Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen.
München: Wilhelm Fink Verlag 2010. ISBN 978-3-7705-4987-0. 321 S. Preis: € 29,90.
Abstract
"Als Automatismen bezeichnet man Abläufe, die sich einer bewussten Kontrolle weitgehend entziehen. […] Automatismen bringen – quasi im Rücken der Beteiligten – neue Strukturen hervor [...]" (S.9).
Der von Hannelore Bublitz, Roman Marek, Christina L. Steinmann und Hartmut Winkler herausgegebene Sammelband Automatismen geht auf eine Ringvorlesung zurück, die am Graduiertenkolleg 'Automatismen – Strukturentstehung jenseits geplanter Prozesse' 2008/09 an der Universität Paderborn abgehalten wurde. Grundanliegen war es, den Begriff der 'Automatismen' transdisziplinär, von verschiedenen Perspektiven aus zu diskutieren, mit dem Ziel, "Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Gegenstandsfeld, in der Herangehensweise, im methodische Instrumentarium und in der Terminologie zu entdecken" (S. 9). Bereits im Laufe der Einleitung wird klar, dass der Sammelband auf etwa 300 Seiten eine Reihe höchst unterschiedlicher Beiträge versammelt, deren wesentlicher Berührungspunkt in der gemeinsamen Annahme gründet, dass "sich mit dem Blick auf die 'Automatismen' im Feld der Kultur und Technik tatsächlich Neues erschließt" (ebda.). Zusätzlich scheint mit der auf dem Einband abgebildeten Linienstruktur ein weiterer Bezugspunkt gefunden, auf den einige der im Band versammelten Beiträge rekurrieren.
Das Mysterium um die verzweigte Linienstruktur klärt sich alsbald auf: Es handelt sich um die Trampelpfade einer durch den Schnee watenden Schafherde. Als Metapher der Spur und Bahnung funktioniert diese Aufnahme von oben als Versinnbildlichung vieler der im Sammelband angeregten Überlegungen. So treten Automatismen vor allem dort zu Tage, "wo verschiedene Akteure ohne zentrale Lenkung voneinander unabhängig handeln" (S. 10), und bestehen als Abläufe, "die sich einer bewussten Kontrolle weitgehend entziehen" (S. 9). Im Falle der Schafe – vorausgesetzt es handelt sich um eine wilde, unbehütete Herde – scheint ein solch zentraler Steuerungsmechanismus nicht gegeben. Ferner lässt die Spezifik der im Schnee eingeschriebenen Struktur vermuten, dass "es bei den Schafen zu einer gewissen Selbstkalibrierung und Selbstadjustierung gekommen ist" (S. 103). Den Herausgeberinnen zufolge setzen Automatismen ein 'Selbst' stets voraus und beruhen auf körperlichen und psychischen Abläufen, die das Spektrum rein technischer Funktionsabläufe überschreiten. Andererseits wird die Frage erhoben, ob denn nicht auch Technologien so etwas wie ein 'Selbst', ein Wesen 'für sich' haben können (vgl. S. 12).
Bei der Leserin hinterlassen solche auf einer dialektischen Logik gründenden Passagen mitunter einen etwas zwiespältigen Eindruck. Es ist nicht ganz einsichtig, ob die AutorInnen letztlich danach streben, mit dem Nachdenken über Automatismen an subjektkritische Denktraditionen anzuknüpfen, oder ob hier im Zuge einer verstärkten Betonung zyklisch-repetitiver Konstitutionsprozesse nicht doch auch bewusste Abgrenzungsarbeit geleistet wird. Die entschiedene Differenzierungsunwilligkeit zwischen menschlichen und technisch-apparativen Aktanten französischer Ameisennetzwerke und Dispositivkonfigurationen scheinen die in den Sammelband eingearbeiteten theoretischen Überlegungen zumindest streckenweise nicht zu teilen.
Als besser anschließbar erweist sich hingegen der Gedanke, dass individuelle Strukturen als Ergebnis einer Vielzahl kumulativer Prozesse verstanden werden können. Verschiedene Einzelpfade ergänzen sich additiv, treten in ein Resonanzverhältnis und vollziehen sich anhand periodisch wiederkehrender Rückkoppelungsschleifen, die letztlich zu einem originären Muster zusammenwachsen. Allerdings, so der Hinweis, handelt es sich bei dieser quantitativen Agglomeration um eine Performanz, deren Ergebnis "nicht vorhersehbar oder aus den Umständen erklärbar ist" (S. 103), denn es hätte "so […], aber auch ganz anders sein können" (S. 105), die Dynamik ist also kontingent. Insofern lässt sich von einem emergenten Prozess sprechen, der potentiell Unerwartetes und Neues hervorzubringen vermag. Schließlich lässt sich anhand der Spuren im Schnee auch eine gewisse Neigung zur Wiederholung erkennen, berücksichtigt man, dass einige Routen weitaus stärker frequentiert wurden als andere. Damit einher geht der Gedanke, dass quantitative Iterationen zur allmählichen Ausformung bestimmter Routinen und dauerhafter Gewohnheiten führen, die sowohl für die einzelne Entität (das Schaf) als auch das Kollektivsubjekt (die Herde) qualitative Veränderungen mit sich bringen. Dabei gilt es, im Verkehr selbst (der Schafwanderung) das eigentliche Agens dieser Infrastrukturschaffung zu erkennen (vgl. S. 14, S. 41ff.).
Das Bild der durch den Schnee trabenden Schafkolonne ist lediglich 'ein' Beispiel für jene Fülle von Ansätzen und Denkschemata, anhand derer die Thematik der Automatismen im Buch diskutiert wird. Neben der das Forschungsinteresse begründenden und um einen gemeinsamen theoretischen Unterbau bemühten Einleitung sind es insgesamt 17, in drei Blöcke aufgeteilte Thesen, deren Anliegen es ist, "einige Dimensionen des Konzepts der Automatismen" (S. 17) auszuloten. Die Reichweite dieser Thesen schränken die Autoren dabei von vornherein ein, indem sie konstatieren, dass es zwar im Grunde darum ginge, gewisse Eigenschaften von Automatismen festzulegen, Automatismen sich in ihrer Funktion jedoch stets als kontextsensibel erweisen, demnach in verschiedenen Feldern und Anwendungsgebieten unterschiedliche Aufgaben erfüllen. In Anbetracht der transdisziplinären Ausrichtung des Sammelbandes bedeutet dies, sich von der Hoffnung auf eine einheitliche Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes bereits frühzeitig verabschieden zu müssen. Was den Thesen in der Folge auf jeweils drei bis sechs Seiten hingegen tatsächlich gelingt, ist das Auffächern eines breiten Fragenbouquets und die Bereitstellung einer Vielzahl konzeptioneller Entwürfe, die sich durchaus als probates Mittel erweisen, dem Problem der Automatismen intellektuell näherzurücken.
So erfährt die Leserin bereits früh, dass Automatismen als Prozesse zu verstehen sind (S. 21), eine Geschichte haben (S. 18), jedoch erst einmal etabliert dazu neigen, die zuvor erbrachte Konstruktionsleistung zu verbergen (S. 23). Im Anschluss an Peter Sloterdijk's Du musst dein Leben ändern[1] begreift Hannelore Bublitz Automatismen als das Bewusstsein entlastende Könnensdisposition (S. 23ff), Oliver Leistert fragt danach, von welchem Ort aus Automatismen überhaupt zu beobachten sein könnten (S. 99ff), Roman Marek interessiert sich für den Unterschied zwischen automatischen Prozessen und Automatismen (S. 107ff) und Tobias Conradi verfolgt – mit Bezugnahme auf Foucault – den Ansatz, dass Automatismen innerhalb von Diskursen als Fortschreibung und Transformation von Wissen wirken (S. 231ff). Schade ist, dass es die Thesen trotz frappanter inhaltlicher und argumentativer Parallelen weitestgehend verabsäumen, aufeinander Bezug zu nehmen. Zwar berufen sich einige AutorInnenauf das Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs[2] (siehe etwa S. 105, S. 120, S. 231), Querverweise der Thesen untereinander bleiben jedoch die absolute Ausnahme (vgl. S. 107). Zudem wirkt die Reihung der einzelnen Thesen nicht immer ganz glücklich gewählt. Warum etwa Hartmut Winklers für den Band so zentrales Argument, dass Automatismen einen engen Bezug zur Wiederholung, zur Gewohnheit und zur Schemabildung aufweisen, erst als dreizehnte These auf Seite 234 aufgelistet wird, scheint schwer nachvollziehbar, zumal zuvor bereits Thesen angeführt werden, die sich teilweise mit weit weniger grundsätzlichen Merkmalen von Automatismen auseinander setzen.
Die zweite Säule des Sammelbandes bilden elf, stärker auf empirische Untersuchungen fokussierte Beiträge, die in drei Themenschwerpunkte gegliedert wurden:
Der erste Schwerpunkt "Kollektive Automatismen, Kumulation, Unerwartete Effekte" umfasst vier solche Beiträge. Zunächst setzt sich Hartmut Winkler bezugnehmend auf Sybilles Krämers Text Was also ist eine Spur?[3] mit dem Bild der Spur auseinander und gelangt über Friedrich Engels zu der Frage, wie sich die Identität von Aktanten und Netzknoten alternativ, als Effekt der Musterbildung selbst denken ließe (vgl. S. 39ff.). Danach stellt der Verkehrsforscher Anders Frederik Johansson eine computergestützte Software zur Simulation von Fußgängerströmen vor, konzentriert sich dabei auf Entstehung von Massenpaniken und demonstriert anhand des praktischen Beispiels der saudi-arabischen Jamarat-Brücke, wie solchen Ausnahmesituationen durch technische Maßnahmen begegnet werden kann (vgl. S. 61ff.). Ebenfalls auf empirischer Basis, für Nicht-Informatiker allerdings eher schwer nachvollziehbar, untersucht Informatikprofessor Holger Karl unterschiedliche Verkehrsstatistiken im Telefonnetz und im Internet und gelangt zu der Annahme, dass die differierenden Ausformungen zwar mittels technischer Parameter beschreibbar sind, die Gründe für die Abweichungen jedoch jenseits der Technik, in bestimmten Nutzungsmustern und Kommunikationsformen begründet liegen (vgl. S. 71ff.). Zuletzt beschreibt Tilmann Sutter die Emergenz sozialer Systeme anhand des Problems der doppelten Kontingenz und empfiehlt in Hinblick auf Automatismen und neue Medien, die analytischen Vorannahmen auf ein Minimum zu beschränken (vgl. S.79ff.).
Im zweiten Abschnitt "Wiederholung, Strukturbildung" behandelt Mladen Dolar Automatismen der Wiederholung aus psychoanalytischer und philosophischer Sicht und rekurriert dabei auf Aristoteles, Kierkegaard und Lacan (vgl. S. 129ff.). Anschließend ergründet Hannelore Bublitz die strukturbildende Kraft von Automatismen aus soziologischer Perspektive, zieht Parallelen zwischen Gebäudearchitektur und dem Gefüge moderner Gesellschaften, verankert das Substrat soziologischer Tatbestände in überindividuellen Prozessen und Praktiken und arbeitet mit dem Diskurs- und Dispositivbegriff, um diese Dynamik heterogener Produktions- und Konstitutionsbedingungen gewinnbringend erschließen zu können (vgl. S. 173ff.). Ulrike Bergermann erläutert dann anhand einer Tanzszene aus dem Film Napoleon Dynamite[4] Nachahmung und ihre strukturbildende Kraft und formuliert dabei die These, dass sich die Konstitution des Selbst nicht entlang perfekter Imitation vollzieht, sondern vielmehr durch Abweichungen, misslungene Wiederholungen und produktives Scheitern geprägt ist: "Wenn es ein Modell gäbe, das die Produktivität von Automatismen mit der von offenen Möglichkeitshorizonten kombinieren könnte, wäre das sicher das Modell der Wahl für Roboter, Menschen, Tänzer und alle anderen" (S. 201). Im letzten Beitrag des zweiten Abschnitts wendet sich Reinhard Keil dem Konzept der 'Mediarena' als Schauplatz koaktiver Wissensarbeit zu. Sein Ansatz betont die mögliche Einbettung menschlichen Denkens in eine körperlich vermittelte Umwelt und beinhaltet den Aufruf, Technik und Selbstorganisation nicht als Gegensätze zu begreifen, sondern als wechselseitig bedingte Perspektiven. Seine forschungsleitende Hypothese lautet, dass "über den Abbau von Regulationshindernissen, durch die Reduzierung von Medienbrüchen der Aufbau von Automatismen erleichtert" werden könne (S. 226).
Im dritten Teil "Tausch, Zirkulation, Unsichtbare Hand" setzt Gisela Ecker sich mit ungeschriebenen Regeln, der Praxis des Gabentauschs und den darin eingeschriebenen Tabus auseinander. So zeigt sie, dass ein für beide Seiten zufriedenstellender Gabentransfer nur dann möglich ist, wenn die in der Prozedur eingeschriebenen Regeln, etwa der Zwang zur Gegengabe, nicht offen thematisiert werden und der den Tauschakt begleitende Automatismus unergründet bleibt (vgl. S. 257ff.). Bernd Blaschke erörtert dann Henri Bergsons Lachtheorie anhand der Eingangsszenen aus Charlie Chaplins Film Modern Times[5] und interessiert sich in der Folge insbesondere für den Zusammenhang von Komödie, Ökonomie und unsichtbarer Hand. Durch welche Handlungen und Eingriffe wird das für die Komödie typische versöhnliche Ende eigentlich hergestellt? Welche Automatismen bewirken letztlich das finale Happy End (vgl. S. 271ff.)? Zu guter Letzt erkunden Ludwig Jäger, Mathhias Jarke, Ralf Klamm und Marc Spaniol Transkriptivität als informatisches Designprinzip und fundieren ihre Überlegungen empirisch anhand der eigens entwickelten ATLAS-Umgebung (vgl. S. 299ff.).
Alles in allem funktionieren die einzelnen Artikel als in sich gelungene, mitunter recht spezialisierte empirische Ergänzungen der im Zuge der Thesenbildung formulierten theoretischen Überlegungen, auch wenn direkte Verweise wiederum äußerst spärlich gesät sind. So wird es weitestgehend der Leserin überlassen, die theoretischen Konzeptionen mit den empirischen Darlegungen in Bezug zu setzen.
Abschließend sei erwähnt, dass der Sammelband Automatismen der Rezipientin zwar ein anspruchsvolles und intellektuell höchst stimulierendes Leseerlebnis bietet, der mosaikartige Charakter, die zu kurze Einführung, die dürftige Vernetzung der einzelnen Beiträge untereinander und das Fehlen abrundender Schlussbemerkungen jedoch dazu führen, dass sich nicht so recht das Gefühl einstellen will, die Thematik ausreichend profund erörtert zu haben – zu viele Fragezeichen bleiben bestehen, zu wenig konsequent arbeitet der Band am anfänglich postulierten Ziel, "Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Gegenstandsfeld, in der Herangehensweise, im methodischen Instrumentarium und in der Terminologie zu entdecken" (S. 9).
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[1] Sloterdijk, Peter, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
[2] Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs Automatismen, online unter: http://www.uni-paderborn.de/instituteeinrichtungen/gk-automatismen/forschungsprogramm/.
[3] Krämer, Sybille, "Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme", in: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 11-33.
[4] Napoleon Dynamite, USA 2009, Regie: Jared Hess.
[5] Modern Times, USA 1936, Regie: Charlie Chaplin.
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