Rolf Schwendter: Lesetheater.
Wien, St. Peter am Wimberg: Edition die Donau hinunter 2002. 157 S. ISBN 3-901233-20-2. Preis: € 22,60/sfr 32,--.
Abstract
Rolf Schwendter, Liedermacher und Autor, Professor für Devianzforschung an der Gesamthochschule in Kassel, Mitbegründer und Funktionsträger vieler kultureller und sozialpolitischer informeller Gruppen und Initiativen, beschäftigt sich in dem vorliegenden Buch mit einer seiner zahlreichen Aktivitäten: dem Lesetheater (genauer: Erstes Wiener Lesetheater und Zweites Stegreiftheater). Für Schwendter, der die gesellschaftliche Devianz, also abweichendes Normverhalten, definiert, analysiert und dokumentiert (u.a. Theorie der Subkultur, 1971), ist die Aktivität für sein Lesetheater auch ein Teil der Erforschung sozialer Strukturen, zugleich aber auch aktiv-teilnehmendes, lustvoll-künstlerisches Agieren und bisweilen auch Agitieren. Nicht mit lautem Widerstand, Hohn und Aggressivität kämpft Schwendter gegen verlogene Gesellschaftsstrukturen und -inhalte. Seine Auftritte sind geprägt von Ideenreichtum, konzentrierter Beherrschung psychisch-physischer Verfaßtheit, Präsens und Sensibilität aller Sinne und vor allem auch gekennzeichnet durch kollektive kommunikative Begegnungen, die schon im Ausschreiben und Verteilen der einzelnen Rollen eine erstaunlich intuitive Einbeziehung von Persönlichkeitsbildern erkennen lassen.
Anlaß für die Entstehung des nunmehr vorliegenden Buches war der 10. Jahrestag der Gründung des Ersten Wiener Lesetheaters und Zweiten Stegreiftheaters im September 1990. Ursprünglich als Jubiläums-Broschüre geplant, die das Lesetheater, das sich zu einer eigenständigen Form künstlerischen Schaffens zu entwickeln begonnen hatte, und seine Aktivisten dokumentieren sollte, stieß Schwendter bei der Materialsammlung auf eine thematische Leerstelle im Hinblick auf deutschsprachige Publikationen zum Lesetheater. Schwendters Lesetheater, gegründet von Manfred Chobot, Brigitte Gutenbrunner, Evelyn Holloway, Ottwald John, Hansjörg Liebscher, Günther Nenning und Rolf Schwendter, sollte daher auch in einem historischen und theaterrelevanten Rahmen diskutiert, die soziokulturellen Aspekte sollten aufgezeigt und andere, zeitgenössische Lesebühnen im deutschsprachigen Raum einbezogen werden. Das Wesen des Lesetheaters sieht Schwendter darin, daß Personen ein Stück vorschlagen, besetzen, ohne zeitintensive Probenarbeit vorbereiten, um es einander in der Gruppe sowie dem erschienenen Publikum vorzulesen.
Die Entstehungsgeschichte des Lesetheaters setzt Schwendter zeitlich mit der römischen Kaiserzeit an und nennt als Begründer des Lesetheaters Seneca. Schränkt allerdings ein, "daß Lesedrama nicht umstandslos mit Lesetheater gleichzusetzen ist." Senecas Stücke sollten zwar gelesen, aber der Akt des Lesens selbst, das Verteilen der Rollen sollte nicht einbezogen und öffentlich, vor großem Publikum aufgeführt werden. Allein und daheim sollte das betreffende Theaterstück rezipiert werden. Leseaufführungen und auch Lesedramen sind fast zwei Jahrtausende lang nicht dokumentiert. Vor der Erfindung des Buchdrucks waren Lesen und Schreiben ausgesprochen mühselige und zeitaufwendige Angelegenheiten, die nur einem kleinen gebildeten Personenkreis vorbehalten waren. Erst die Einführung der allgemeinen Schulpflicht unter Maria Theresia verringerte die Zahl der analphabetischen Bevölkerung. Lesetheater fand zunächst nur in spezialisierten Teilkulturen statt: in Klöstern und Lateinschule, wobei die Einübung der griechischen und lateinischen Sprache im Vordergrund stand. Seneca, Plautus und Terenz wurden in den Lateinschulen des Spätmittelalters gelesen. Die pädagogische Zweckbestimmung, das Einüben und Kennenlernen guter Sitten, die Schulung der Deklamationstechnik standen dabei im Vordergrund. Der didaktische Impuls hat sich bis heute erhalten, denkt man etwa an das Lesen eines Theaterstücks mit verteilten Rollen im Deutschunterricht der Mittelschulen. Grenzfälle des Lesetheaters ortet Schwendter in den literarischen Salons, insbesondere im 18. und frühen 19. Jahrhundert, sowie in den adeligen und bürgerlichen Liebhabertheatern.
Goethe, Zacharis Werner und Ludwig Tieck lasen für Freunde in einem humanistisch gepflegten Rahmen aus eigenen Stücken vor. Goethe unterschied dabei zwischen einer neutralen Rezitation und einer leidenschaftlichen-rollengemäßen Deklamation. Schlegel hingegen verwarf die Deklamation als gesellige Literaturvermittlung und zog das leidenschaftslose Lesen vor. Tieck und Holtei galten als berühmte lesende Interpreten der eigenen Werke, ihre Virtuosität war in ganz Deutschland bekannt. Eine andere Form des Lesetheaters war in der Hamburger Schauspielakademie üblich. "Gemeinsam lesen" hieß hier, daß eine Person, die nicht mit dem Autor identisch war, das gesamte Stück den anderen (Anwesenden) vorlas. In Hamburg war dies sehr oft der Schauspieler Ekhof, überdies gab es einen Kreis von Kunstenthusiasten (Gelehrte, Juristen, Kaufleute, Schauspieler), die Shakespeares Dramen (in der Übersetzung von Wieland und Eschenburg) auf ihre Aufführbarkeit überprüften. Die Sturm- und Drangdramen wurden zunächst gelesen und "begutachtet". Im Wiener Salon der Karoline Pichler fanden regelmäßig Leseaufführungen statt, die als Schutzraum vor Zensurmaßnahmen und Werkverstümmelungen dienten. Das Lesen mit verteilten Rollen bot überdies die Möglichkeiten kollektiver Textinterpretation.
Ein weiterer Grenzfall von Lesetheater sieht Schwendter in der Programmatik von Dada. Das Prinzip des Cabaret Voltaire in Zürich waren dadaistische Orchestrierungen von Lesungen, Musikstücken, rhythmischen Performances und Tänzen. Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit Simultangedichten auf: ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen und die Ausdrucksstärke der Stimme exerzieren. Marinetti hielt 1908 in Triest futuristische Rezitationsabende ab.
Dramatische Lesungen etwa von Karl Kraus oder der Schauspielerin Gertrud Eysoldt im öffentlichen Rahmen lösten schließlich im 20. Jahrhundert den Salon-Gedanken ab und stellen bis heute publikumswirksame Leseabende mit anlaßgebundener und gemischter Lyrik- und Stückauswahl von Schauspielern dar. Klaus Kinsky und Oskar Werner erreichten Kultstatus, Michael Heltau und Karl Heinz Hackl rufen zumindest Applausstürme hervor.
Als legendäre Leseaufführung gilt Picassos surrealistisches Stück Wie man die Wünsche beim Schwanz packt in der Pariser Wohnung des Schriftstellers und Ethnographen Michel Leiris im März 1944. Albert Camus las die Zwischentexte, stellte die Rollen vor, beschrieb das Bühnenbild. Simone de Beauvoir beschreibt die Atmosphäre dieser Lesung als Mittelding zwischen Stegreiftheater und Art-Session.
Schwendter unternimmt den mühevollen, bisweilen verschlungenen, durchaus aber verdienstvollen Weg, der 2500jährigen (europäischen) Theatergeschichte Details zum Lesedrama/theater abzutrotzen. Die letzten Kapitel des Buches sind internationalen Lesetheater-Unternehmungen gewidmet. So wird die Hamburger Lesebühne (1950-1953) dokumentiert. Rolf Italiaander überzeugte mit seiner Idee, für die zurückgesetzten westdeutschen Theaterautoren mit staatlicher Unterstützung etwas zu tun. Ida Ehre stellte die Hamburger Kammerspiele zur Verfügung, um nicht gespielte Autoren vorzustellen.
Subkulturelle Aktivitäten setzte die Wiener Informelle Gruppe um Friedl Schindler, Heinz Zwerina, Gerhard Zehetgruber und Rolf Schwendter in den Jahren zwischen 1959 und 1967. In außergewöhnlichen Veranstaltungsorten, etwa Burgruinen, im Kobenzel-Bunker, in Lagerräumen, Kohlenkellern und Privatwohnungen, versammelten sich lesefreudige Aktivisten, um vor allem Büchner, Brecht, Sartre, Ionesco zu lesen, die obligatorische Sammelbüchse schepperte am Ende der Vorstellung. Im Kasseler Lesetheater im offenen Wohnzimmer, 1981 von Rolf Schwendter gegründet, gibt es im Gegensatz zum Wiener Lesetheater keine Subventionen und Honorare; so kann es durchaus vorkommen, daß der als Publikum gekommene Besucher unversehens einen Text in der Hand hält und Lesender geworden ist. Eine nicht zu übersehende Rolle spielt die Existenz der Gesamthochschule Kassel, die Hochschullehrenden und Studierenden stellen einen Großteil der Mitwirkenden und Verantwortlichen am Lesetheater dar (insbesondere das Umfeld des wissenschaftlichen Zentrums für Psychoanalyse, ebenso der Fachbereich Sozialwesen). Das Bremer-Lesetheater beginnt 1992 seine Aktivitäten unter Johannes Feest, das im Jänner 2001 eine Gedenklesung für H. C. Artmann veranstaltet. Das Hamburger Lesetheater existiert seit 1999 unter seinem Initiator Thomas Rau. Über einige andere deutschsprachige Lesetheater hinaus hat Schwendter ähnliche Aktivitäten u.a. in Los Angeles recherchiert. Auch zahlreiche Wettbewerbe, etwa das Oxforder Fest der gesprochenen Dichtung und die jährlich in Connecticut stattfindende National Playwriter's Conference finden Erwähnung. Das "Rehearsed theatre", wie die Leseaufführungen bei dieser Konferenz genannt werden, findet auf vier Bühnen statt. Jährlich gibt es ungefähr 1000 Einsendungen, zwölf bis sechzehn Stücke werden ausgewählt und von Off-Broadway-SchauspielerInnen gelesen.
Lesemarathons beim Open Ohr Festival in Mainz 2000, die szenischen Lese-Aufführungen bei den Rauriser Kulturtagen, die Reihe "Dichter zu Gast" bei den Salzburger Festspielen und die Wagner-Leseaufführungen, u.a. von der Gesellschaft für Musiktheater veranstaltet, zeigen, daß diese zunächst so exotisch anmutende Gattung durchaus kein Schattendasein führt. Eine weitere Sparte, die in den letzten Jahren hinzukam, ist die der Drehbuchlesungen. Unveröffentlichte Drehbücher werden mit verteilten Rollen vor Publikum gelesen. So fand im Februar 2002 eine Drehbuchlesung im ausverkauften Filmcasino Wien statt, die auch im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Auch das Medium Internet beschäftigt sich mit dem Lesetheater. Im Zuge des Festivals Crosswaves im Frühling 1996 wurde an der Universität in Pennsylvania das Chat-Theater organisiert. 13 Akteure in zehn verschiedenen Städten in den USA und Kanada wirkten live und online an diesem Projekt mit, sie erhielten ein Manuskript mit festgelegten Sätzen und Raum zur Interpretation.
Die letzten Kapitel widmet Schwendter wieder der Programmatik und den Weggefährten seines Ersten Wiener Lesetheaters und Zweiten Stegreiftheaters (zweites deshalb, weil Schwendter als Initiator des Ersten Stegreiftheaters Jakob Levy Moreno sieht). Kam zunächst die Leseaktivität im Hinblick auf die Zahl der Aktivisten und der Leseaufführungen nur stockend voran, ist die Beteiligung und die Zahl der Aufführungen in den letzten Jahren rasant angestiegen. Mittlerweile verfügt Schwendter über einen Pool von über 400 Aktivisten, die jederzeit einen Abend eigenverantwortlich gestalten können. Das leitende Dreiergremium kann wohl ein Veto einlegen, von diesem Recht wurde aber bisher noch nie Gebrauch gemacht. Schwendters seit 1990 genau geführte Statistiken informieren über die aufgeführten Stücke, über Mitwirkende und Verantwortliche und über die Schauplätze der Aufführungen.
Schwendters detailreiches Buch beschreibt Geschichte und Gegenwart des Lesetheaters, vermittelt Einblick in seine jahrzehntelange Erfahrung mit diesem Genre. Überdies erweist sich Schwendter diskursbereit für theaterwissenschaftliche Fragestellungen.
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