Beckett in Berlin 2000. Internationales Festival und Symposion.
Abstract
Ein Symposionsbericht.
Berlin 1973: Das Werk von Samuel Beckett, Berliner Colloquium. Ihab Hassan meinte damals in seinem Vortrag Joyce, Beckett und die post-moderne Imagination: "Unser Thema ist hochliterarisch, aber wir wollen dabei nicht vergessen, wo wir stehen: in Berlin, wo schöne Bäume ihren Atem leise in die Nacht hauchen und wo das Gesicht der Stadt von einer großen, steinernen Narbe gezeichnet ist." ¹
Berlin 2000: Beckett in Berlin. Internationales Festival und Symposium. 27 Jahre später wird wieder über Beckett gesprochen in Berlin. Die Bäume hauchen noch immer ihren Atem leise in die Nacht, doch die Stadt insgesamt hat sich verändert: Nichts ist mehr zu sehen von der großen steinernen Narbe, sie wurde retuschiert. Und nicht nur das, überall zeugen Baukräne, Gerüste und halbfertige Gebäude vom neuen, geeinten Berlin. Diese Stadt im Umbruch scheint gerade der richtige Ort zu sein für ein Symposium, in dessen Rahmen neue Forschungsergebnisse diskutiert werden: Denn auch hier werden alte Gebäude abgerissen, Denk-Gebäude, um an deren Stelle neue entstehen zu lassen. Manchmal wird nur an ein vorhandenes Gebäude angebaut, manchmal allerdings Neuland erschlossen.
Einige von diesen Denk-Gebäuden der Beckett-Forschung wurden beim Internationalen Symposium Beckett in Berlin vom 20. bis 27. September vorgestellt, und in manchen davon läßt es sich recht gut wohnen. Besonders interessant fand ich Eckart Voigts-Virchows Ausführungen zum Thema Beckett und Populärkultur Face Values, Beckett and Popular Culture, weiters Reinhard Krügers Beitrag Die Zurückführung des Theaters auf die Geste, Samuel Becketts Beitrag zu einer Archäologie des Theaters sowie Martin Midekkes Vergleich von Becketts späten Dramen mit Minimal Art: Towards the End of Logic, Sol LeWitt's Minimal Art and Samuel Beckett's Late Theatre and Drama.
In diesen Vorträgen spiegelt sich die gegenwärtige Tendenz der Beckett-Forschung: Becketts Fernsehspiele, sein Film, vor allem auch die späteren Dramen und die Hörspiele des Autors rücken immer stärker in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Beckett wird jenseits des "Absurden Theaters" diskutiert. Nicht von der in seinen Werken thematisierten Sinnlosigkeit des Daseins wird gesprochen, sondern über das Scheitern, die Leere, das Unausdrückbare, mit dem der Künstler konfrontiert ist. Außerdem interessiert Becketts intensive Auseinandersetzung mit jenen Medien, in denen er gearbeitet hat. So erfährt vor allem die Bedeutung der bildenden Kunst und deren Einflüsse auf das Werk Becketts in der Forschung zunehmende Betonung. Im Februar dieses Jahres hatten James Knowlson und Raymond Federman in ihren Vorträgen, die sie anläßlich der Ausstellung Samuel Beckett/Bruce Naumann in der Kunsthalle Wien hielten, ebenfalls diesen Aspekt hervorgehoben.
Neben den wissenschaftlichen Referaten in der Humboldt-Universität (im ehemaligen Ostteil Berlins) wurden zwei "Round Tables" in der Akademie der Künste im Tiergarten veranstaltet. Internationale Beckett-Experten wie Manfred Pfister, Martin Esslin, Ruby Cohn oder James Knowlson diskutierten unter anderem die Frage einer Einordnung Becketts. Beim Colloquium 1973 definierte Ihab Hassan Beckett als Vertreter der Postmoderne, beim diesjährigen Symposion wurde die Frage offengelassen.
Besonders aufschlußreich waren für mich die Erfahrungen von Schauspielern, die mit dem Autor und Regisseur Beckett zusammengearbeitet hatten. So erzählten Pierre Chabert und Rick Cluchey über die genaue und penible Theaterarbeit Becketts: Er hatte immer sehr exakte Vorstellungen von der Aufführung eines seiner Stücke, legte viel Wert auf die präzise Betonung einzelner Worte und auf das Setzen von Pausen. Gesten mußten ganz genau nach seinen Anweisungen durchgeführt werden.
Rick Cluchey demonstrierte die großartigen Resultate einer Probenarbeit mit Beckett im Rahmen des dem Symposion angeschlossenen Internationalen Theaterfestivals, wo er als Krapp in der Beckett-Inszenierung von Krapp's Last Tape auftrat. Selten gespielte Stücke, wie Spiel und Nicht ich (Regie: Marek Kedzierski), Damals, Ohio Impromptu oder Kommen und Gehen (in einer Inszenierung von Becketts Regieassistenten Walter D. Asmus), wurden ebenso gezeigt wie eine Aufführung des Théâtre du Shaman, Lyon/Théâtre Gérard Philipe de St. Denis in der Regie von Bruno Meyssat (Was Wo, Tritte, Katastrophe, eine dramatisierte Fassung des Gedichts Comment dire) oder Glückliche Tage mit Iva Janzurová in der Regie von Michal Docekal. Zu Recht betont Thomas Irmer in seinem Bericht über das Beckett-Festival, wie sehr die einzelnen Inszenierungen "letztendlich auch durch die jeweiligen Theaterkulturen geprägt" waren. ²
Bei einem der "Round Tables" wurde auch die Frage nach dem Für und Wider von werkgetreuen Inszenierungen diskutiert. Während sich die Teilnehmer für Inszenierungen im Sinne Becketts aussprachen, für Aufführungen, bei denen die Regieanweisungen des Autors genau befolgt werden sollten, wurde aus dem Publikum allerdings die Forderung nach künstlerischer Freiheit für Regisseure und Schauspieler im Umgang mit Becketts Werken laut.
Den Organisatoren des Symposiums ist es zu verdanken, daß nicht nur Theaterstücke von Beckett gezeigt wurden: DeutschlandRadio Berlin sendete vom 3. September bis zum 1. Oktober unter anderem einige Produktionen der Hörspiele Becketts. Obwohl die Hörspiele Becketts nicht so bekannt wie seine Dramen sind, stellen sie dennoch einen wichtigen Teil seines Werks dar. So lassen sich in den späteren Stücken deutliche Spuren der Hörspielarbeit finden: Stimmen, die losgelöst vom Körper erscheinen, eine deutliche Fokussierung auf das Sprechen, wie auch die Annäherung des Wortmaterials an die Musik.
Doch nicht nur auf dem Gebiet der Hörspiele ist noch Platz für "Denk-Gebäude": James Knowlson betonte, wie wichtig eine Veröffentlichung der Tagebücher über Becketts Deutschland-Reise 1936/37 wäre. Beckett besuchte auf dieser Reise viele Museen und Galerien und schrieb in seinen Tagebüchern Überlegungen zur bildenden Kunst nieder. Wie Becketts kunsttheoretische Schriften beweisen, beschäftigte er sich ausführlich mit Malerei. Aus diesen Schriften kann auch Becketts eigene Kunsttheorie abgeleitet werden. Knowlson kritisierte weiters, daß noch immer keine kritische Gesamtausgabe der Werke Becketts existiert. - Es gibt also noch viel zu "bauen".
Die Beiträge des Symposiums Beckett in Berlin 2000 können nächstes Jahr ausführlich nachgelesen werden, sie erscheinen in der Nummer 11 von Samuel Beckett Today/Aujourd'hui, noch rechtzeitig vor Weihnachten 2001, wie die Herausgeber versprechen.
¹ Ihab Hassan, "Joyce, Beckett und die postmoderne Imagination", in: Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium, Hg. Hans Meyer u. Uwe Johnson, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1975, 1-25, 3.
² Thomas Irmer, "Seliger Saint Sam, Beckett-Festival in Berlin", Theater der Zeit, H. 11, November 2000, 71-72, 71.
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.