"Alohomora!" Ergebnisse des ersten Wiener Harry-Potter-Symposions.
Hg. v. Heidi Lexe. Wien: Edition Praesens Verlag für Literatur- und Sprachwissenschaft 2002 (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. 2). 126 S. ISBN 3-7069-0141-2. Preis: € 24,--.
Abstract
Der Band faßt die Vorträge der Veranstaltung Harry-Potter-Symposion. Literarische, psychologische und theologische Aspekte eines Phänomens zusammen, die am 9./10. November 2001 in Wien stattgefunden hat.
Die irische Germanistin und Anglistin Emer O´Sullivan beschreibt in ihrem Beitrag jene Literaturtradition, in deren Kontext Harry Potter angesiedelt ist. "In ihrem Harry Potter-Zyklus verbindet Joanne Rowling auf originelle Weise Gattungen, die in der britischen Literatur auf eine lange Tradition zurückblicken können: in erster Linie die Phantastik und die Internatsgeschichte oder school story, wenngleich auch Spuren des Krimis und der gothic novel, des Schauerromans, in ihrem Gattungsmix aufzufinden sind." (S. 18) O´Sullivan skizziert dann die Entwicklung der Internatsgeschichte von ihren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu der späten, "in den 1970er Jahren für das Fernsehen konzipierte und realisierte Serie Grange Hill, in deren Folge eine Reihe von Büchern als tie-ins erschienen". (S. 19) "Eine vom Standpunkt der Literaturwissenschaft interessantesten Leistungen Rowlings ist es, dass es ihr gelingt, diese halbtote und ins Klischeehafte abgesunkene Gattung durch die phantastische Verfremdung wiederzubeleben und zu einem neuen Höhepunkt zu führen." (S. 20) Die Methoden, mit denen Rowling diese Wiederbelebung gelingt, führt O´Sullivan an mehreren Beispielen vor. "Rowling nimmt all diese Versatzstücke und traditionellen Rituale des britischen Internats und verwandelt Vertrautes durch den phantastischen Kontext in etwas Verfremdetes, es findet eine Defamiliarisierung der traditionellen Schulgeschichte, eine Entautomatisierung des Gewohnten statt, das nun aus einer neuen, aus einer komischen Perspektive betrachtet wird: Traditionen und Riten erscheinen in einem neuen Licht." (S. 20)
Eine detaillierte Nachschrift des interessanten und umfangreichen Beitrags würde die Möglichkeiten dieser Rezension überfordern; auf den Beginn möchte ich - auch in Hinblick auf den nachfolgenden Text - noch eingehen. In Roald Dahls Roman James und der Riesenpfirsich heißt die Hauptfigur James Henry Trotter, nach dem Tod der Eltern, Trotter ist sechs, wird er von Tanten erzogen, die "einfach gräßliche Wesen [sind] selbstsüchtig und faul und grausam", (S. 16). Von Nancy Stouffer erschien 1986 The Legend of Rah and the Muggles, die Hauptfigur heißt Larry Potter. Stouffer hat Rowling geklagt, ihr Plagiatsvorwurf wurde allerdings vor kurzem zurückgewiesen. O´Sullivan weist darauf hin, daß Literatur immer in einem sprachlich vorgeprägten Raum geschieht. Ob die Ähnlichkeiten zwischen James Henry Trotter, Larry und Harry Potter, zwischen Muggle und Muggel Absicht oder Zufall, Plagiat oder Hommage, Diebstahl oder Anverwandlung sind, ist für die Literatur bedeutungslos, in der Schreiben immer auch Abschreiben heißt (und sei es unfreiwillig und unbeabsichtigt). Ein großes Beispiel für einen Jugendroman, dessen Wirkung die erwartbaren Grenzen weit überschritten hat, Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel, enthält eine Vielzahl von Übernahmen und Anleihen. Stevenson selbst hat in einem später geschriebenen Text darauf hingewiesen, wie viele Elemente seiner Erzählung sich in früher geschriebenen Geschichten anderer Autoren, etwa Washington Irving, finden. Er hat die unwissentlichen Nacherfindungen freimütig als Diebstahl bezeichnet. "Billy Bones, seine Kiste, die Gesellschaft in der Gaststube [...] und reichlich was von den sachlichen Einzelheiten meiner ersten Kapitel - das alles war schon da, das alles war Eigentum von Washington Irving. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer davon, als ich damals schreibend am Feuer hockte." Es handelt sich hier um nichts Geringeres als jene Kiste, in der sich die Karte der Schatzinsel findet, die Grundlage für Buch und Geschichte.
Zum Glück konnte Washington Irving keinen Vertrag mit Warner Bros. haben. Die Schatzinsel und ihr Autor wären wohl umgehend geklagt worden; so ruiniert man Leute. Claus Philipp, Kulturredakteur der österreichischen Tageszeitung Der Standard, thematisiert u.a. diese ruinöse Vereinnahmung (Überwältigung) von Literatur unter dem Zeichen TrademarkTM. Es ist gefährlich geworden, an der von Warner verwalteten Galaxie Potter anzustreifen. Philipp erwähnt eine 15-jährige Britin, die als großer Potterfan eine Website unterhält: Gerüchte, Informationen, Mutmaßungen über mögliche Fortsetzungen; dann erhält sie von der Time Warner Rechtsabteilung einen Brief mit der Nachfrage über Ziele und Zwecke und (am wichtigsten) den finanziellen Status der Website. Es könnte ja irgendein Cent verdient werden. "Claire war übrigens nur eine von vielen, die sanft aber bestimmt gewarnt wurden, im Potter-Terrain nicht zu wildern." (S. 42) James Henry Trotter, Larry und Harry Potter, Muggle und Muggel - war da was? Wäre ein Harry Trotter möglich, Kombination der beiden anderen, ähnlichen Namen? Dürfte in einem Roman oder Film jemand den Namen Muggler führen, gibt es doch das englische "muggins" (Tölpel), als "mug" (Fresse, Fratze; "muggy": dumpf, muffig) vermutlich die Wurzel für Muggel und Muggle? Auch Hogwarts etwa läßt sich auf Alltagswörter zurückführen. Durch diese Vereisung literarischer Traditionen (Zitat, Anspielung, Übernahme, Anverwandlung, Anleihe - bis zum unbewußten Diebstahl: siehe Stevenson) werden die Romane zu Endstellen, Sackgassen und Geldmaschinen.
Neben dem Merchandising-Aufwand kritisiert Claus Philipp die Machart des Films (zum Zeitpunkt seines Referats war der erste gerade eben herausgekommen). "Wir sehen die Narbe auf der Stirn dieses Kindes. Die Vorfreude, die man als Harry Potter-Leser (oder Vorleser) empfinden mag, droht in Rührung umzukippen - und dann ereignet sich leider das Unsägliche: Per Digitaltrick verwandelt sich die Narbe in das Markenlogo und die angestrebte Magie in Mummenschanz, und daran wird sich in den folgenden 150 Minuten kaum jemals etwas ändern." (S. 49) "Und besonders redundant wird diese Strategie der Produzenten, wenn sie sich damit begnügt, Highlights aus dem Buch anzureißen und nicht fertig zu erzählen. [...] Alle Darsteller, und seien sie auch so viel versprechend wie Alan Rickman als Professor Snape, verkommen zu Statisten. Zu Visagen in einem überlangen Trailer, der permanent ausruft: Kauft Potter!" (S. 50f.) Tatsächlich wäre es lohnend, die Löcher im Film (heute schon: in den beiden Filmen) zu beschreiben. Der allergrößte Teil des Publikums hat die Bücher schon gelesen, wenn er sich den Film anschaut; jeder abgeschnittene Erzählfaden wird aus der Lektüreerinnerung ergänzt. (Bei Harry Potter und die Kammer des Schreckens saßen einige Kinder neben mir, deren Textkenntnis frappierend war. Den ganzen Film hindurch kommentierten sie, lässig, aber doch, die eingedampften Geschehnisse auf der Leinwand.) Das Buch als Subtext des Films: Der Film läßt seine Attraktionen aufblitzen, als Zuschauer verbindet man diese Reize mit den Buchtext, liest gleichsam die Vorlage als Referenz des Films.
Claus Philipp hielt seinen Vortrag improvisiert. Leider besteht der Buchtext nicht in einer Transkription, sondern aus Zeitungsartikeln zum Thema. Nicht, daß die von Philipp ausgesprochene Kritik leiden würde, aber als Dokumentationsband zu einem Symposion sollte doch der dort gesprochene Text vorliegen.
"Ähnlich den Längen- und Breitengraden, die wir imaginiert über unsere Erde gelegt haben [...], möchte ich mit einigen Koordinaten literarische Bezüge herstellen, die sich in den vier ersten Harry Potter-Romanen ausmachen lassen und das Wesen dieser Texte wesentlich mitbestimmen" (S. 61), schreibt Reinhard Ehgartner am Beginn seines Beitrags.
Er beschreibt sechs Koordinaten: Die erste ist die besondere Erzählperspektive der Romane. Sie sind zwar auktorial erzählt, aber der Leser steht oder geht gleichsam immer knapp hinter Harry Potter; was erzählt wird, wird immer in Bezug auf ihn erzählt. "Die Harry Potter-Romane bieten weder die souveräne Adlerperspektive des auktorialen Erzählers [...], und es ist auch nicht die den Blickwinkel gänzlich einschränkende klassische Ich-Perspektive." (S. 64) Die zweite Koordinate nennt er "Die Unentrinnbarkeit der Gegenwart" (S. 67), die dritte handelt von dem Problem der Autorin, den Lesern immer mehr geben zu müssen: "noch mehr an Action, phantastischen Szenen, Überraschungen und Spannung" (S. 69). Die vierte Koordinate sind die Gegensatzpaare: die Familien Weasley und Dursley, das Trio Hermine, Ron, Harry und im Gegensatz dazu Draco, Grabbe, Goyle, Dumbledore und Voldemort, Snape und Hagrid usw. "Die Natur, das Wetter und die Architektur als Gefühlsträger des Helden" (S. 73) heißt die fünfte Koordinate. "Wer sich eines literarischen Musters bedient, kommt unweigerlich auch in die motivischen, ideologischen und strukturellen Fahrwasser, die dem Muster zu Grunde liegen." (S. 77) In dieser sechsten Koordinate geht es um die prekären Bereiche der Gleichsetzung von Physiognomie und Charakter, um Abstammungslehre und Rassentheorie, ihr "wird in den Romanen heftig und wortreich widersprochen, gleichzeitig muss man aber festhalten, dass Rowling aus der Geschichte heraus diesem Rassengedanken und dieser Abstammungslehre herzlich wenig entgegenzusetzen hat" (S. 78) sowie um Chauvinismus, ausgeführt am Beispiel der Beschreibungen der bulgarischen und französischen Teilnehmer am Trimagischen Turnier des vierten Bands. "Dass sich gegen Ende sowohl Krum als auch Fleur Delacour als soweit ganz passabel erweisen, schwächt das Ganze zwar wieder ein wenig ab. In der Literatur ist das aber ein häufiger und beliebter Trick. Man gestattet sich zuerst, voll vom Leder zu ziehen und schwächt dann gegen Ende wieder ab." (S. 79f.) "Doch selbst für diese Koordinate gilt: Auch wo die Rowling offensichtlich danebenhaut, macht sie das mit großer Präzision." (S. 80) Die Wertschätzung der Kombinationsfähigkeit und Arbeit bis ins Detail eint (fast) alle Beiträger des Buchs.
Kaspar H. Spinner geht "einem Motivzusammenhang [nach], der [...] auf psychologische Tiefenstrukturen verweist und der meines Erachtens ebenfalls ein[en] wesentliche[n] Grund für den Erfolg der Bücher darstellt." (S. 84) Eine der literarischen Quellen, die "high fantasy" (wie etwa Herr der Ringe) sei fast völlig humorlos, schreibt Emer O´Sullivan in ihrem Beitrag; die besondere Leistung Joanne Rowlings sei es, diesen Humor ins Spiel gebracht zu haben. "Zu den die Harry Potter-Bände auszeichnenden Leistungen Rowlings gehört es, dass Ernsthaftes, Bedrohliches und Komisches in den Büchern gleichermaßen gelten, ohne dass die Komik lediglich als Entlastung funktionalisiert und ohne dass das Bedrohliche durch die Komik trivialisiert wird. Die komisch-phantastische Tradition hingegen, wie sie z.B. durch den anfangs zitierten Hexen-Roman von Jill Murphy oder im deutschen Sprachraum beispielsweise durch Ottfried Preußler mit seinen kleinen Wassermännern und Hexen repräsentiert wird, verfügt gewöhnlich über keine existenzielle Dimension [...]." (S. 28) Dieser Dimension wird bei Spinner psychologisch, beim nachfolgenden Beitrag Gottfried Wursts durch Vergleiche mit Märchen und Mythen nachgegangen. Spinner untersucht Essensszenen, Elternlosigkeit als Symbol des Ablösungsprozesses, den Weg zu den Eltern, Kannibalismus und Trauerarbeit; Wurst erwähnt u.a. die sieben Jahre in Hogwarts (eine heilige Zahl), Zauberspiegel (Schneewittchen), das Wiedererstehenlassen eines Helden aus einem Kessel (mythologisches Motiv), Versteinerung (Medusa), Initiation (Hagrid als Begleiter durch die Übergangsphasen Harrys) usw.
Zu den Veranstaltern des Symposions gehörten auch das Kardinal-König-Haus und andere katholische Institutionen. Diesem Umstand verdankt sich der Beitrag "Harry Potter theologisch gelesen" von Gottfried Bachl. "Meine Aufgabe ist es, theologisches Urteil abzuliefern, weil [...] Lehrer, Geistliche und spirituelle Aktivisten das Märchen als eine gefährliche Verdrehung des biblischen Glaubens ansehen und bekämpfen." (S. 109) Für Leser ohne besondere christliche Ambitionen ist der Verdacht, durch die Bücher könnten Magie und Satanismus gefördert werden, einfach obskur. Woher die Unterstellung kommt, gibt der Autor selbst an. Es gebe drei theologische Wertungen der Magie, über die zweite schreibt er: "Magie gilt ausschließlich als eine Äußerung der satanischen Unheimlichkeit, weil sie allein vom Teufel erfunden und verursacht ist. Wer sich damit befasst, liefert sich den teuflischen Mächten aus. (Position der fundamentalen Orthodoxie) Die Angriffe auf die Harry Potter-Geschichten kommen zum größten Teil von dieser Seite." (S. 116) Für Gottfried Bachl sind diese Vorwürfe grundlos.
Leider beläßt er es nicht bei dieser Zurückweisung. Am Beginn und am Ende seines Beitrag improvisiert er eine Typologie der Leser ("den Buchstabierer, die Leseratte, den Bücherwurm, den Geschichtengenießer, den Büchernarren, den Bücherfreund, den Lesemeister", (S. 123)), wobei die Leseratte, durch die Potter-Bücher wieder aufgetaucht, u.a. folgende Eigenschaften hat: "sie ist ein Allesfresser [...] verschlingt mit Genuss die Fäulnis der Abwasserkanäle. [...] Wenn sie sich nicht selbst abschafft, ist sie nicht umzubringen. [...] Sie achtet sehr darauf, dass ihr nichts davon durch den Kopf geht." (S. 109) Die Auslassungsklammern zeigen an, daß da noch mehr wäre, aber es reicht. Bachl schließt mit dem folgenden Satz, der leider auch der letzte des Buchs ist: "Die Genüsse, die man als Leseratte tief unten erbeuten kann, will ich aber auch nicht total verteufelt haben." (S. 123) Diese Gönnerhaftigkeit macht einen Potter-Leser zur Leseratte mit allen erwähnten Eigenschaften. Davon, daß diese Romane weit über die erwartbaren Grenzen bei den Lesern hinausgegangen sind, daß es sich bei ihrer Lektüre wohl nicht um eine Jugendtorheit handelt, die wenige Jahre später vergessen ist, daß dieser Erfolg mit literarischen Qualitäten korrespondiert, findet sich nichts. Verzichtbar.
In Hogwarts ersetzt "Alohomora" den verlorenen oder nicht vorhandenen Schlüssel und öffnet Türen; wir zauberisch Unbegabten können "Alohomora" als Motto für uns entdecken und "Alohomora!" als Hermeneuten, Interpreten oder einfach als neugierige Leser verwenden. Wenn schon nicht zaubern können, dann wenigstens klüger werden und Bücher lesen. Über die Wichtigkeit, Bücher zu lesen, sind wir uns mit Hermine einig.
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