. In: W. Buckland (Ed.), Puzzle Films: Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Chichester: Wiley-Blackwell 2009, S. 13-41.
Glinka, Moritz (2022): „Mindgame-Movies“. In: Lexikon der Filmbegriffe. https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/m:mindgamemovies-8240 (16.10.2025).
Vanderbosch, Dagmar (2017): "Ultraísmo". In: Routledge Encyclopedia of Modernism. https://www.rem.routledge.com/articles/ultraismo (10.11.2025).
Vernet, Marc: „Die Methode Bordwell“. In: montage AV 33/2, 2024, S. 34-40.
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